Читать книгу Fühl, was du fühlst - Sandra Andrea Huber - Страница 4

1 – (Nicht) Die drei Worte

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Ich blättere grübelnd zwischen den Seiten der in Leder gebundenen Speisekarte hin und her und registriere nur am Rande, dass Anne ihre eigene längst beiseitegelegt und die Finger ineinander verschränkt hat. „Weißt du schon, was du bestellst?“

„Mir ist heute nach Pizza Hawaii.“

„Schinken und Ananas? Hm.“ Da ich in der Mittagspause zum letzten Mal etwas gegessen habe und das Popcorn im Kino meinen Appetit nur noch mehr angeregt hat, könnte ich gefühlt die ganze Speisekarte ordern. Experimente erscheinen mir ebenso verlockend wie bekannte Gerichte, was etwas heißen will. Ich kenne das Angebot so gut wie auswendig – Anne und ich essen öfter hier –, habe allerdings erst einen kleinen Teil der Gerichte probiert. Meistens neige ich dazu, mein Leibgericht zu bestellen: Lasagne. Das kann ich überall und zu jeder Zeit essen.

Dass ich es irgendwann satt habe, im wahrsten Sinne des Wortes, kann ich mir nur schwer vorstellen. Insbesondere, wenn meine Mutter die gratinierten Nudelplatten zubereitet hat. In Sachen Pizza und Pasta mag Italien die Nase vor allen anderen Ländern haben, in Punkto Lasagne geht die Krone jedoch an meine Mutter. Das stellt sie nicht nur bei diesem Gericht, sondern auch bei Rouladen unter Beweis. Und bei Kartoffelsuppe. Und Schaschlik. Bei Muttern schmeckt´s eben doch am besten.

„Ich muss dir was erzählen.“

„Nur raus damit“, entgegne ich beiläufig, sehe aber nicht auf, weil ich immer noch nicht weiß, ob ich das Tagesgericht probieren, den gemischten Salat mit Pute und Ei oder doch wieder meinen persönlichen Klassiker bestellen soll. Oder vielleicht doch Pizza Hawaii?

„Ich bin schwanger.“

Eine Sekunde bin ich überzeugt, jemand hätte mir eine Ohrfeige verpasst. Nicht weil meine Wange heiß pocht, sondern weil Annes Worte so unerwartet auf mich nieder-gesaust sind, wie es auch eine Ohrfeige an sich hat. Die Karte, in die ich bis gerade eben vertieft war, sinkt langsam zur Tischplatte, während ich meine beste Freundin anstarre, als sähe ich sie zum ersten Mal.

„Ich bin schwanger!“, wiederholt Anne die drei kurzen, aber gewichtigen Worte, diesmal etwas lauter als zuvor. Ihre Stimme schlägt regelrecht Purzelbäume, so viel Euphorie schwingt darin mit.

War der Raum bis eben erfüllt von geschäftiger Lebendigkeit, ist es mit einem Mal still, so als hätte jemand den Ton abgedreht oder den Lauf der Zeit zum Stillstand bewogen. Die Gespräche der anderen Gäste, das klirrende Geschepper essender Menschen, alle äußeren Geräusche sind mit einem Mal verstummt und aus meiner Wahrnehmung verschwunden. Dafür geht es in meinem Kopf drunter und drüber. Gedanken, Bilder und Fragen schießen vorbei, so irrsinnig schnell, dass ich sie registrieren, aber unmöglich in ihrem Inhalt erfassen oder gar in Erinnerung behalten kann.

Dann, einen Sekundenbruchteil später, ist alles wieder normal und mein Kopf leergefegt, als hätte jemand den Reset-Knopf gedrückt.

Die über Teller kratzenden Gabeln und Messer, die in Tassen umrührenden Löffel und das angeregte Stimmengewirr sind zurück, ebenso schlagartig, wie sie zuvor entschwunden sind. Ich bin mir wieder bewusst, dass wir mitten in einem gut gefüllten Lokal sitzen, vor uns rote Stoffservierten mit Silberbesteck liegen und eine Kerze in der Mitte des Tisches brennt, die die Bedienung entzündet hat, als sie unsere Getränkebestellung entgegengenommen hat.

Anne sieht mich nach wie vor an, erwartungsvoll und strahlend, wie eine Miniaturausgabe der Sonne. Ihr kupferfarbenes, dickes Haar ist zu einem seitlichen Zopf geflochten, der auf ihrem Schlüsselbein ruht, die hellbraunen Augen leuchten und die überaus zahlreich gestreuten Sommersprossen auf der hellen Haut verleihen ihr einen neckischen Touch, der, zusammen mit den Haaren, an eine Elfe oder aber an einen Verwandten der Weasleys erinnert.

Ich bin kein krasses Gegenbild, bilde mit meinem dunkel-blonden Haar, dem goldigen Teint und den grün-braunen Augen aber auf jeden Fall einen Kontrast zu meiner Freundin. Während ich mehr zu casual und unifarbener Kleidung neige, greift Anne mehr zu verspielt und romantisch. Ich trage die Haare gelegentlich offen, Anne so gut wie immer hochgesteckt oder geflochten. Sie hat überaus volle Lippen, ich hingegen normale.

Manchmal beneide ich sie deswegen. Ein Kussmund gilt gemeinhin als ausgesprochen weibliches Attribut. Man denke nur an Scarlett Johansson oder Megan Fox – welcher Mann würde diese Lippen nicht gerne küssen?

Andererseits bin ich froh den Mund zu haben, den ich habe. Ich kann mir vorstellen, dass mir eine derartige Aufmerksamkeit auf Dauer zu viel oder gar unangenehm wäre. Auch wenn volle Lippen in der Tat anziehend und schön anzusehen sind, von weiblicher ebenso wie von männlicher Seite.

Warum ich gerade jetzt über unsere äußerlichen Unterschiede nachdenke, weiß ich nicht, noch kann ich sagen, wie viel Zeit inzwischen vergangen ist, aber schließlich kommt Bewegung in mich. „Das ist ja großartig!“ Ich beuge mich seitlich an der Kerze vorbei und drücke Anne einmal fest, ehe ich abermals meine Begeisterung bekunde. „Herzlichen Glückwunsch!“

„Danke.“ Anne schenkt mir ein breites Grinsen.

„Warum rückst du erst jetzt damit raus?“

„Ich dachte, ich warte bis nach dem Kino, damit wir ausgiebig darüber reden können, ohne dass man uns mit Popcorn bewirft oder mit rüden Beschimpfungen aus dem Saal jagt.“

„Sehr umsichtig von dir.“

Um ihre Augen bilden sich kleine Lachfältchen.

„Wie lange weißt du es denn schon?“

„Eine Weile, aber ich wollte es für mich behalten, bis die kritische Phase vorbei ist. Viele Frauen verlieren ihr Kind während der ersten Wochen. Stell dir vor, du posaunst gleich nach dem Test aus, dass du schwanger bist und dann hast du eine Fehlgeburt. Das jedem Einzelnen auf die Nase zu binden“, sie verzieht das Gesicht, „der blanke Horror.“

„Allerdings.“ Ich nicke verständnisvoll und verhake meine Finger ineinander, um nicht mit meiner Serviette oder dem Besteck herumzuspielen. „Im wievielten Monat bist du denn jetzt?“, starte ich einen zweiten Anlauf, da ich immer noch keine klare Antwort habe. „Sehen kann man ja noch nicht viel.“

„In der vierzehnten Woche, da lässt es sich noch gut verstecken.“ Sie streicht ihre geblümte Tunika glatt, um auf einen kleinen Bauchansatz zu zeigen. „Aber warte nur, das geht ganz schnell und dann schiebe ich mit einem Mal eine dicke Kugel vor mir her.“

Ich nicke, gedankenverloren und immer noch auf ihren Bauch starrend. „Und wie hat Thomas reagiert? Hast du mir nicht erst kürzlich erzählt, dass es in der Kanzlei enorm stressig ist und er viele Überstunden machen muss? Wäre es da nicht besser gewesen, abzuwarten, bis das Ganze über die Bühne ist?“

„Schon“, erwidert Anne gedehnt, zugleich eine Schnute ziehend. „Aber bis das Baby da ist, vergeht ja auch noch mal eine ganze Weile. Außerdem lässt sich das nicht termingerecht planen, da ist Mutter Natur eigen. Viele Paare wünschen sich ein Kind und dann passiert jahrelang nichts. Wir hatten echt Glück, dass es so schnell geklappt hat.“ Sie zwinkert mir zur.

„Da hast du wohl recht“, sage ich und füge noch mit einem Schmunzeln hinzu: „Und Retoure schicken funktioniert in dem Fall ja nicht.“

„Es war total lustig“, kichert Anne, ganz in ihren Erinnerungen schwelgend. „Thomas hat dreimal ´Bist du sicher?!` gefragt, ehe der Groschen endlich gefallen ist und er nicht mehr wie ein U-Boot dreingeschaut hat. Ich glaube, dass ihm erst jetzt, nach und nach bewusst wird, was da auf ihn zukommt. Pech für ihn, dass er nicht mehr aus der Sache rauskommt, egal wie eingeschüchtert er mit einem Mal ist.“

Obwohl ich mich ganz auf das Gespräch zu konzentrieren versuche, spielt sich hintergründig immer noch eine Menge seltsamer Dinge in meinem Inneren ab. Irgendetwas scheint aus dem Gleichgewicht geraten. Meine Bewegungen fühlen sich hölzern an, meine Stimme klingt mir in den Ohren wider, als würde sie von einer alten, rauschenden Schallplatte abgespielt werden und keinesfalls mir gehören. Weder kann ich sagen, woher das kommt, noch, was es zu bedeuten hat.

Ich atme tief aber betont unauffällig durch, versuche mich zu sammeln und wieder ganz auf meine Freundin zu konzentrieren, die nach dieser großen und bahnbrechenden Neuigkeit meine ungeteilte Aufmerksamkeit verdient.

„Ich freue mich wirklich riesig für dich – für euch beide! Du wirst sicher eine tolle Mama und Thomas ein toller Papa! Stell dir nur vor, in … wann?“ Ich überschlage kurz. „Fünfeinhalb Monaten hältst du ein kleines Würmchen im Arm und bist Mama. Genau genommen sitzen wir schon jetzt zu dritt hier am Tisch.“

Abermals linse ich über den Tisch hinweg auf Annes Bauch und muss mir unwillkürlich die eine Eizelle vorstellen, die einmal ein erwachsener Mann oder eine erwachsene Frau sein wird. Zuerst natürlich ein verschrumpeltes Baby, dann ein zahnlückiges Kleinkind, ein rebellierender Teenager und nicht lange darauf ein ebenso alter Mensch, wie wir es sind. Auch, wenn Anne und ich dann nicht mehr in den Zwanzigern sein werden. Es ist, man kann es nicht anders sagen, ein beeindruckender Prozess, den die Natur in den weiblichen Körper gepflanzt hat.

„Es ist echt aufregend! Klar, ich hab auch Angst, aber die Freude überwiegt. Ich bin so gespannt, ob es ein Junge oder Mädchen wird und wie Thomas sich als Papa macht“, lässt sich meine Freundin verträumt aus. „Wenn wir auf Eltern mit Kindern treffen, kommt er mir häufig zwiegespalten vor, was aber auch an den jeweiligen Kindern liegt. Es gibt schon ausgesprochene Rotzlöffel.“

Ich erinnere mich an eine derartige Begegnung im Supermarkt und nicke zustimmend.

„Wenn wir zu dritt sind, werden wir uns als Paar auch neu orientieren müssen. Schließlich soll mit dem Baby die Beziehung nicht flöten gehen.“

Ein Einwurf, der nicht zu unterschätzen ist. Hört man ja häufiger, dass zwischen schmutzigen Windeln, durchwachten Nächten und vernachlässigter Körperpflege die Romantik und Intimität zu kurz kommt, beziehungsweise ordentlich zu leiden hat. Zumindest propagieren das diverse Hollywood-Filme.

Anne sieht allerdings nicht aus, als ob sie sich deswegen ernsthafte Sorgen macht. Wahrscheinlich ist es auch noch etwas früh für Panikattacken, wo ihr Nachwuchs gerade mal so groß wie eine Pflaume – oder eine Orange? – ist.

Aus dem Augenwinkel nehme ich wahr, wie die Kellnerin mit gezücktem Block und Stift auf unseren Tisch zusteuert.

Rasch greife ich abermals nach der Karte, lese jedoch über die Gerichte ohne sie wirklich aufzunehmen. Mein Kopf ist gänzlich leer und zugleich übervoll, sodass er sich noch viel weniger zu einer Entscheidung in Sachen Essen durchringen kann als vorhin.

Das Fazit: Ich bestelle Lasagne.

Damit kann ich nichts falsch machen.

*

*

*

Zweieinhalb Stunden später, nach einem umfangreichen Austausch über Baby-Schwimmen, Hausgeburten und mögliche Namen, einem Tiramisu für mich und einer Mousse au Chocolat für Anne, verlassen wir das Restaurant.

Weil wir in unterschiedlichen Ecken der Stadt geparkt haben, umarmen wir uns bereits nach einer kurzen Strecke und gehen getrennte Wege, sodass jeder wieder mit sich und seinen Gedanken allein ist.

Es dauert nicht lange und ich vergrabe die Hände in den Taschen meiner Jacke. Umgangssprachlich ist der April der Monat, der macht was er will, obendrein ist er – zu dieser Feststellung komme ich jedes Jahr aufs Neue – eine Umbruchphase innerhalb des Jahres. Beispielsweise wenn es um die Frage Winter- oder Sommerbett geht oder ich vor der Entscheidung stehe, welche Jacke ich anziehe. Heute Mittag bin ich nur im Sweater zum Bäcker gelaufen – das wäre jetzt undenkbar. Gemessen an dem Frösteln, das über meine Haut geht, könnte ich leicht doppelt so viel Stoff vertragen, wie meine Jacke hergibt.

Da die Innenstadt weitestgehend verkehrsberuhigt ist und die Hauptstraßen ein Stück entfernt, hinter mehreren standfesten Altbauten und Mauern liegen, wehen nur vereinzelte, gedämpfte Motorengeräusche durch die Luft. Sonderlich viel Personenverkehr herrscht auch nicht. Hier und da komme ich an gut besuchten Lokalen und kleineren Menschengrüppchen vorbei, doch mit einem belebten Zentrum wie dem von München kann unsere Stadt an der Donau nicht mithalten.

Ich passiere einige kleine Nebengassen und lege den Weg zu meinem Auto in zügigem Tempo zurück, obwohl ich es nicht eilig habe. Niemand erwartet mich, etwas Wichtiges zu erledigen habe ich nicht und früh aufstehen muss ich morgen auch nicht, da Samstag ist. Nichtsdestotrotz fühle ich mich getrieben, sodass ich schließlich leicht außer Atem meinen Fiat Punto erreiche.

Nachdem ich den schwarzen Kleinwagen aus der Parklücke manövriert und die Heizung bis zum Anschlag aufgedreht habe, schalte ich das Radio an, drücke so lange auf den Knöpfen herum, bis ich einen passablen Sender gefunden habe und drehe die Lautstärke noch ein paar Dezibel höher.

Der Erfolg der geträllerten Hits fällt allerdings mäßig aus. Die bekannten und unbekannten Melodien laufen gedämpft, wie aus größerer Entfernung an mir vorbei, während in meinem Kopf ein monotones und konstantes Rauschen herrscht. Alles um mich herum kommt mir gedämpft und leicht entrückt vor, so als würde ich mit dem Kopf unter Wasser stecken oder wäre in einen Berg von Watte eingepackt.

Am Kreisel rege ich mich nicht mal darüber auf, dass es manche Verkehrsteilnehmer nicht für nötig halten den Blinker zu setzen. Normalerweise nehme ich das sehr wohl zur Kenntnis und zwar indem ich jene Arroganz mit einem lauten, aber zugleich nüchtern geäußerten Arschloch kommentiere. Nicht, weil ich prinzipiell zu Anfällen von Gossensprache oder asozialem Verhalten neige, sondern einfach deshalb, weil ich mich danach besser fühle.

Heute bleibe ich allerdings unberührt und der Fahrer des schwarzen, tiefergelegten BMW von meiner verbalen Attacke verschont.

Da die Strecke bis nach Hause nicht weit ist und die Straßen kaum befahren sind, biege ich nach nicht mal fünfzehn Minuten in meine Straße ein. Ich bin kaum ausgestiegen und ein paar Schritte über den Parkplatz gelaufen, da tapst auch schon Zeus, mein Kater, auf mich zu. Sein Fell ist eine Mischung aus Rostrot und Weiß, die Iris leuchtet in dem neonartigen Grüngelb, das Katzenaugen häufig innewohnt. Dem Klang seines Maunzens höre ich an, dass er sich beschwert, und das mit Nachdruck.

Als ich vor drei Jahren hier eingezogen bin, empfand ich die Zwei-Zimmer-Wohnung als still und einsam. Zu still und einsam, weswegen ich zusammen mit Anne ins Tierheim gefahren bin, um mich nach einem Mitbewohner umzusehen. Da ich mit Kleintieren nicht viel anfangen kann – auch nachdem Anne mich energisch mit einem schwarz-weißen Kaninchen zu ködern versucht hat – und ein Hund nur schlecht mit meiner Arbeit zu vereinen ist, ist die Wahl auf eine Katze gefallen. Still oder langweilig ist es innerhalb meiner vier Wände nun nicht mehr. Höchstens haarig und manchmal eklig und verstörend, wenn lebende oder halbtote Spielkameraden involviert sind. Derartiges würde mit Hund nicht passieren, mit einem Kaninchen wohl auch nicht. Dafür kann keiner der beiden derart goldig schnurren.

Ich gehe in die Hocke und streichle meinem Kater über den Rücken. „Jaja, ich weiß, ich bin spät dran. Komm“, mit einer winkenden Handbewegung, der das Fellknäuel umgehend folgt, richte ich mich auf und laufe weiter Richtung Hauseingang. „Wir köpfen eine Dose Whiskas.“

Natürlich wäre er mir ohnehin hinterhergelaufen, immerhin hat er Hunger. Aber mit Tieren verhält es sich doch fast immer gleich. Sobald sie Teil deines Lebens sind, behandelst du sie wie ein vollwertiges Gegenüber, egal wie groß oder klein sie sind. Dass man bei diesem Doppel der Einzige ist, der sich verbal zum Besten gibt, ist zweitrangig.

Gemeinsam schieben wir uns durch die Eingangstür des Vierparteienhauses, dann durch meine Wohnungstür. Zeus ist bereits auf halbem Weg in die Küche, als ich noch im Flur stehe und mir Schuhe und Jacke ausziehe. „Die paar Sekunden wirst du jetzt auch noch warten können.“

Abermals ist ein vorwurfsvolles Maunzen zu hören, was mich entnervt mit den Augen rollen lässt. Wenn Katzen etwas wollen, dann wollen sie es – und zwar jetzt und sofort. Als ihr Besitzer bist du angehalten dem jetzt und sofort nachzukommen und alles andere stehen und liegen zu lassen. Es heißt nicht umsonst: Hunde haben ein Frauchen oder Herrchen, Katzen haben Personal.

Nachdem ich meinen Mitbewohner – oder Herr und Meister? – mit Essen und frischem Wasser versorgt habe und in meinen kuscheligen Pyjama geschlüpft bin, mache ich es mir auf dem Sofa bequem. Den restlichen Abend vor dem Fernseher ausklingen zu lassen, kommt mir wie ein guter Plan vor. Für eine andere Beschäftigung fehlt mir ohnehin der Elan.

Die Glotze an und den Kopf ausschalten – das hat mein Opa oft gesagt, als er noch gelebt hat. Zeit seines Lebens hat er den Fernseher nur dann angemacht, wenn gerade ein Western oder Fußballspiel lief. Filme mit Clint Eastwood würde man noch in hundert Jahren kennen und sehen – ebenfalls seine Worte.

Hätte er die Finger von den Zigaretten gelassen, zumindest zuweilen, wäre er vielleicht nicht mit vierundsechzig gestorben und hätte sich noch länger an Klassikern wie Spiel mir das Lied vom Tod, Zwei glorreiche Halunken oder Hängt ihn höher erfreuen können. Ebenso wie ich mich länger an ihm und seinen Vorträgen über die Rolle der Frau hätte erfreuen können.

Tja, man kann sich seine Verwandtschaft eben nicht aussuchen. Sie ist und bleibt eine Flickendecke oder, hübscher ausgedrückt, Patchwork-Art, bestehend aus einer Vielzahl bunter Persönlichkeiten, verbunden durch den gleichen Faden, was im übertragenen Sinne auf die gesamte Weltbevölkerung zutrifft. Jeder Mensch hat seine Eigenheiten, Prinzipien und Laster, der eine mehr, der andere weniger stark ausgeprägt.

Meine Laster sind beispielsweise Pistazieneis, Milchschokolade und Lakritze, ebenso wie die Düfte von Escada, Fotomagazine und Sneakers. Dass ich mein Bett nie unordentlich zurücklasse oder mir die Hände zu oft wasche, gehört definitiv zu meinen Eigenheiten und was meine Prinzipien angeht: Vielleicht bin ich dafür noch zu jung. Damit will ich nicht sagen, dass achtundzwanzig jung ist, auch nicht alt, aber ich könnte nicht sagen, woran ich eisern und unbeirrbar festhalte oder glaube.

Die Sender einmal rauf- und runtergezappt und die Hoffnung auf einen passablen Film schon beinahe aufgegeben, werde ich schließlich doch noch fündig. Ein Thriller mit Sandra Bullock, egal wie alt, ist immer sehenswert. Irgendwann gegen zwei Uhr läuft der zweite Filmabspann ab, ebenfalls ein älterer Streifen, diesmal mit Michael Douglas in der Hauptrolle. Unmittelbar darauf flimmert die Werbeeinblendung einer Sex-Hotline über den Bildschirm und ich drücke den Off-Knopf auf der Fernbedienung.

„Zeit fürs Bett, Dickerchen“, erkläre ich meinem Kater, der sich nach seinem Abendmahl und einigen akrobatischen Manövern über meine Schultern und meinen Kopf hinweg auf meiner Brust zusammengerollt hat. Als ich mich aufrichte, rollt er rückwärts auf die Couch, öffnet die Augen und bedenkt mich mit einem zerknautschten Blick, der wohl so etwas sagen soll wie: Hey, was soll das?

Mein Mitleid für ihn hält sich jedoch in Grenzen. Es heißt nicht umsonst Katzen hätten neun Leben. Sie sind überaus zähe Tiere und es schadet ihnen gar nicht, wenn es einmal nicht nach ihrer Nase geht oder sie – wortwörtlich – auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt werden.

Am Ende knicke ich allerdings doch wieder ein und kraule das rot-weiße Fellknäuel hinter den Ohren, was mit einem versöhnlichen Schnurren seinerseits belohnt wird.

Nachdem ich mir die Zähne geputzt und mich abgeschminkt habe, krieche ich ins Bett, ziehe die Beine zum Körper hin und verharre eine Weile in dieser Position, ehe ich mich auf den Rücken drehe. Den Blick auf die Zimmerdecke geheftet, lasse ich den Abend gedanklich Revue passieren. Immer und immer wieder, Detail für Detail. Anfangs, weil ich nicht anders kann, irgendwann, weil ich es will, vielleicht auch andersherum.

Ich denke an Annes Gesichtsausdruck, das freudige Strahlen in ihren Augen, an ihre Stimme, die sich beim Reden fast überschlagen hat, vor lauter Glück.

Wieso hat mich ihre Schwangerschaft nur derart aus der Bahn geworfen? Warum hab ich mich um jedes Wort, um meine Mimik bemühen müssen, wo das doch ganz selbstverständlich hätte sein sollen? Immerhin hat Anne mir von einer besonderen Veränderung in ihrem Leben erzählt und nicht von etwas, das mich schocken sollte. Das Überraschungsmoment war nachvollziehbar, aber alles danach?

Weil ich das Gefühl nicht loswerde, dass ich mich Anne gegenüber wie eine Schauspielerin verhalten habe, versuche ich mir alles in Erinnerung zu rufen, was ich zu ihr gesagt habe. Ich will nachspüren, ob ich wirklich gemeint habe, was ich gesagt habe oder ob etwas davon gelogen war. Nach ein paar Augenblicken stelle ich erleichtert fest, dass es das nicht war. Was ich zu Anne gesagt habe, war erst gemeint.

Seit der Grundschule sind wir beste Freundinnen und ich gönne ihr alles Glück der Welt. In Annes Fall liegt das vor allem darin, eine eigene Familie zu gründen und Mama zu werden. Ehemann, zwei bis drei Kinder, Eigenheim, weißer Gartenzaun, großer Garten und Hund - so lässt sich der Lebenstraum meiner Freundin umschreiben. Möglicherweise ist der weiße Gartenzaun etwas zu dick aufgetragen, aber es bringt das Entscheidende gut auf den Punkt. Thomas, den ehrgeizigen Anwalt und Mann ihres Herzens, hat Anne während eines Firmenevents kennen und bald auch lieben gelernt. Nach dreijähriger Beziehung sind die beiden letztes Jahr vor den Traualtar getreten und kurz darauf in das Reihenhaus einer Neubausiedlung gezogen, womit sich ein Großteil von Annes Lebensträumen bereits erfüllt hat.

In Hinsicht darauf war mir natürlich bewusst, dass es lediglich eine Frage der Zeit ist, bis meine Freundin die Worte ausspricht, die sie heute ausgesprochen hat. Allerdings habe ich weder so bald, noch am heutigen Abend mit ihnen gerechnet. Womit ich ebenfalls nicht gerechnet habe, war meine Reaktion.

Ich schätze, ich habe einfach nur Angst, dass ich abgemeldet bin, sobald das Baby da ist – was natürlich Blödsinn ist. Klar, es wird sich etwas verändern und ich werde Anne, vor allem anfangs, weniger zu Gesicht bekommen, aber deshalb bin noch lange nicht aus ihrem Leben gestrichen. Womöglich trauere ich einfach ein bisschen, weil abermals eine Ära zu Ende geht. Zu Schulzeiten, wenn man noch Zuhause wohnt, übernachtet man häufig bei Freunden und andersherum. Später, wenn dann Männer und eine eigene Wohnung ins Spiel kommen – oder beides zusammen – hört das zwangsläufig auf. Nachwuchs stellt eine ähnliche Veränderung dar. Er läutet unweigerlich einen neuen Abschnitt mit neuen Rahmenbedingungen ein. So ist das Leben. Ständige Veränderung.

Ich gähne ausgiebig, drehe mich wieder auf die Seite und schließe die Augen. Genug gegrübelt, Zeit zum Schlafen.

Tiefe, beruhigende Atemzüge nehmend, kuschle ich mich noch dichter unter die Bettdecke und versuche meinen Kopf zu leeren, die Ereignisse aus der Arbeit, den Kinofilm und insbesondere das Abendessen mit Anne loszulassen.

Mein Plan will jedoch nicht aufgehen. Nach gefühlten tausend Atemzügen und Malen des Herumwälzens bin ich immer noch wach und kurz davor, mit Händen und Füßen auf die Matratze einzuschlagen, weil ich das Karussell in meinem Kopf weder anhalten noch davon abspringen kann.

Zeus hat sich längst aus dem Staub gemacht, um sich einen anderen Schlafplatz zu suchen. Einen, an dem er nicht andauernd Kicks und Tritte kassiert und Gefahr läuft, jeden Moment aus dem Bett zu fallen. Ich werde ihn morgen wohl im Wohnzimmer vorfinden – sofern er vorher nicht mich gefunden und nach Essen oder Aufmerksamkeit verlangt hat, was, in Anbetracht meiner Stellung als sein Personal, so gut wie unausweichlich ist.

Ich rolle mich auf den Bauch, auf den Rücken, winkele die Beine an, strecke sie breit von mir, lege mich sogar mit dem Kopf ans Fußende, doch egal, was ich probiere, nichts führt dazu, dass ich zur Ruhe komme. Ich bin hundemüde und zugleich hellwach.

Irgendwann ist die im Zimmer hängende Dunkelheit nicht mehr undurchschaubar und wenn meine Ohren mir keinen Streich spielen, ist von draußen vereinzeltes Vogelgezwitscher zu hören. Beides stimmt mich wenig glücklich, weil es ganz danach aussieht, als sei es inzwischen bedeutend später als zwei Uhr.

Ich angle mein Handy vom Nachttisch, wobei ich es fast zu Boden werfe. Das Display zeigt kurz nach halb fünf und bestätigt meine Vermutung die Zeit betreffend. Großartig, einfach großartig!

Ich liebe das Farbenspiel eines anbrechenden Tages, wenn der dunkle Himmel einem immer helleren Grau weicht, sich nach und nach zu einem Orange, Rot und Gelb bis hin zu einem Blau wandelt. Ich liebe es, wenn – und nur wenn! – ich mich nach einer angenehmen Nachtruhe strecke und die Vorhänge beiseiteschiebe. Was ich jedoch auf den Tod nicht ausstehen kann, ist, wenn die Sonne aufgeht, ohne dass ich überhaupt die Augen zugemacht habe. Das fühlt sich für mich an, als wäre ich aus dem Rhythmus gefallen, an dem die Welt und Menschen sich orientieren und entlang bewegen.

Frustriert lasse ich mich zurück aufs Kopfkissen fallen. Würde ich mich nicht derart aufgewühlt und unruhig fühlen, könnte ich bestimmt darüber lachen, immerhin liegt dem Ganzen eine gewisse Ironie inne. Will man nicht schlafen, beispielsweise, weil man das Ende eines Films unbedingt noch sehen will, döst man unerbittlich weg. Will man aber wirklich schlafen, bekommt man kein Auge zu. Zweifellos gibt es irgendeinen psychologischen Fachausdruck für diesen Gemütszustand.

Eine weitere wache Weile vergeht.

Man sollte doch meinen, dass das, was ich will, nicht zu viel verlangt ist. Schlafen, nicht mehr und nicht weniger. Ganz einfach das tun, was man nachts üblicherweise tut.

Zugegeben, ich gehöre nicht zu den Menschen, die in jeder Position schlafen können oder die Augen schließen und binnen eines Blinzelns weg sind, aber Schlafprobleme sind mir fremd. Zumindest war das bisher so.

Als ich endlich spüre, wie die klebrige und bleierne Müdigkeit mich mit sich zieht, sind die Gedanken ´Anne wird Mama` und ´Was für ein Glück, dass ich nicht früh raus muss`, die letzten, die durch meinen Geist tanzen, ehe mein Wachbewusstsein gnädiger Weise das Licht ausknippst und mich einschlafen lässt.

Fühl, was du fühlst

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