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3 – Alles Gute kommt von oben

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Die restliche Arbeitswoche kommt mir extrem lang und anstrengend vor. Ich bin zerstreut, verzettle mich mehrmals und habe nach wie vor Schlafprobleme, was mich am meisten mürbe macht. Entweder brauche ich eine Ewigkeit bis ich eingeschlafen bin oder ich habe einen überaus unruhigen Schlaf, wache mehrmals auf und fühle mich gerädert, wenn ich am Morgen zur Arbeit fahre.

Ich sage mir, dass es lediglich eine Phase ist, die wieder vorbei geht, kaschiere den Ansatz meiner Augenringe mit etwas getönter Augencreme, während Susanne die ganze Woche über besonders nett zu mir ist. Da ich jedoch immer noch nicht in der Stimmung bin ihr von Annes Schwangerschaft zu erzählen und es sonst nichts zu sagen gibt, beißt sie auf Granit, was sie mit noch mehr Leckereien, Aufmerksamkeit und Fürsorge zu kompensieren versucht.

Und dabei soll man dann nicht dick werden.

Als ich das einmal laut angekreidet habe, meinte Susanne nur: Ach was, so schnell legst du schon nicht zu. Und wenn doch, hältst du dich einfach an die Diät, die meine Männer erfunden haben: Nur essen, wenn das Licht aus ist und es keiner sieht, ganz egal, was es ist. Eiscreme, Käse, der Rest Bratensauce vom Mittagessen … damit mutierst du in null Komma nichts zum Heidi Klum-Double, viel fehlt ohnehin nicht.

Den Vergleich mit Heidi Klum bekomme ich öfter zu hören, ebenso wie den, ich hätte etwas von Sienna Miller. Was mich angeht, tendiere ich eher zu letzterem. Nicht nur, weil ich die britisch-amerikanische Schauspielerin vorziehe, sondern auch, weil ich mich eher in ihr als in dem in Bergisch Gladbach geborenen Model mit Dauergrinsen wiedererkenne. Vielleicht liegt es auch daran, dass ich Sienna Miller hübscher finde und mich deswegen lieber mit ihr vergleiche – oder vergleichen lasse. Oft genug erkenne ich mich aber auch in keiner von beiden wieder, finde mich unscheinbar und alles andere als hübsch. Aber solche Tage kennt wohl jede Frau.

Als am Freitag endlich der Feierabend in greifbare Nähe rückt, freue ich mich auf ein faules Wochenende mit einer guten Mütze voll Schlaf. Ich will meinen PC schon runterfahren, als Manuela, unsere Chefredakteurin, neben mir auftaucht und sich nach dem Entwurf für die Postkartenbeilage der Ausgabe in vier Wochen erkundigt. Die Unterhaltung endet damit, dass ich, auch wenn sie sich schlussendlich mit Montag zufriedengegeben hätte, anbiete, zu bleiben und ihn sofort fertigzumachen.

Überstunden sind ein gutes Argument, wenn es um Bonuspunkte oder Gehaltserhöhungen geht. Zwar könnte ich heute gut darauf verzichten, doch genaugenommen läuft mir nichts davon; fängt mein Erholungswochenende eben ein bisschen später als geplant an.

Auf dem Nachhauseweg mache ich einen Boxenstopp bei der Burger-Kette mit dem großen, gelben M. Mein Kühlschrank ist so gut wie leer und nach Einkaufen ist mir nun wirklich nicht, das vertage ich auf morgen.

Nachdem Zeus´ Napf gefüllt und mein Tüten-Menü verspeist ist, lasse ich mir ein heißes Bad ein, um mir die Arbeitswoche von Körper und Geist zu waschen, wie man sprichwörtlich sagt. Zudem macht Baden bekanntlich müde. Nicht, dass ich das nötig habe, aber vielleicht kann ich danach besser abschalten und Ruhe finden.

Mit schrumpeliger Haut, entspannten Muskeln und dem anhaftenden Duft von Passionsblüte, lasse ich meinen Kater durch die Terrassentür nach draußen, um ihn kurz darauf wieder reinzulassen, zappe noch ein bisschen durchs laufende Fernsehprogramm und lege mich schließlich gegen halb zehn ins Bett.

Mein Plan, mich zeitig hinzulegen und am Morgen ausgeruht aus den Federn zu kriechen, geht nicht auf – schon wieder. Abermals liege ich im Bett und drehe Gedankenspiralen, die sich um alles und zugleich nichts drehen, auch wenn der Abend mit Anne immer wieder darin auftaucht.

Weil das nicht nur sinnlos, sondern obendrein auch noch frustrierend ist, stehe ich auf, hänge abermals bis kurz nach zwei vor der Mattscheibe ab, ehe ich einen zweiten Anlauf ins Heia-Land starte.

*

*

*

Ich kann nicht sagen, wann ich diesmal eingeschlafen bin, aber irgendwann hat es geklappt. Anders kann ich mir nicht erklären, dass ich mit aufgerissenen Augen und galoppierendem Herzen senkrecht in die Höhe schieße und konfus herauszufinden versuche, wo ich bin und was vor sich geht.

Nach einigen Augenblicken innerer Sammlung bin ich in der Lage alle Informationen und Eindrücke zusammenzusetzen, sodass sie ein sinnvolles Bild ergeben.

Über meinem Schlafzimmer steppt der Bär – auch wenn ich mehr an eine Horde Elefanten denken muss, die sich in Stepptanz versucht, was zwar ein witziges Bild abgibt, mich aber dennoch nicht lachen lässt.

Ich taste nach meinem Handy. Kurz vor halb acht. Ich habe fünf oder sechs Stunden geschlafen – wenn es hochkommt. Das erklärt logisch, warum ich mich fühle, wie ich mich fühle – also sowieso schon fühle, ohne den zusätzlichen Schock, den ich gerade erlitten habe. Nämlich wie eine Bombe, kurz vorm Explodieren. Das Explodieren steht in diesem Fall für ´in Tränen ausbrechen` oder ´wie am Spieß losschreien`.

Wer im Haus meint, er müsse so früh einen derartigen Lärm veranstalten? Obendrein an einem Samstag? Hat derjenige noch nie was von Rücksichtnahme gehört? Oder von dem Wörtchen Hausordnung?

Nach oben starrend, als wäre die weiße Wand über mir durchsichtig, versuche ich ruhig zu bleiben und nichts von den beiden Szenarien – heulen oder schreien – in die Tat umzusetzen. Als jedoch einen Moment darauf ein weiteres Kratzen, so als würde man etwas oder jemanden über den Boden schleifen, über die Decke geht, kann ich es nicht länger unterbinden. In meinem Kopf entwickeln sich Mordgelüste dickbäuchigen Elefanten gegenüber, dicht gefolgt von der noch verlockenderen Idee, meine Nachbarin von oberhalb den schwergewichtigen Rüsseltieren als Fußabtreter zur Verfügung zu stellen.

Beim nächsten Poltern fällt mir ein, dass über mir niemand wohnt. Nicht mehr zumindest. Die Wohnung steht seit etwa zwei Monaten leer, weswegen die morgendliche Ruhestörung einen mysteriösen Beigeschmack bekommt und meinen trägen Verstand noch stärker in Anspruch nimmt.

Trotz des sich schließlich mühsam herauskristallisierenden Gedankens, dass es mein Vermieter ist, der diverse Schönheitsreparaturen an der verwaisten Wohnung vornimmt, merke ich bereits einen Augenblick später, dass es mir ziemlich egal ist, ob er tatsächlich für diesen Lärm verantwortlich ist und was der Grund ist, warum er ihn veranstaltet. Das Einzige, was mir schwer aufstößt, ist, dass dieser Lärm existiert und mich aus dem Schlaf gerissen hat.

Etwas knallt mit einem basstönenden Rums zu Boden.

Ich presse die Augen zusammen und bete um Fassung. Im Normalfall, wenn ich ausreichend Schlaf und Essen bekomme, bin ich eine freundliche, ausgeglichene und taktvolle Person, die gut mit allem und jedem auskommt. Selbst als es um die vorherige Mieterin ging – eine überhebliche Zicke mit Extensions, falschen Fingernägeln und Nerd-Brille, die so gar nicht zu ihr gepasst hat –, konnte ich mich mit ihr und der gemeinsamem Wohnsituation arrangieren. Was jedoch das Hier und Jetzt angeht, fühle ich mich weder freundlich, ausgeglichen oder taktvoll, dafür aber enorm dünnhäutig und gereizt. Schön und gut, wenn mein Vermieter die Wohnung auf Vordermann bringen will und mit wenig Schlaf auskommt, aber deswegen muss er nicht automatisch jeden anderen aus dem Bett werfen. Derartige Aktionen, früh morgens Rasenmähen oder Bäume beschneiden zum Beispiel, hat er schon öfters gebracht. Heute ist es jedoch einmal zu viel. Obendrein hat er sich den denkbar schlechtesten Tag dafür ausgesucht.

Ich schwinge die Füße aus dem Bett, elanvoller, als ich mich fühle, und bin schon halb aus dem Schlafzimmer, als mir aufgeht, dass ich lediglich einen Slip trage. Irgendwann heute Nacht habe ich alle Klamotten auf den Boden geworfen, da es mir mit einem Mal zu warm gewesen ist. Weil man jemanden entschieden besser zur Schnecke macht, während man etwas anhat, schlüpfe ich rasch in meinen Bademantel und steige mit nackten Füßen in ein Paar Sneakers. Kurz überlege ich, mir doch eine Jeans und ein Shirt anzuziehen, entscheide mich aber dagegen, weil mein Vermieter ruhig sehen kann, dass ich direkt aus dem Bett komme – und zwar wegen ihm. Außerdem habe ich vor, nach meinem Gang nach oben auf direktem Weg dorthin zurück zu kriechen.

Die Hand auf dem Türgriff atme ich nochmals tief durch, um meine Wut einzudämmen und mich so weit zu beruhigen, nicht in Tränen auszubrechen, wenn ich meinem Vermieter gegenüberstehe. Schlafentzug kann wirklich die seltsamsten Dinge mit einem anstellen. Bei mir führt er zu emotionaler Dünnhäutigkeit und verminderter Selbstkontrolle. Und das Letzte, was ich jetzt brauchen kann, ist, mir die Blöße zu geben, weil ich während meiner Predigt losheule, wie ein übernächtigtes Kleinkind. Dass ich mich tatsächlich so fühle, steht auf einem anderen Blatt geschrieben.

Im Flur stelle ich fest, dass die Haustür speerangelweit offensteht. Ein kleiner Holzklotz ist darunter geschoben, sodass sie nicht zufallen kann.

Ehe ich meinem ersten Impuls gefolgt bin und den Keil herausgezogen habe, zieht ein ekelhaftes Röhren von oberhalb meine Aufmerksamkeit auf sich, weshalb ich die offene Haustüre offene Haustüre sein lasse und direkt die Treppe in Angriff nehme. Dabei kitzelt kühle Durchzugluft um meine Waden, was nahelegt, dass auch die Wohnungstür im ersten Stock offensteht. Ich merke, dass ich mich mit jedem Schritt noch weiter in meine Wut hineinsteigere, was wiederum meine Tränendrüsen weiter anregt.

Ein fauchendes ´Herr Faber` auf der Zunge, stürme ich in die Wohnung, komme jedoch nicht weiter als bis zwischen Tür und Angel, weil ich dort mit jemandem zusammenpralle, der eindeutig nicht mein Vermieter ist.

Dafür ist er zu groß, das Haar zu kräftig, ohne den Anflug von Grau oder Tendenz zur Glatze. Lässige Blue Jeans und ein weißes, leicht angestaubtes T-Shirt lassen sich ebenfalls nicht mit meinem Vermieter auf einen Nenner bringen, erst recht nicht, da sich hinter dem Shirt eine muskulöse Brust verbirgt. Ergänzend zu all dem geht ein süßlicher Geruch von ihm aus – aber nicht der, den ältere Menschen, mein Vermieter eingeschlossen, verströmen. Vielmehr wie Gummibärchen. Das ist zumindest die erste Assoziation, die sich in meinem Kopf herauskristallisiert.

Durch den Zusammenstoß stolpert jeder von uns ein Stück nach hinten. Ich drücke meine Hand reflexartig gegen die Stirn, während mein Gegenüber nach seiner Nase greift, da mein Dickschädel ihn genau dort getroffen hat.

Ich bin viel zu perplex, als dass ich eine angemessene Reaktion zeigen oder etwas sagen könnte, und sei es nur das Wörtchen Entschuldigung. Von jetzt auf gleich ist mir jeglicher Wind – der, wenn man es genau nimmt, ohnehin nicht mehr als eine müde Brise war, die dachte, sie sei zu Größerem fähig – aus den Segeln genommen. Stattdessen verspüre ich plötzlich Verlegenheit.

„Das nenne ich mal umwerfend, im wahrsten Sinne des Wortes.“ Die braunen Augen meines braunhaarigen Gegenübers gleiten langsam hinab zu meinen Füßen und wieder hinauf zu meinem Gesicht, während er sich den Nasenrücken massiert und mich schief angrinst. „Wo brennt´s denn?“

In meinem Gesicht – das ist mein erster Gedanke. Ich spüre deutlich, wie mir die Hitze in die Wangen schießt. Am liebsten würde ich mich einfach umdrehen und ihn stehen lassen, doch mir ist klar, dass das nicht geht. Weil dies eine jener Situationen ist, die man aussitzen muss, um sie nicht noch peinlicher zu machen als sie ohnehin schon ist.

„Kann ich irgendwie helfen?“, versucht mir mein Gegenüber abermals eine Antwort zu entlocken, da ich mich immer noch stumm wie ein Fisch gebe.

„Für Hilfe ist es wohl schon zu spät.“

Ein kehliges Lachen schlägt mir entgegen. „Eigentlich sehen Sie auch gar nicht aus, als hätten Sie Hilfe nötig. Vielmehr, als kämen Sie geradewegs aus dem Bett – nicht unbedingt freiwillig. Das wiederum kann durchaus ein Grund sein, warum Sie zu mir wollten.“ Seine braunen Augen funkeln spitzbübisch.

Ich reiße den Mund auf. Wegen dem, was er gesagt oder vielmehr wie er es gesagt hat und weil ich meinen Gedanken allem Anschein nach nicht für mich behalten, sondern laut ausgesprochen habe.

„Womöglich wollten Sie mich als Erste willkommen heißen?“, schlägt mein Gegenüber voller Gelassenheit (der Gelassenheit, die ich gerne verspüren würde) vor und streckt den rechten Arm nach oben, um sich am Türrahmen abzustützen. „Oder, wer weiß, vielleicht machen Sie das auch öfter – morgens im Bademantel die Wohnungen Ihrer Nachbarn aufsuchen, meine ich.“ In seinem rechten Mundwinkel zuckt es verdächtig.

Mein Verstand, jüngst ziemlich auf Sparflamme heruntergedimmt, katapultiert sich beeindruckend schnell in die Leistungszone zurück. Und zwar, indem er mich darüber informiert, dass ich wenig geschlafen habe, entsprechend aussehe und einem fremden, etwa gleichaltrigen Mann gegenüberstehe. Und dass in meinem knielangen, rosaroten Hello Kitty Bademantel. Ein Geschenk zum dreiundzwanzigsten Geburtstag, das ich auch nach fünf Jahren noch problemlos tragen kann, weil Bademäntel im Normalfall nicht zu klein und Katzen mit Schleifchen im Haar nicht weniger süß werden.

Allerdings fände ich ein reiferes, gern vollkommen schlicht gehaltenes Modell, in diesem Moment überaus angenehm.

„Tut mir leid, ich wollte nicht …“, stammle ich vor mich hin und deute auf sein Gesicht, während ich mich frage, warum zur Hölle ich hier stehe und nicht mehr in meinem Bett liege.

„Halb so wild, meine Nase ist ja noch ganz“, versichert mir der Dunkelhaarige mit einem lockeren Lächeln.

Mir wünschend, ich hätte mich doch für Jeans und T-Shirt entschieden, versuche ich mich an einem vollständigen Satz. „Es tut mir wirklich leid, ich dachte Herr Faber, also mein Vermieter, ist drauf und dran diverse Schönheitsreparaturen an der Wohnung vorzunehmen. Da es meinem Empfinden nach sehr früh dafür ist, wollte ich …“

„Ihm die Leviten lesen?“, hilft mir mein Gegenüber aus.

Sofern möglich, glüht mein Gesicht noch heißer.

„Ich fürchte, wenn Sie jemanden zur Schnecke machen wollen, müssen Sie mit mir vorliebnehmen. Ich bin derjenige, der Sie aus dem Bett geworfen hat – was mir übrigens leidtut.“ Auf seinen Lippen liegt immer noch ein lockeres Lächeln, seine Stimme klingt nun aber entschuldigend. „Ich dachte, alle Bewohner wären informiert, dass ich heute einziehe und es deswegen etwas lauter wird. Herr Faber wollte ein Infoschreiben verteilen oder ans schwarze Brett pinnen, eins von beidem. Aber offensichtlich“, er hält kurz inne, „hat er weder das eine, noch das andere getan.“

O-k-a-y, fliegen mir die Buchstaben langgezogen wie Hasenohren durch den Kopf, obwohl die Vorahnung schon irgendwo im Hintergrund zu greifen gewesen ist. Das ist also nicht etwa ein von Herr Faber engagierter Handwerker, Verwandter oder Einbrecher, das ist mein neuer Nachbar.

„Wie es aussieht, hat er diese Info nicht so konsequent weitergegeben.“ Ich würde mich daran erinnern, wenn ich ein Schreiben von Herrn Faber im Briefkasten gehabt hätte. Ans schwarze Brett habe ich allerdings schon länger nicht mehr gesehen.

Ich konzentriere mich auf das regelmäßige Ein- und Ausatmen, weil ich, wenn schon nicht über diese Situation, zumindest darüber die Kontrolle habe.

„Ungünstig gelaufen, würde ich sagen. Ich bin übrigens Alexander Koller.“ Er hebt den Arm und streckt mir die rechte Hand entgegen, die er zuvor an seiner Jeans abgestrichen hat. „Wenn ich Sie schon unsanft aus dem Bett werfe, sollte ich mich wenigstens vorstellen. Immerhin will ich nicht gänzlich den Eindruck eines Unruhestörers hinterlassen.“

Da ich seine guten Manieren schlecht übergehen kann, erwidere ich den Handschlag und sage so selbstbewusst und würdevoll mir möglich: „Hannah Schönbeck.“

Alexander Kollers Hand ist größer als meine, warm, an einigen Stellen leicht rau und umschließt meine Finger mit sanftem aber zugleich prägnantem Druck.

Als er mich nach angemessener Zeit immer noch nicht losgelassen hat, ziehe ich meine Hand zurück. Nicht übermäßig auffällig, aber dennoch so, dass er merkt, dass ich sie zurückhaben möchte.

„Es ist einfach etwas früh, besonders an einem Samstag. Ich habe gestern ziemlich lange“, ich stocke kurz, „ähm … gearbeitet und bin erst spät ins Bett gekommen. Deshalb hat mich der Lärm derart auf dem falschen Fuß erwischt.“ Nicht nur der hat mich auf dem falschen Fuß erwischt. Wieso verdammt noch mal bin ich nicht im Bett geblieben?

„Ich hoffe, das nehmen Sie mir nicht übel? Es wäre schade, wenn ich es mir schon am ersten Tag verscherzt hätte“, setzt mein neuer Nachbar mit schiefem Grinsen nach. „Bei Ihrem nächsten Besuch kann ich Ihnen bestimmt eine Tasse Kaffee und nicht nur eine staubige Hand anbieten.“

Einen Moment lang ist mir, als hätte ich vergessen, wie man spricht. Glücklicherweise fange ich mich schnell wieder. „Keine Sorge, ich bin nicht nachtragend. Außerdem habe ich es Ihnen ja direkt zurückgezahlt, damit sind wir quitt.“ Ich schenke ihm ein unverbindliches Lächeln, dann stelle ich die Weichen auf Rückzug. „Ich wünsche Ihnen noch einen guten Einzug. Wir laufen uns sicher noch das ein oder andere Mal über den Weg.“

„Das will ich hoffen.“

Ist das ein Grübchen in seiner linken Wange?

„Schwing endlich deinen Hintern her und hör auf zu baggern!“, kommt es von einer männlichen Stimme aus der Wohnung und verpasst mir den letzten Tritt.

Ich nicke Alexander Koller nochmals zu, versuche die Treppe nicht im Sprint, sondern in angemessenem Tempo zu nehmen, während in meinem Rücken jemand den Dienst mit einem Akkuschrauber aufnimmt.

Im Erdgeschoss werfe ich einen Blick auf das schwarze Brett nahe der Eingangstür und kann mich nicht entscheiden, ob ein Fluch oder Schrei angebrachter wäre.

Von der Magnetwand blickt mir nebst einer Liste mit Telefonnummern ein weißes DIN-A4 Blatt entgegen, verächtlich und spottend, wie es mir vorkommt. Der gesamte Text ist zu klein, um ihn aus dieser Entfernung zu lesen, aber die dicke Überschrift kann ich deutlich entziffern.

Einzug Koller - Samstag, 25.04.2015

Wer lesen kann ist klar im Vorteil.

Ehe ich mich vom Fleck bewegt habe, kommt jemand mit einem Karton durch die Eingangstür. Kurz sieht er ebenso irritiert aus wie ich, wenn auch nicht so geschockt. Es dauert jedoch nicht lange, da zeichnet sich auf dem Gesicht des Blondhaarigen ein Ausdruck von Amüsiertheit ab, der dem von Alexander Koller ähnelt, jedoch weitaus ungenierter ist.

„Morgen.“ Er lässt den Blick von meinem Gesicht bis hinab zu den Schuhen gleiten, wobei ich mich abermals fühle, als würde ich mittels Laserblick geröntgt. „Netter Bademantel.“

Ich erwidere meinerseits ein knappes ´Morgen`, drehe mich um, springe regelrecht über meine Türschwelle und drücke die Wohnungstür hinter mir zu. Dann lehne ich mich rücklings mit geschlossenen Augen gegen das Holz und halte die Luft an, bis mir sicher bin, dass der Kisten-Typ nach oben verschwunden ist. Natürlich ist mir bewusst, dass er mich nicht durch die Tür atmen hört, aber es geht hier mehr um irrationales Verhalten denn um rationales.

Ich harre noch einige Minuten in der Diele aus und wünsche mir, ich hätte zweimal nachgedacht, ehe ich voller Mordlust aus der Wohnung stürze. Möglicherweise wäre ich dabei auf die Idee gekommen, dass der Lärm auch von einem neuen Mieter rühren könnte, der gerade dabei ist, einzuziehen. Nicht nur, dass ich wie eine übernächtigte Furie morgens um halb acht meinem Vermieter eine Standpauke halten wollte, nein, ich muss mich auch noch vor meinem neuen Nachbarn zur Idiotin machen.

Ich schließe die Augen und stoße einen Seufzer aus. Wieso nur tue ich mich seit vergangenem Freitag so verdammt schwer, ein Auge zuzumachen? Weshalb habe ich in den letzten Tagen nicht einfach mal einen Blick aufs schwarze Brett geworfen? Warum muss ich gerade heute mein Rückgrat und meine aufbrausende Seite entdecken?

Wieso, weshalb, warum, wer nicht fragt, bleibt dumm.

Nein, ich singe nicht den Titelsong der Sesamstraße. Antworten auf meine, zugegeben, hypothetisch-rhetorischen Fragen hätte ich dennoch gern. Allerdings weiß ich aus Erfahrung, dass es Fragen gibt, auf die man einfach keine Antwort bekommt, so gern man sie auch hätte. Aus einem verqueren Blickwinkel kann man diese Nicht-Antwort wahrscheinlich auch als Form von Antwort ansehen, allerdings hilft mir das auch nicht weiter.

Jetzt, da mein Adrenalinspiegel sinkt, nehme ich abermals die in meinem Körper steckende Müdigkeit und den seltsam löchrigen Zustand meines Nervenkostüms wahr. Etwas läuft entschieden falsch. Schon wieder. Oder viel mehr, immer noch. Ich weiß nicht was das Ganze soll, aber wenn es nach mir geht, kann ich gut und gerne darauf verzichten. Weder habe ich Bedarf an schlaflosen Nächten, noch an einem Nachbarn, der ungefragt mein Zuhause stürmt – immerhin war ich zuerst da.

In einem kleinen Teich von Selbstmitleid und Scham paddelnd, überlege ich, ob ich zum Kiosk fahren, mir eine Zeitung kaufen und die Anzeigen für Mietwohnungen durchforsten soll. Nur für den Fall, dass das Zusammenleben mit meinem neuen Nachbarn weitergeht, wie es begonnen hat.

Allerdings muss ich das ja nicht sofort tun. Jetzt gleich will ich mich unbedingt noch mal in mein Bett kriechen – oder vielmehr will ich mich darin verkriechen.

Auf dem Weg ins Schlafzimmer schnappe ich mir aus dem Bad ein Stück Klopapier, knülle es zu zwei Stöpseln zusammen und stopfe sie mir in die Ohren. Etwas Besseres zur Lärmdämmung habe ich leider nicht parat. Konnte ja niemand ahnen, dass heute ein Mann mit schokobraunen Augen samt Hausstand und Gefolge anrückt. Gut, wer einen Blick aufs schwarze Brett geworfen hat, konnte es nicht nur ahnen, sondern vielmehr fest damit rechnen. Das ist ohne Frage der Grund, warum sich niemand der übrigen Hausbewohner am Lärm gestört hat.

Der Philosoph Francis Bacon hatte schon recht, geht es mir durch den Kopf, als ich die Bettdecke über mich ziehe. Wissen ist tatsächlich Macht. Und, wie ich ergänze, obendrein von enormem Vorteil, wenn man sich nicht zur rosa Kitty machen will.

Fühl, was du fühlst

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