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5 – Anders als geplant

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Sonntagabend.

Eigentlich hatte ich ja geplant ein paar Einkäufe zu erledigen, doch die Scham meinem neuen Nachbarn oder einem seiner Helfer über den Weg zu laufen, ist größer gewesen als das Verlangen nach etwas Essbarem im Kühlschrank. Bei meinem derzeitigen Glück wäre ich ihm gewiss kaum, dass ich einen Fuß vor die Tür gesetzt habe, in die Arme gelaufen – und darauf hatte ich schlicht und einfach keine Lust.

Das mit dem geplanten Faulenzen hat sich ebenfalls zerstreut. Gestern noch auf Nichts-Tun eingestellt, hat mich plötzlich der gegenteilige Drang überkommen. Ich wollte etwas tun, und zwar so richtig, mit körperlichem Einsatz, jeder Menge Schweiß und sichtbaren Ergebnissen. So kam es, dass ich begleitet von lauter Musik (Fall Out Boy habe ich schon viel zu lange nicht mehr gehört) meiner Wohnung den Säuberungskampf angesagt, das gesamte Badezimmer geschrubbt, sämtliche Armaturen entkalkt und meinen Kühlschrank einmal komplett Grundgereinigt habe. Zumindest in dieser Hinsicht hat sich der spärlich gefüllte Innenraum als vorteilhaft erwiesen. Wäre meine Mutter hier gewesen, hätte sie gewiss ihre Lebensweisheit an den Mann gebracht: Alles ist für irgendetwas gut.

Geschafft aber zufrieden, sitze ich nun auf dem Sofa und sehe mir eine der x-ten Wiederholungen von Grey´s Anatomy an, als sich ein Schrillen unter die Stimmen der Schauspieler mischt. Nicht das meines Telefons, sondern das der Klingel, wie mir nach einem Augenblick bewusst wird.

Da ich niemanden erwarte und außerdem nicht scharf auf Besuch bin, beschließe ich kurzerhand das Läuten zu ignorieren. Wer immer etwas von mir will: Sollte es wichtig sein, wird er wiederkommen oder es über einen anderen Weg versuchen.

Als es nochmals läutet und einen Augenblick später wieder, ruckle ich genervt auf dem Sofa herum und fange an, mich zu ärgern. Wieso geht, wer auch immer da klingelt, nicht einfach wieder weg und lässt mich in Ruhe? Das kann doch nicht so schwer sein? Ich könnte immerhin gerade in der Badewanne sitzen oder Spazieren sein.

Ich stelle die Lautstärke höher, um das nervige Schrillen zu übertönen und ein paar Sekunden darauf verstummt es tatsächlich, sodass ich mich in Gänze meiner Serie und einer Tüte Lakritz-Schnecken widmen kann.

Gerade als ich eine äußerst bequeme Position gefunden habe und das Kissen sich perfekt an meine Wange anschmiegt, ertönt ein Klopfen gegen Glas, das mich zusammenzucken lässt. Draußen, vor der Terrassentür, steht Alexander Koller.

Unwillkürlich werfe ich einen Blick an mir herunter. Dunkelblaue Jogginghose und eine graue Strickjacke, die ihre besten Zeiten schon hinter sich hat. Meine Haare sind wüst zusammengebunden, der Pony ist verstrubbelt und mein Gesicht strotzt nicht unbedingt von makellosem Teint. Keine Frage, ich bin schick genug für meine eigenen vier Wände, aber nicht für Besuch – schon gar nicht diesen.

Das scheint Alexander Koller jedoch keineswegs zu stören oder zum Rückzug zu bewegen. Abermals klopft er mit der Faust gegen das Fenster, dann formt er mit den Händen einen Trichter und schiebt sich näher an das Glas heran. Zweifelsohne, um besser durch die spiegelnde Scheibe spähen zu können.

Ich frage mich, wie viel er erkennen kann und was ich jetzt machen soll. Es widerstrebt mir – aus mehreren Gründen – die Tür aufzumachen, aber ihn ohne Reaktion dort stehenlassen, kann ich auch nicht. Die Situation ist ähnlich der von gestern Morgen. Wegrennen funktioniert ebenso wenig wie ignorieren.

Egal was Anne sagt, dass Alexander Koller hier eingezogen ist, ist alles, nur nicht die perfekte Vorlage für eine romantische Lovestory mit Happy End. Mich persönlich erinnert es mehr an eine subtile Form von Psychoterror, was jedoch auch an meiner verqueren Gefühlssituation liegen kann. So viel Melodramatik wie in den letzten sechsunddreißig Stunden lege ich üblicherweise nicht an den Tag. Ebenso werde ich innerhalb von sieben Tagen nicht von derart vielen Veränderungen überschwemmt. Dass ich heute eine Hose und Weste trage, sollte ich wohl dankend zur Kenntnis nehmen.

Mit einem inneren Seufzen stehe ich auf, gehe in ruhigen Schritten zur Tür, ziehe den purpurnen Fadenvorhang beiseite und schenke meinem Nachbarn ein mühsames Lächeln. Dann kippe ich den Griff nach unten, ziehe die Tür auf und postiere mich hinter dem Holzrahmen, sodass ich halbseitig verdeckt bin.

„Hallo.“

„Hallo“, erwidere ich den Gruß mit einem aufpolierten Lächeln. „Gibt es irgendein Problem?“

„Problem?“

„Na, weil Sie auf meiner Terrasse stehen.“ Ich kann nicht verhindern, dass ich die Brauen zusammenziehe. Wenn er hier ist, um sich über mich lustig zu machen, kann er gleich wieder verschwinden. Eigentlich kann er auch so verschwinden. Was will er nur von mir? Ich verlagere das Gewicht auf den anderen Fuß.

„Ach so, nein, alles in bester Ordnung. Ich dachte nur, ich versuche es mal hinterm Haus, weil ich mir sicher war, dass Sie Zuhause sind.“

„Ich habe die Klingel nicht gehört.“

Mein Gegenüber legt den Kopf schief, um die Augen bilden sich kleine Fältchen. „Ich habe nicht gesagt, dass ich geklingelt habe.“

Als mir mein Fehler bewusst wird, räuspere ich mich verlegen. Verdammter Mist, verdammter.

„Halb so wild. Wenn ich den Fernseher laufen habe, höre ich es auch oft nicht, wenn jemand anruft oder vor der Haustür steht.“

Versucht er mir gerade aus der Klemme zu helfen?

Aus Richtung meines Fernsehers ist ein energisches Wortgefecht zu hören, woraufhin mein frisch gebackener Nachbar neugierig die Ohren spitzt.

„Ähm“, ich werfe einen raschen Blick auf die Mattscheibe. „Ich war noch auf der Suche nach dem richtigen Sender.“

Alexander Koller beugt sich mit dem Oberkörper ins Zimmer, späht zum Fernseher und feixt. „Mit Cristina Yang würde ich mich auch nicht anlegen wollen.“

Ich stutze.

„Meine Schwester hat ihre Vorliebe für die Serie oft genug mit mir geteilt – oder mich damit gefoltert. Je nachdem, wie man es nennen will. Auf jeden Fall bin ich ziemlich gut ins Bild gesetzt, was den Greyschen Kosmos angeht. Die fundamentale Frage lautet demnach McDreamy oder McSexy?“

Ich sehe ihn mit großen Augen an, er sieht mich mit großen Augen an. Wartet er allen Ernstes auf eine Antwort?

„Unentschieden, denke ich.“

„Und da heißt es immer, Frauen könnten sich nicht entscheiden.“ Alexander Koller schmunzelt. „Aber, um fair zu bleiben, es gibt schlimmere Serien. Die hier hat wenigstens spritzige Dialoge und starke Charaktere.“

Ich bin positiv überrascht, schenke ihm ein ehrliches, wenn auch nur angedeutetes Lächeln, dann besinne ich mich wieder auf das Wesentliche. „Was wollten Sie denn nun von mir?“

„T'schuldigung“, entgegnet er und kratzt sich an der Wange. „Ich habe Talent vom eigentlichen Thema abzukommen. Ich wollte Sie für Freitagabend zu mir einladen, als Entschuldigung dafür, dass ich Sie gestern aus dem Bett geworfen habe – und zum Kennenlernen. Immerhin wohnen wir von jetzt an quasi Tür an Tür.“

Noch jemand, der sich aufgerufen fühlt das Offensichtliche auszusprechen. Vielleicht würde er besser zu Anne passen als zu mir. Erst einen Moment später, zeitversetzt sozusagen, habe ich verarbeitet, was er außerdem gesagt hat.

„Ähm, ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist.“ Ich kann hören, wie unbeholfen meine Stimme klingt, was nicht bedeutet, dass ich etwas daran ändern kann. „Wir kennen uns genaugenommen überhaupt nicht und eigentlich habe ich überhaupt keine Zeit. Sie müssen nichts gutmachen, falls es darum geht – immerhin habe ich nicht nur eingesteckt, sondern auch ausgeteilt.“ Ich suche nach den richtigen Worten, was mir leichter fallen würde, wenn ich wüsste, was an diesem Punkt unserer Unterhaltung die richtigen Worte wären. Damit habe ich nun gar nicht gerechnet.

Alexander Koller stützt sich mit dem rechten Arm am Türrahmen – meinem Türrahmen! – ab und mustert mich leicht irritiert, ehe sich schließlich ein Ausdruck des Verstehens auf seinem Gesicht ausbreitet.

„Tut mir leid, das war gemein von mir. Ich hab Sie ja quasi ins offene Messer laufen lassen. Ich gebe Freitag ab zwanzig Uhr eine kleine Einweihungsparty für meine Umzugshelfer und ein paar Freunde. Da die nicht unbedingt leise wird, trifft es sich gut, wenn die Hausbewohner auch da sind. Außerdem müsste ich kein schlechtes Gewissen haben, weil ich Ihnen schon wieder den Schlaf raube.“

Langsam frage ich mich, ob ich, ohne es zu wissen, ein Abo der Peinlichkeiten abgeschlossen habe. Quasi ein Garant für Fettnäpfchen jeder Art, insbesondere was das Aufeinandertreffen mit meinem neuen Nachbarn angeht. Daran sind ohne Frage Margarete und Anne mit ihrem Gerede über Dates und Love Next Door schuld. Gut, mein Hello Kitty Bademantel ist auch nicht ganz unbedeutend.

„Wie sieht es aus? Zeit und Lust?“

„Diesen Freitagabend?“, wiederhole ich, um meine Verlegenheit zu überspielen und Zeit zu gewinnen. „Ich weiß noch nicht, ob ich da kann. Eine Freundin und ich hatten vor Essen und danach ins Kino zu gehen.“ Notlüge, gute Idee.

Alexander Koller denkt nicht mal eine Sekunde nach, ebenso wie er nicht einen Augenblick lang zögert. „Sie kann gerne mitkommen. Restaurant und Kino laufen nicht weg, meine Party dagegen schon. Ist ohnehin lustiger, je mehr wir sind.“

„Das ist wirklich … nett.“ Wieso muss er in der Tat nett sein, so, wie Annes es vorausgesagt hat? Ich hasse es, wenn sie recht behält, weil sie nicht müde wird, einem das unter die Nase zu reiben. Ich hätte ihn vor verschlossener Tür stehenlassen sollen, Höflichkeit hin oder her. „Ich werde meine Freundin fragen, ob sie einverstanden ist oder ob ihr das zu viel Trubel ist. Sie ist nämlich schwanger.“

„Tatsächlich?“ Seine Miene wirkt einen kurzen Augenblick lang verschlossen und unergründlich. „Im wievielten Monat ist sie denn?“

„Sie hat etwas vom fünften oder sechsten Monat gesagt.“ So viel zu einer Lüge, von der Not mal abgesehen.

„Eine Hausparty mit Musik sollte weder ihr noch dem Baby schaden. Sie können ihr ausrichten, dass wir keine wilde Orgie zelebrieren, es Saft und Wasser und auch etwas zu Essen gibt. Die Chance auf ein bisschen Spaß sollte sie auf jeden Fall nutzen so lange sie kann. Sobald der Nachwuchs da ist, wird für Derartiges erst mal wenig Zeit bleiben.“

Man könnte fast meinen, er spricht aus Erfahrung. Allerdings kann ich das nicht recht glauben. Ich denke vielmehr, dass er sich nur aufspielt und keinen blassen Schimmer hat, wie das Leben mit Baby aussieht. Gut, ich habe auch keine Ahnung davon, aber ich bin immerhin Annes Freundin und kann mir, im Gegensatz zu ihm, überhebliche Aussagen erlauben.

Als ich ihm antworte, kann ich nicht verhindern, dass meine Stimme eine Spur kühler und distanzierter klingt, was ich jedoch als positiv empfinde, da ich mich zugleich selbstbewusster und schlagfertiger fühle. „Ich werde sie fragen.“

„Okay“, Alexander Koller nickt unbeeindruckt, immer noch ein lockeres Lächeln auf den Lippen. „Dann will ich gar nicht länger stören.“

Ich nicke ebenfalls und will gerade die Tür schließen, als er die Hand hebt und mich daran hindert.

„Ach ja, da ist doch noch was. Wie wäre es, wenn wir die Förmlichkeiten sein lassen? Das wirkt inzwischen ziemlich fehl am Platz, finde ich, und spätestens Freitag ist es auf jeden Fall überflüssig. Warum also nicht gleich abschaffen? Ich bin Alexander, gern auch Alex.“

Ich mühe mir ein unbefangenes Lächeln ab, weil ich nicht weiß, ob ich mich über die abermalige Annäherung freuen soll oder nicht. „Sie können mich gern Hannah nennen.“

„Du kannst mich gerne Hannah nennen“, sagt Alexander Koller alias Alexander alias Alex mit einem Lächeln auf den Lippen.

Ich blicke ihn irritiert an.

„Nachdem wir uns gerade darauf geeinigt haben die Förmlichkeiten sein zu lassen, macht es wohl kaum noch Sinn, uns zu siezen.“

„Ja, das … stimmt.“

„Du gewöhnst dich schon noch dran. Freitagabend hast du ausreichend Zeit es dir einzuprägen.“

„Sofern ich komme. Also, kommen kann. Wegen meiner Freundin.“

Ein – für meinen Geschmack zu sehr wissendes – Grinsen legt sich auf Alexander Kollers Lippen. „Ich wünsch dir noch einen schönen Abend, Hannah.“

Die Art und Weise, wie er meinen Namen ausspricht, bringt mich kurz aus dem Gleichgewicht. Nicht äußerlich, sondern innerlich, sodass ich mir fast wünsche, er würde meinen Namen nochmals auszusprechen. Allerdings währt dieser Fast-Wunsch nur einen Sekundenbruchteil, weil ich bereits im nächsten Moment meine Balance wieder gefunden habe und mich frustriert frage, ob wir je ein normales Nachbarschaftsverhältnis aufbauen oder ich mich ihm gegenüber für immer wie ein Schulkind fühlen werde, dass sich einen Fauxpas geleistet hat.

„Danke, du auch.“

Er bedenkt mich mit einem letzten Lächeln. „Ich würde mich wirklich freuen, wenn du kommst. Egal ob mit oder ohne Begleitung.“

*

*

*

„Wieso hast du denn das gesagt?“

Nachdem ich den Montagvormittag mit dem Setzen einiger Artikel und der Suche passender Bilddateien verbracht habe und der Zeiger der Uhr auf kurz nach halb eins gewandert ist, habe ich Annes Büronummer gewählt, um ihr von der Einladung zu erzählen, die nach meiner kleinen Notlüge auch sie einschließt. Natürlich habe ich nicht erwartet, dass sie meine Geschichte kommentarlos zur Kenntnis nimmt. Gehofft habe ich es trotzdem.

„Ich weiß auch nicht, ich habe irgendwie …“, ich suche nach dem richtigen Wort, „Panik bekommen.“ Wohl etwas übertrieben. „Ich hatte nicht vor, ihn so schnell wiederzusehen oder mich mit ihm unterhalten zu müssen. Dass er vor meinem Wohnzimmer steht und mich zu sich einlädt, war nicht abgesprochen. Wenn es nach mir geht, muss ich nicht unbedingt ein inniges Verhältnis zu ihm aufbauen. Mit den anderen Bewohnern habe ich schließlich auch keines - was vollkommen in Ordnung ist. Mein Plan auf ihn bezogen ging mehr in Richtung Gras über die Sache wachsen lassen.“

„Die anderen Bewohner sind aber auch nicht in deinem Alter – oder Single.“

„Ich weiß nicht, ob er Single ist!“, entgegne ich mit Nachdruck.

„Er ist allein eingezogen, oder?“

„Vielleicht ist seine Freundin Model und wohnt in Mailand oder New York und sie sehen sich nur alle paar Monate, wenn sie nach Deutschland kommt oder er sie besucht.“

„Die Wahrscheinlichkeit, dass du Recht hast, ist gleich null“, entgegnet Anne trocken. „Dass du glaubst, er könnte ein Model zur Freundin haben, verrät mir allerdings mehr über sein Äußeres, als du mir bisher gesagt hast.“

„Der Ansicht bin ich nicht“, übergehe ich ihren Einwurf, „aber wir können ja Freitag weiterdiskutieren, wie man die Wahrscheinlichkeit mathematisch richtig ausdrückt. Wäre das ein fairer Deal?“

„Ich kann Freitagabend nicht.“

„Warum nicht? Was ist am Freitag?“

„Thomas und ich sind mit Silvia und Jan verabredet. Wir haben Musicalkarten und fahren nach Stuttgart, das ist schon seit Weihnachten ausgemacht.“

„Und was soll ich jetzt machen?“

„Sag einfach, dass ich keine Lust hatte, euch aber viel Spaß gewünscht habe.“

„Anne!“, empöre ich mich.

„Was denn? Von mir aus sag, dass ich krank geworden bin, wenn dir das lieber ist.“

„Aber dann muss ich ja trotzdem hingehen und das will ich ja gar nicht. Deswegen habe ich doch überhaupt gesagt, dass ich schon mit dir verabredet bin.“

„Wenn du nicht hingehen willst, warum hast du ihm das dann nicht einfach gesagt?“

„Klar, ich sage ihm direkt ins Gesicht, dass mir nicht der Sinn danach steht, zu seiner Party zu gehen. Das wäre bestimmt taktvoller gewesen und er hätte auch ganz bestimmt nicht gefragt, warum ich nicht kommen will.“

„Eine berechtigte Frage. Warum sträubst du dich so davor, hinzugehen?“

Ich sauge einen großen Schwung Luft ein. Sollte Anne mir nicht den Rücken stärken und sich mit mir zusammen eine Lösung überlegen, die mich aus der Zwickmühle herausbringt? Es kommt mir fast so vor, als stünde sie auf Alexander Kollers Seite.

„Ich weiß nicht, warum ich unbedingt hingehen sollte. Bist du mit jedem deiner Nachbarn per Du? Verspürst du das Bedürfnis, jeden von ihnen näher zu kennen? Willst du wissen, wie es in seiner Wohnung aussieht und was er im Kühlschrank hat? Manches sollte man gar nicht wissen, glaub mir.“

„Langsam fange ich an, mir Sorgen um dich zu machen. Wenn du mich fragst, gibt es einen ziemlich guten Grund, warum du hingehen solltest. Nämlich den, dass dein letzter Männerkontakt – davon sind dein Vater, der Freund deiner Schwester, Thomas und deine Arbeitskollegen ausgeschlossen“, schiebt sie ein, „Ewigkeiten her ist und dir das keinesfalls schaden würde. Jetzt mal im Ernst, wie lange ist es her, dass du mit einem Mann – und damit meine ich richtig – zusammen warst?“

Ich weiß sofort auf was sie anspielt, bekomme einen Satz heiße Ohren und blicke mich unwillkürlich im Büro um, das derzeit nur spärlich besetzt ist. „Das tut doch jetzt überhaupt nichts zur Sache. Wäre mir nach einem Mann gewesen, hätte ich mir einen gesucht, aber ich bin nicht scharf auf eine Beziehung. Und dass ich nicht auf One-Night-Stands stehe, weißt du. Ich war und bin glücklich mit meinem Leben, so, wie es ist. Ich brauche keinen Mann – oder gewisse andere Dinge. Frau kann sich auch anderweitig behelfen.“

Es vergeht ein Moment, ehe Anne etwas erwidert. „Ich denke, dass du das inzwischen wirklich glaubst.“

„Was? Dass Frauen“, ich senke die Stimme ein paar Nuancen, „auch allein auf ihre Kosten kommen können? Warst du nicht diejenige, die–“

„Nein, das funktioniert bestens“, kommt mir Anne kichernd zuvor. „Ich meine, dass du keinen Mann in deinem Leben brauchst – oder willst.“

„Das glaube ich nicht nur, es ist so.“

Stille in der Leitung. Zumindest für ein paar Sekunden.

„Und wenn du nur kurz vorbeischaust? Eine Stunde vielleicht, die kriegst du doch rum? Dann wärst du da gewesen und er könnte nicht meckern.“

Ich gebe ein Brummen von mir.

„Du kannst ja sagen, dass du kurzfristig noch etwas für die Arbeit erledigen musst. Etwas, das ganz dringend ist und nicht warten kann. Eine Druckfreigabe oder so was in der Richtung beispielsweise“, schwenkt Anne versöhnend die weiße Flagge.

„Das wäre eine Möglichkeit, auch, wenn es trotzdem wenig glaubhaft klingt“, entgegne ich, während ich mir vorstelle, dass meine Chefin auf die Idee kommt mich Freitagabend zu stören. „Ich muss mir das Ganze noch mal in Ruhe durch den Kopf gehen lassen.“

„Warts nur ab, am Ende bist du mir dankbar, weil ich dich überredet habe und du festgestellt hast, dass Alexander Koller ein potenzieller Traummannkandidat ist.“

„Wir werden sehen.“ Ich habe nicht vor, mich nochmals auf eine Diskussion mit ihr einzulassen. „Trotzdem Danke.“

„Okay, ich muss dann auch los, weil ich noch was essen will, ehe die Pause vorbei ist. Wenn was ist, du kannst mich jederzeit anrufen.“

„Danke. Und falls wir uns nicht mehr hören, viel Spaß im Musical.“

Als ich auflege, verpufft die letzte Hoffnung ohne Blessuren aus meiner Notlüge herauszukommen und mit Unterstützung auf der Party aufzukreuzen – sofern ich mich entscheide, hinzugehen. Stattdessen bleibt ein Gefühl zurück, als hätte Anne mich gerade gerügt oder hätte versucht, mich zu rügen, weil ich einfach nicht sehe, was ich sehen sollte.

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