Читать книгу Treasure Love - Sandra Pollmeier - Страница 7
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ОглавлениеWas wollte er? Mein Gefühlschaos trieb mich noch an den Rand eines Nervenzusammenbruchs. Von über-alle-Maßen-glücklich bis zutiefst-wütend war alles dabei. Wie schön, ihn endlich wiederzusehen … Wie dreist von ihm, ohne Vorwarnung aus dem Nichts aufzutauchen … Wie merkwürdig … wie … Das Schlimmste war, dass ich niemanden hatte, mit dem ich mich über meine wirren Gedanken unterhalten konnte.
Ja, es ließ sich nicht leugnen, dass ich immer noch Gefühle für Ben hatte. Das, was ihn und mich einmal miteinander verbunden hatte, ging über normale geschwisterliche Zuneigung weit hinaus. Genau genommen waren wir auch keine Geschwister, auch wenn es so in unserem Familienstammbuch stand. Zumindest hatte Papas Bruder Michael das behauptet. Er hatte Ben erzählt, dass dieser nur das Resultat eines Seitensprungs seiner Mutter, Papas erster Ehefrau, gewesen war. Mit diesem Wissen hatte er versucht, Ben zu erpressen. Aber hatte Onkel Michael wirklich die Wahrheit gesagt? Genau wussten wir das nicht.
Meine Freundin Stella besuchte für mehrere Monate ihren neuen Freund in Australien, und Marvin, ihr Bruder und ebenfalls mein Freund, war mit seiner Familie über Weihnachten zu seinen Großeltern nach München gefahren. Natürlich hatten sie mir angeboten mitzukommen, aber bereits in den vergangenen zwei Jahren hatte ich mich wie ein Fremdkörper bei ihnen gefühlt. Bei Stella zu wohnen, war das eine gewesen. Aber mal abgesehen von ihren Eltern kannte ich ihre übrige Verwandtschaft kaum. Und es entging mir nicht, wie sie oft betreten schwiegen, wenn ich einen Raum betrat. …Armes Kind … Keine Eltern mehr … Keine anderen Verwandten … Und der einzige Bruder lässt sie im Stich … So oder ähnlich hatten sie sicher getuschelt. Das brauchte ich nicht wirklich. Nichts konnte ich weniger ertragen als das Mitleid anderer Leute. Daher hatte ich in diesem Jahr beschlossen, die Feiertage allein zu verbringen. Noahs Einladung zum Weihnachtsball kam mir da ganz gelegen, doch sie war nur ein Vorwand. Eigentlich hatte ich auch auf dieses Ereignis nicht wirklich Lust. Zumal dieser Ball die „Beziehung“ zwischen uns wesentlich vertiefen würde. Zum ersten Mal, nachdem wir uns schon über acht Monate regelmäßig trafen, würde Noah mich offiziell seinen Freunden und Kollegen vorstellen. Das war ein großer Schritt. Er zeigte sich mit mir in der Öffentlichkeit - und das obwohl er sicher von manchen Kollegen mit spöttischen Blicken gestraft werden würde. Ein 31-jähriger Uni-Dozent mit Doktortitel, der mit einer 19-jährigen Studentin im dritten Semester liiert war, das wirkte auf Außenstehende sicher befremdlich. Und ehrlich gesagt fand selbst ich diese Tatsache eigenartig. Vielleicht hatte es Noah imponiert, wie verbissen ich mich in meine Arbeit gestürzt hatte. Da war dieses uralte Tagebuch, das Ben und ich auf den Seychellen gefunden hatten, welches ich jedoch zunächst kaum hatte entziffern können. Es war abgegriffen, verblasst und zum Teil unleserlich geschrieben, noch dazu in altertümlichem Französisch verfasst, gespickt mit Redewendungen und Andeutungen, die mir fremd waren. Doch als Ben fort war, brauchte ich ein Ziel, etwas, auf das ich hinarbeiten konnte; etwas, das mich aus meinen melancholischen Gedanken riss. Also begann ich, das Buch zu übersetzen, Wort für Wort, Zeile für Zeile. Manchmal trieb es mich an den Rand des Wahnsinns, weil ich partout nicht weiterkam. Dann, ganz plötzlich, tat sich doch wieder etwas, ich entzifferte ein schwieriges Wort und auf einmal erschlossen sich mir ganze Sätze und völlig neue Zusammenhänge. Das Buch war wie eine geheime Welt, die ich nach und nach eroberte, in der hinter jeder Ecke spannende und faszinierende Entdeckungen auf mich warteten.
In den zwei Jahren, in denen ich mich mit der Übersetzung befasste, hatte ich mittlerweile ungefähr drei Viertel der über 200 handgeschriebenen Seiten entziffern können. Ein paar Seiten schienen in der Mitte zu fehlen und an drei Stellen hatte ich entnervt aufgegeben, die Einträge zu Ende zu übersetzen, da die Schrift einfach nicht mehr lesbar war; aber immerhin ergab sich für mich inzwischen ein sehr schlüssiges Gesamtkonzept.
Das Buch umfasste einen Zeitraum von April 1728 bis Juli 1731 und war von einer gewissen Madelaine Dubois geschrieben worden. Zu Beginn ihrer Aufzeichnungen war die Französin 17 Jahre alt gewesen. Sie erzählte von der spannenden Überfahrt von Frankreich nach Madagaskar und später zu der Kolonialinsel La Réunion, auf der ihr Vater als Admiral einen Außenposten der französischen Flotte befehligte. Die junge Frau begeisterte sich für die Natur und die Menschen in ihrer Umgebung, erstellte viele Skizzen und dokumentierte Beobachtungen – so detailliert, dass man fast glaubte, die Dinge direkt vor Augen zu haben, die sie beschrieb.
Doch eines Tages änderten sich ihre Einträge. Bei ihren Erkundungstouren auf der Insel hatte sie jemanden kennengelernt, der ihr nicht mehr aus dem Kopf ging. Der Mann hieß Luis Le Vasseur. Bald trafen sie sich an geheimen Orten, schrieben sich heimliche Briefe und verliebten sich ineinander. Aber Luis war nicht der standesgemäße Umgang für die gutbürgerliche Madelaine und so kam es, wie es kommen musste: Die Romanze flog auf und die beiden wurden getrennt. Madelaine fiel in eine tiefe Depression. Doch was noch schlimmer war – sie war schwanger. Ein absolutes Tabu für die Zeit, in der sie lebte. Das Mädchen wurde von ihrer Familie von der Außenwelt abgeschottet und bekam ihr Kind ohne, dass irgendjemand es mitbekam. Nur ihrer besten Freundin Victoria Stevens konnte sie sich anvertrauen.
Victoria Stevens. Stevens. So wie auch mein Nachname lautete. Ich wusste, dass Madelaines Tagebuch der Schlüssel zu meiner Vergangenheit war. Nur wie genau, das wusste ich nicht. Noch nicht.
In all der Zeit hatte Noah mich beobachtet. Ihm war aufgefallen, dass ich nach meinen Vorlesungen oft noch stundenlang in der Bibliothek saß, um an der Übersetzung des Tagebuchs zu arbeiten. Vielleicht hatte es ihm imponiert, dass ich so wissensdurstig war und meine Freizeit lieber in dunklen und muffigen Universitätsgebäuden als mit Freunden in schattigen Biergärten verbrachte. Zumindest hatte er mich irgendwann angesprochen und nach dem Buch gefragt. Und weil ich mich gerade verzweifelt an einer sehr schwierigen Stelle abmühte, hatte Noah mir seine Hilfe angeboten. Und siehe da – wir kamen weiter. Dank seiner Kenntnisse in der Franco-Romanistik gelang die Übersetzung fast doppelt so schnell wie zuvor. Ich blühte auf und war glücklich, dass ich endlich vorankam.
Aus einer Arbeitsgemeinschaft und einem gemeinsamen Interesse wurde schließlich mehr, so dass wir uns nach einigen Wochen auch einfach nur zum Essen oder Spazierengehen verabredeten. Doch obwohl ich Noah mochte und ihm vertraute, belog ich ihn, was die Herkunft des Tagebuchs anging. Statt ihm von unserer Schatzsuche auf den Seychellen zu erzählen, erklärte ich ihm, dass das Buch aus dem Nachlass meines Großvaters stammte und es daher auch nicht für mich in Frage kam, es zu verkaufen oder an ein Museum zu übergeben.
Unsere Beziehung wuchs langsam, aber stetig. Zunächst fiel es mir schwer, körperliche Nähe zuzulassen. Zu sehr hatte Ben sich in meinen Gedanken verankert. Doch dann wurde mir klar, dass die Beziehung zu Noah in die Brüche gehen würde, wenn ich ihn immer wieder zurückwies. Also überwand ich meine Hemmungen und stellte fest, dass es gut tat loszulassen. Ich konnte schließlich nicht mein ganzes Leben damit verbringen, einem flüchtigen Moment in meiner Vergangenheit hinterher zu trauern; und einem Menschen, der schon so lange fort war, dass ich mir manchmal gar nicht mehr sicher war, ob er tatsächlich real existiert hatte.
Doch jetzt war er plötzlich wieder da. Wie aus dem Nichts. Wie ein Geist, der mich in eine Welt zurück katapultierte, die ich lange weggesperrt hatte.
Ich sollte nichts mehr für ihn fühlen, verdammt!
„Park Hyatt Hotel Hamburg, Thomas Stern, was kann ich für Sie tun?“
Die Stimme am anderen Ende der Leitung klang routiniert und ein wenig gelangweilt.
Mein Hals fühlte sich trocken und kratzig an und ich musste mich räuspern, bevor ich antworten konnte.
„Sofia Stevens hier, guten Tag. Ich wollte fragen, ob Sie mich mit Herrn Benjamin Stevens verbinden können.“
„Zimmernummer?“
„409“
„Einen Moment bitte.“
Ich wartete, doch die Sekunden vergingen für mich wie Minuten. Mein Herz pochte mir bis in den Hals.
„Frau Stevens?“
„Ja?“
„Ich habe es versucht, aber Herr Stevens scheint nicht auf seinem Zimmer zu sein. Zumindest nimmt er nicht ab. Soll ich ihm eine Nachricht hinterlassen?“
„Ja… ähm… sagen Sie ihm bitte, er soll mich zurückrufen, wenn Sie ihn sehen. Meine Nummer haben Sie ja jetzt.“
„Ich werde es ausrichten.“
„Vielen Dank.“
Instinktiv wusste ich, dass ich den Nachmittag vergeblich darauf warten würde, dass Ben sich meldete. Ich würde auf ihn warten, mit rasendem Puls und zitternden Händen, und stundenlang aufs Telefon starren und es würde nichts nutzen. Das war wohl mein Schicksal – mein ganzes Leben lang auf etwas zu hoffen, dass doch nie eintreten würde. Vielleicht würde er nicht einmal heute Abend erscheinen. Aber auf der anderen Seite hatte ich ja noch etwas, das er brauchte – unser Stammbuch.
Schulterzuckend nahm ich das Kleid aus dem Schrank, das ich heute Abend anziehen wollte. Stella hatte es mir geschenkt, weil sie meinte, ich solle bei den alten Herrschaften auf dem Uni-Ball ruhig einmal ein bisschen Aufsehen erregen. Für meinen Geschmack war es etwas zu freizügig und ich hatte es eigentlich gar nicht annehmen wollen, doch jetzt hatte ich mich spontan umentschieden. Sollte Ben ruhig sehen, was ihm in den letzten zweieinhalb Jahren entgangen war! Ich würde ihm zeigen, dass aus mir eine reife, erwachsene Frau geworden war, die mit beiden Beinen im Leben stand. Siegessicher lächelte ich meinem Spiegelbild entgegen. Genau! Erwachsen – emanzipiert – selbstsicher. Kein schutzbedürftiges, unsicheres, unerfahrenes, tollpatschiges 17-jähriges Mädchen mehr… Mit einem entschlossenen Ruck zog ich den Reißverschluss meines kirschroten, rückenfreien, bodenlangen Ballkleids zu. Mist! Das war etwas zu entschlossen gewesen. Irgendwo unterhalb der Taille hatte sich der Reißverschluss im Innenfutter verhakt. Jetzt ging er weder vor noch zurück. Und ausziehen konnte ich das Kleid auch nicht mehr, dafür war es zu eng um die Hüften. Alles Ziehen und Zerren half nichts. Mist! Ich würde das Kleid ruinieren, wenn ich keine andere Lösung fand. Mit einem Fuß in meinen neuen 9-Zentimeter-Absatz-Riemchen-High-Heels und dem anderen in meinem abgetragenen Filzpantoffel humpelte ich in die Küche, um nach irgendeinem Hilfsmittel zu suchen. Kaum dort angekommen, klingelte es an der Haustür. Verdammt! Wer zur Hölle konnte das sein? Stella und Milla – meine andere Mitbewohnerin – waren über die Feiertage nach Hause gefahren und der Postbote hatte schon heute Morgen die letzten Weihnachtskarten vorbeigebracht. Vielleicht doch noch das Päckchen mit den Winterboots, die ich mir vergangene Woche bestellt hatte? Damit ich den Kurier nicht total verschreckte, warf ich mir schnell meine alte Strickjacke über, humpelte zur Wohnungstür und drückte auf den Türöffner.
„Hallo?“ Verlegen lugte ich durch die Tür und versuchte meinen einen High Heel ungelenk hinter der Wohnungstür zu verstecken. Doch wer da die Treppe hochstapfte, war nicht der Paketbote. Es war Ben.
„Hi“, begrüßte er mich verlegen und mir schoss sogleich das Blut in die Wangen. „Ich war gerade in der Gegend und… darf ich reinkommen?“
Damit hatte ich nun wirklich nicht gerechnet. „K-Klar…“, stotterte ich und fuhr mir hilflos mit der rechten Hand durch meine zerzausten, noch nicht frisierten Haare. Das war´s dann wohl mit meinem perfekten Auftritt! Ich humpelte zur Seite und ließ Ben zerknirscht eintreten. Als sein erstaunter Blick an meinem schief sitzenden Ballkleid, der schlabberigen Strickjacke und meiner außergewöhnlichen Fußbekleidung entlangstreifte, wäre ich am liebsten im Boden versunken. „Sag´ nichts!“, stoppte ich ihn, bevor er einen wenig schmeichelhaften Kommentar dazu ablassen konnte.
„Ähm… ist es denn schon so spät?“, fragte Ben stattdessen. „Ich dachte der Ball beginnt erst um acht.“
„Ich wollte das Kleid nur nochmal anprobieren… und jetzt sitzt es fest…“, antwortete ich zerknirscht. Warum nur kam mir diese peinliche Situation so seltsam bekannt vor?
Ich humpelte vor in die Küche und schob Ben einen Stuhl am Esstisch zur Seite. „Setz dich doch. Und – ähm, möchtest du etwas trinken? Vielleicht einen Kaffee?“
Unglaublich. So lange hatte ich darüber nachgedacht, ob und wie ich ihn eines Tages wiedersehen würde. Irgendwie hatte ich mir das Ganze doch etwas anders vorgestellt.
Nervös suchte ich im Küchenschrank nach dem Kaffeepulver, verschüttete dabei aber nur eine halb volle Packung Zucker, die mir plötzlich entgegengeflogen kam.
„Warte“, unterbrach mich Ben mit freundlicher Stimme. „Ist gut, ich brauche nichts zu trinken. Ich wollte nur allein mit dir reden. Es dauert auch nicht lange. Alles gut.“
Alles gut? Es dauert nicht lange? Das war nicht gut! Man konnte doch nicht zweieinhalb Jahre auf einen Menschen warten, der dann so mir nichts, dir nichts einfach wieder verschwand! Das konnte nicht sein Ernst sein!
Mühsam hielt ich mich mit beiden Händen am Spülbecken fest und rang um Fassung. Es fiel mir alles andere als leicht, die coole, selbstbewusste Erwachsene zu mimen. Kaum stand mein vermeintlicher Halbbruder neben mir, war ich wieder 17. Unsichere, unerfahrene, schrecklich tollpatschige 17 Jahre alt.
„Moment. Vielleicht kann ich dir mit dem Kleid helfen. Darf ich mal?“
Mit einer lockeren Handbewegung streifte Ben die Strickjacke von meinen Schultern und griff vorsichtig von hinten in mein Kleid. Es war nur eine winzige Berührung, nur ein kurzer Ruck und er hatte den Reißverschluss aus dem Innenfutter befreit, doch ich zuckte unwillkürlich zusammen, als seine Finger meinen nackten Rücken streiften. Unfassbar, welche Macht er immer noch über mich hatte!
Beschämt hielt ich mein Kleid mit einer Hand vor der Brust fest, damit es mir nicht vom Körper rutschte, da es jetzt komplett offen war. Mit der anderen angelte ich ungelenk nach meinem Schuh, um das Riemchen, das mein Fußgelenk umschloss, zu lösen. Als ich ins Straucheln geriet, hielt Ben mich schnell fest und lächelte mir freundlich zu. „Lass mich das machen“, kommentierte er mein Gehampel und bückte sich, um meinen Schuh zu öffnen. Wie der Prinz vor Aschenputtel kniete er nieder und umfasste meinen Fuß, so dass meine Beine zu zittern begannen und ich mich hilflos gegen die Arbeitsfläche der Küchenzeile lehnen musste. „Dummes, dummes, kleines Mädchen!“ schoss es durch meinen Kopf, doch es nutzte nichts, ich spürte, dass ich ihm immer noch genauso verfallen war wie damals.
Als ich endlich befreit war, kam ich wieder zur Besinnung. „Ähm… ich zieh mich dann mal schnell um.“ Ich räusperte mich mit noch immer heiserem Unterton und huschte rückwärts in mein Zimmer, um mir in Windeseile Jeans und Pulli überzuwerfen.
„Reiß dich um Gottes Willen zusammen!“, beschwor ich mich, dann atmete ich einmal tief durch, um betont lässig zurück in die Küche zu gehen.
Da saß er nun, an meinem Küchentisch, und hatte sich mittlerweile selbst ein Glas Wasser eingeschüttet. Sein Blick hatte etwas Angespanntes, Schuldbewusstes an sich. Mit Sicherheit war er nicht gerne zurück nach Hamburg gekommen. Als er mich sah, lächelte er verlegen und schob einen der Küchenstühle für mich an die Seite. „Hey“, sagte er, „Tut mir leid, dass ich dich so überfalle. Ich weiß, das muss merkwürdig sein, mich nach dieser langen Zeit zu sehen. Aber ich verspreche dir, dass ich mich nicht weiter in dein Leben einmischen werde. Es geht nur um diese blöden Dokumente und ich gebe dir mein Wort, danach siehst du mich nie wieder.“
Als ob mich das beruhigen würde! Dachte er ernsthaft, dass ich froh wäre, ihn nie wieder zu sehen? Dachte er wirklich, dass ich ihn so gehen lassen würde?
„Ich habe nicht mehr daran geglaubt, dich noch einmal zu sehen“, sagte ich langsam und rang nach den richtigen Worten. „Aber lange Zeit warst du der erste Gedanke, der mir morgens nach dem Aufwachen in den Kopf kam und dann später der letzte, bevor ich endlich einschlafen konnte. Ständig habe ich mich gefragt, wo du wohl bist, ob es dir gut geht, ob du auch noch an mich denkst. Das macht einen auf Dauer echt wahnsinnig. Ich war so verletzt und habe lange gebraucht, um darüber hinwegzukommen, dass du mich einfach im Stich gelassen hast.“
„Sofia, bitte, ich…“ Ben sah mich gequält an, doch ich wollte nicht, dass er mich unterbrach.
„Lass mich zu Ende reden!“
Wieder musste ich mich räuspern, weil mein Hals sich wie zugeschnürt anfühlte. Das Atmen fiel mir immer schwerer. Nervös nahm ich einen herumliegenden Kugelschreiber und ließ ihn zwischen meinen Fingern kreisen.
„Wir haben so viel miteinander durchgemacht, ich habe sogar mein Leben für dich riskiert. Warum hast du mich damals auf den Seychellen alleine gelassen? Es hat so weh getan.“
Schuldbewusst blickte Ben zu Boden.
„Weil ich dachte, dass es das Beste für dich ist. Ich habe dir nur Probleme bereitet, dich nur in Gefahr gebracht. Das mit uns hätte doch nie gut gehen können. Aber es tut mir sehr leid, dass ich dich damit so verletzt habe.“
„Wenigstens hast du mich nicht in dem Glauben gelassen, dass du tot bist“, sagte ich mit einem Seufzen. „Danke, dass du mir das Buch aus dem Schiff in die Tasche gesteckt hast. Ich habe versucht, mich abzulenken, und habe begonnen, es zu übersetzen. Es ist eine unglaubliche Geschichte, Ben. Und ich bin mir sicher, dass sie etwas mit unserer Familie zu tun hat. Eine Frau, die in dem Buch erwähnt wird, hieß mit Nachnamen Stevens! Genau wie wir! Das kann doch unmöglich ein Zufall sein. Es war uns von Anfang an vorherbestimmt, auf dieses Schiff zu kommen und dieses Buch zu finden, da bin ich…“
„Sofia“, unterbrach Ben mich mitten im Satz. „Hör auf damit! Du musst die Sache vergessen! Du steigerst dich da in etwas hinein, weil du nicht damit klarkommst, dass die Geschichte vorbei ist. Es gab keinen Schatz und es gibt keine Verbindung. Wir haben uns damals in etwas verrannt. Es ist Zeit, nach vorne zu blicken.“
„Aber sieh es dir doch wenigstens an“, flüsterte ich verletzt. „Ich habe so viel Zeit da rein investiert. Du hast doch selber damals geschrieben, dass es einen Grund haben muss, dass wir es gefunden haben. Dass es eine zentrale Bedeutung hat und…“
„Das war damals. Aber das war dumm von mir. Ich hätte es dir nicht geben sollen, so hast du dich nur noch mehr in alles hineingesteigert. Wäre besser gewesen, du wärst im Glauben geblieben, dass ich dort unten gestorben bin.“
Der Kloß in meinem Hals wurde so groß, dass ich kaum noch sprechen konnte.
„Und alles andere?“, fragte ich mit rauer Stimme. „Was du sonst noch geschrieben hast?“ Dass du mich für immer lieben wirst? Aber das konnte ich nicht aussprechen. Unmöglich.
„Es hat sich vieles geändert, Sofia. Und das ist gut so. Du hast dein Leben und ich habe meins. Belassen wir es einfach dabei, ok?“
Seine Worte trafen mich wie ein Schlag ins Gesicht. Verletzt schloss ich für einen Moment meine Augen, um die aufkommenden Tränen zu stoppen. Warum musste ich immer gleich heulen?
Aber ich würde den Teufel tun und ihn das merken lassen.
„Ok, gut. Also du möchtest das Stammbuch haben, deine Geburtsurkunde und so weiter“, versuchte ich die Unterhaltung so sachlich wie möglich weiterzuführen. „Wozu brauchst du das eigentlich?“
„Ach, nichts“, wiegelte Ben meine Frage mit einer beiläufigen Handbewegung ab. „Brauche nur einen neuen Ausweis. Das ist alles. Wenn du mir das Buch gibst, gehe ich jetzt gleich noch zum Amt und lasse mir die Abschriften beglaubigen. Du kriegst es dann heute Abend zurück.“
Ich nickte stumm und stand auf, um die Dokumente aus meinem Zimmer zu holen. Wenn das wirklich alles war, was er nach über zwei Jahren von mir wollte, dann sollte er es bekommen. Ganz sicher würde ich ihn nicht anflehen zu bleiben, wenn er es offenbar so eilig hatte, wieder von hier weg zu kommen. Es lag mir auf der Zunge, ihn zu fragen, wo er jetzt lebte, was er beruflich machte, wie er die vergangenen zweieinhalb Jahre verbracht hatte – aber ich tat es nicht. Er wollte nicht, dass ich wieder Anteil an seinem Leben hatte, warum sollte ich ihn dazu zwingen, mir etwas zu erzählen, das er doch lieber für sich behielt?
Ich versuchte so gelassen wie möglich zu wirken, doch in mir tobte ein Sturm, der mich fast zu Boden zwang. Als ich das Schrankfach öffnete, um das Stammbuch unter dem Stapel an gesammelten Unterlagen hervorzuziehen, zitterten meine Hände so sehr, dass mir gleich das nächste Missgeschick passierte. Der Berg an Ordnern und Formularen über meinem Kopf geriet ins Rutschen und noch bevor ich das Buch richtig herausgezogen hatte, kippte der ganzen Stapel mit lautem Getöse auf mich herunter.
„Verdammter Mist!“, entfuhr es mir und ich rieb leise fluchend meinen Arm, der durch die herab gestürzten Mappen eine lange Schramme davongetragen hatte. Obwohl er im Nebenraum saß, hatte Ben das Desaster mitbekommen und war aufgesprungen, um nach mir zu sehen. „Ach, Sofia“, sagte er mitleidig, als er im Türrahmen auftauchte und mich vor Wut heulend inmitten von einem Haufen durcheinander geworfener Papiere wiederfand. Coolness war noch nie meine Stärke gewesen. Ohne ein weiteres Wort zog er mich zu sich hoch und nahm mich in seine Arme. Erst jetzt, fest an seine warme Brust gedrückt, hatte ich das Gefühl, endlich loslassen zu können. Hemmungslos begann ich zu schluchzen und all die angestauten Gefühle - die Angst, die Traurigkeit und die Sehnsucht der letzten Jahre - flossen aus mir heraus. Seine Hände strichen beruhigend durch mein zerzaustes Haar und über meinen Rücken und weil mir meine zitternden Knie immer noch nicht richtig gehorchten, zog er mich zurück auf die Kante meines Bettes, wo wir uns beide niederließen.
„Es tut mir leid, Sofia. Echt alles. Es ist nicht richtig, hierher zu kommen und alles wieder durcheinander zu bringen. Ich hätte es nicht getan, wenn es eine andere Möglichkeit gegeben hätte…“
Mit beiden Händen wischte ich mir die Tränen aus dem Gesicht, bis meine Hände sich schwarz färbten von der verlaufenden Mascara auf meinen Wimpern. Ein elendigeres Bild als das hier konnte man wohl nicht abgeben. Und wirklich das letzte auf der Welt, was ich mir wünschte, war Bens Mitleid.
Sein Gesicht war ganz nah, seine tiefblauen Augen trauriger und erwachsener, als ich sie von früher kannte. Ich schloss stumm meine Lider, als seine Lippen sanft meine Stirn berührten. War das der Kuss eines Bruders, der seine kleine Schwester trösten wollte? Doch kaum hatte er sich von mir entfernt, spürte ich seinen warmen Atem erneut auf meinem Gesicht und fühlte, wie er die salzigen Tränen von meinen Augen und meinen Wangen küsste. Ich hielt ganz still und wagte kaum zu atmen, doch als er endgültig meine Lippen traf, hielt ich es nicht mehr aus und erwiderte seinen Kuss mit der Verzweiflung einer Frau, die viel zu lange genau auf diesen einen Moment gewartet hatte. Jede Sekunde rechnete ich damit, dass er mich wieder von sich wegschob, doch das tat er nicht. Stattdessen zog er mich an meinen Hüften auf seinen Schoß und fuhr mit seinen warmen Händen unter meinen Pullover. Konnte das wirklich wahr sein? Es fühlte sich zu gut an, um echt zu sein. Aber wie immer, wenn ein Moment perfekt zu sein schien, schaffte ich es, ihn mit einem einzigen Satz zu ruinieren.
„Ben, ich bin so froh, dich wiederzuhaben. Ich habe dich so sehr vermisst“, flüsterte ich an seinen Hals gepresst.
Abrupt ließ Ben von mir ab. Mit einem tiefen Seufzen schüttelte er seinen Kopf, fuhr sich mit beiden Händen durch Gesicht und Haare und drehte sich zur Wand.
„Scheiße“, fluchte er leise vor sich hin und schien nach den richtigen Worten zu suchen. „Hör mal… Sofia… Du kannst mich nicht ,wiederhaben`. Morgen früh bin ich hier weg. Es wird nie ein ,wir` geben. Das geht einfach nicht.“
Sein Gesicht war von mir abgewandt, seine Stimme rau und energisch. Nervös bückte er sich, um einige der Unterlagen zusammenzupacken, die überall verteilt im Zimmer lagen.
„Hier, für dich.“ Ich versuchte meine Stimme genauso abweisend klingen zu lassen wie seine, aber so ganz gelang mir das nicht. Mit ausgestrecktem Arm hielt ich ihm das Stammbuch entgegen und reckte mein Kinn in die Höhe. „Du brauchst mir nicht zu helfen, ich schaffe das schon alleine. Nimm es und geh, deshalb bist du doch hier, oder?“
Wortlos nahm er das Buch und nickte zum Dank. Noch immer sah er mich nicht an.
„Ich werfe es dir in den Briefkasten, wenn ich damit beim Amt war“, sagte er und stand auf. Dann ging er in die Küche, nahm seine Jacke und steckte die Urkunden ein.
„Also gehe ich mal stark davon aus, dass du nicht mit auf den Weihnachtsball heute Abend kommst?“ Die Frage hätte ich mir auch sparen können, das wusste ich, aber ich musste sie aussprechen, damit ich den letzten Funken Hoffnung endgültig in mir ersticken konnte. Doch die Antwort, die ich bekam, war noch viel niederschmetternder.
„Ich habe dich angelogen“, entgegnete Ben, und seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. „Ich brauche die Unterlagen nicht für einen neuen Personalausweis. In vier Monaten werde ich heiraten. Meine Freundin erwartet ein Kind von mir.“
Irgendwo aus der Ferne hörte ich eine Tür zuschlagen. Dann war alles still und ich war allein. Waren es Sekunden oder Minuten, in denen ich einfach nur so dastand? In meinem Kopf breitete sich ein absolutes Nichts aus. Keine Panik, keine Bestürzung, keine Wut. Einfach nichts. Mein Körper fühlte sich taub an, fast so, als gehörte er mir nicht mehr. Nur mein Herz raste. Es raste wie verrückt.
Erst das Klingeln meines Handys riss mich zurück in die Realität. Mit zitternden Knien stolperte ich in mein Zimmer. Es war eine Nachricht von Noah.
„Freue mich schon sehr auf heute Abend“, stand dort, abgerundet mit einem lachenden Smiley und einem Herzchen. Mir entfuhr ein tiefer Seufzer. Den armen Noah hatte ich in meinem Gefühlschaos total vergessen. Er hatte es nicht verdient, dass ich ihn so behandelte.
„Ich freue mich auch“, schrieb ich zurück und schämte mich gleichzeitig für diese Lüge, denn es gab in diesem Moment nichts, was ich weniger tun wollte, als auf diesen blöden Ball zu gehen. Zu lächeln, zu tanzen und geistreiche Konversation zu betreiben, während meine Welt in Schutt und Asche lag. Ben würde heiraten! Und noch schlimmer – seine Freundin erwartete ein Kind von ihm! Alles vorbei, für immer und ewig… etwas noch Schrecklicheres hätte er mir nicht sagen können. Alle Hoffnungen, alle dummen, pubertären Träume für immer und ewig zerstört – mit einem einzigen Satz.
Ich spürte, wie sich mein Magen zusammenkrampfte, und schaffte es noch so eben zur Toilette, bevor ich mich übergeben musste. Als ich mich endlich völlig entkräftet zum Waschbecken schleppte, erschrak ich geradezu vor meinem bleichen, elenden Spiegelbild. Doch während ich mir das kühle, wohltuende Wasser über mein Gesicht laufen ließ, kam zu meinem Schock und meiner Enttäuschung noch ein anderes Gefühl hinzu. Eine riesengroße Welle der Wut.
Wie konnte er nur! Was bildete er sich ein? Erst küsste er mich und dann erzählte er mir von seiner schwangeren Verlobten? Hatte er gar keinen Anstand? Und dann verschwand er einfach wieder, so schnell, wie er gekommen war. Einfach Tür zu und weg. Feige. Rücksichtslos.
Ich hasste ihn!