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Julie freute sich wie ein kleines Kind darüber, aus mir einen neuen Menschen zu machen. Es kam mir vor, als hätte sie im Grundschulalter ihre Barbiepuppen-Phase nicht ausgiebig genug auskosten können, und nun holte sie diese versäumten Jahre an einem einzigen Tag mit mir nach. Nachdem ich mir von einem extravaganten Hairstylisten, der alle Klischees über seine homosexuellen Arbeitskollegen toppte, meine Haare um circa 30 Zentimeter hatte kürzen und goldblond färben lassen, starteten wir eine Odyssee durch mindestens zehn Amsterdamer Edelboutiquen. Mein Erstaunen war groß, als ich entdeckte, dass mir viele der Kleider passten, die Julie unermüdlich in meine Kabine reichte, obwohl ich immer gedachte hatte, dass ich Designerklamotten mit meiner rundlichen Figur nicht tragen könnte. Linus´ Kreditkarte wurde überall mit einem zufriedenen Lächeln entgegengenommen. Bald kam ich mir vor wie Julia Roberts in „Pretty Woman“. Es dämmerte bereits, als wir in Julies Wohnung zurückkehrten. Während sie den Schlüssel im Schloss umdrehte, wartete ich gespannt auf Bens Gesicht, wenn ich ihm gegenübertrat. Doch meine Aufregung war umsonst, denn mein Bruder war nicht da. Offensichtlich war auch er den ganzen Tag nicht zurückgekehrt, denn es sah alles noch genauso aus, wie wir es verlassen hatten – die Gläser auf dem Tisch, die lose Zigarettenpackung, der zur Seite geschobene Sessel. Enttäuscht ging ich in mein Zimmer, zog mein Nachthemd an, schaltete den Fernseher ein und warf meine neuen Errungenschaften achtlos in den nächsten Sessel. Vor Müdigkeit fielen mir schon bald die Augen zu. Draußen war es dunkel, als jemand leise an meiner Tür klopfte. Benommen rappelte ich mich hoch und blinzelte zum Wecker herüber. Es war Viertel vor elf.

„Kann ich reinkommen?“ Ben öffnete die Tür nur einen winzigen Spalt und wartete meine Antwort ab.

„Ja, klar.“ Ich räusperte mich und strich mir die mittlerweile nicht mehr ganz so gestylten Haare aus dem verschlafenen Gesicht.

Mit einem verlegenen Grinsen trat mein Bruder ein. Dann stockte er und blieb mit verblüfftem Gesichtsausdruck im Türrahmen stehen. „Deine Haare“, bemerkte er irritiert. Ich zuckte möglichst gleichgültig mit den Schultern. Ben sollte nicht merken, wie stolz ich immer auf meine langen dunklen Locken war und wie schwer es mir fiel, sie abschneiden und färben zu lassen. Angesichts der Schicksalsschläge, die wir hatten durchmachen müssen, war der Verlust der Haare dagegen lächerlich.

„Tja, sie sind jetzt blond“, sagte ich und rang mir ein wahrscheinlich nicht sehr überzeugendes Lächeln ab.

„Und glatt“, fügte Ben hinzu. Bildete ich es mir ein, oder klang in seiner Stimme ein leichtes Bedauern mit? Egal, er war bestimmt nicht hier, um sich mit mir über meine Frisur zu unterhalten.

„Was ist?“, fragte ich betont locker und schwang meine Beine über die Bettkante.

„Hm?“ Ben schien meine Frage gar nicht mitbekommen zu haben, doch dann gab er sich einen Ruck, schüttelte den Kopf, schnappte sich einen Stuhl und setzte sich mir gegenüber. „Ja, ähm, ich wollte nur sagen, dass ich zwei Plätze für übermorgen gebucht habe für unseren Flug auf die Seychellen. Eine Unterkunft habe ich auch schon organisiert.“ Er machte eine Pause und sah mich fragend an.

„Also Mittwoch geht´s weiter?“ Ben nickte. „Ist O.K. Dann wird´s wohl langsam ernst.“ Was für ein dummer Spruch. Als wäre es bisher nicht ernst genug zugegangen.

Mit fragender Miene musterte Ben mein Gesicht. „Hör zu“, begann er schließlich. „Ich habe lange darüber nachgedacht. Du musst nicht mitkommen. Wir sind auf den Seychellen auch nicht sicher. Ich kann nicht verlangen, dass du dein Leben aufs Spiel setzt. Julie hat eine Schwester, die lebt in einem kleinen Dorf an der Küste. Dort wird dich niemand finden. Und wenn alles vorbei ist, dann …“

Ich brauchte einen Moment, um zu verstehen, was Ben mir zu sagen versuchte, doch als es langsam in mein Bewusstsein sickerte, sprang ich so entrüstet auf, dass ich Ben dabei fast vom Stuhl geworfen hätte.

„Nein!“ Ich stampfte energisch mit dem Fuß auf. „Ich lasse mich nicht abschieben. Papa hat mir den Brief hinterlassen. Er wollte, dass ich nach diesem scheiß Schatz suche – und glaub mir, ich habe wenig Lust dazu. Aber du kannst mich jetzt nicht einfach sitzen lassen, du kannst doch nicht …“ Weiter kam ich nicht, denn meine Stimme erstickte unter dem Kloß in meinem Hals. Hilflos schnappte ich nach Luft und kämpfte gegen die Tränen an, die mir in die Augen schossen.

Ben sprang auf und legte mir einen Finger auf die Lippen. In Julies Wohnung von einem Schatz herumzuschreien, war wahrscheinlich nicht besonders klug. „Hey“, flüsterte er mir beruhigend ins Ohr und wischte mir unbeholfen ein paar Tränen aus dem Gesicht. „Beruhig dich, Sofia! Ich hab´ doch nicht gesagt, dass du hier bleiben sollst. Ich dachte nur, dass es sicherer für dich ist. Mein Gott, du bist doch noch ein Kind!“

Schniefend trat ich einen Schritt zurück und schüttelte den Kopf. „Ich bin dir lästig, gib es ruhig zu!“ Jetzt reagierte ich wirklich wie ein trotziger Teenager. Aber das war ich ja schließlich auch.

„Nein, Sofia. Das stimmt nicht!“ Bens Stimme klang beinahe flehend. „Jetzt sieh doch ein …“

Erbost schubste ich ihn von mir weg und ließ mich schluchzend auf die Bettkante fallen. Haltung bewahren war leider nicht meine Stärke.

Ben schwieg und sah mich mit einer Mischung aus Ärger und Verwunderung an. Dann setzte er sich mit einem Seufzen neben mich aufs Bett. „Wenn ich dich nicht dabei haben wollte, hätte ich nicht zwei Tickets besorgt“, bemerkte er trocken und legte mir mein Flugticket auf den Schoß.

„Na, vielleicht willst du ja lieber Julie mitnehmen“, murmelte ich immer noch beleidigt und Ben lachte laut auf. „Du bist echt bescheuert. Sei nicht so ein eingeschnapptes, eifersüchtiges Huhn. Julie wird nirgendwo mit mir hingehen. Vielleicht gab es mal eine Zeit, in der ich gewollt hätte, dass sie mit mir von hier verschwindet, aber das ist schon lange her.“ Er stieß mir sanft mit der Faust ans Kinn und grinste mich schief an. Und obwohl ich immer noch sauer auf ihn war, konnte ich nicht anders und musste lächeln. „Wenn du es vorziehst, mit mir gemeinsam in den Tropen den Löffel abzugeben, dann kann ich dich nicht davon abhalten.“

Anstatt ihm zu antworten, schnaufte ich nur kurz und rollte mit den Augen. Einen endlosen Moment lang sahen wir uns an. Bens spöttisches Lächeln erlosch, er legte den Kopf schief und rückte ein kleines Stück näher zu mir. Für den Bruchteil einer Sekunde schlug mein Herz schneller, doch kurz bevor ich meine Augen schließen und leise seufzend Bens zögernden Kuss beantworten konnte, legte dieser mir einen großen braunen Umschlag in die Hände. Irritiert runzelte ich die Stirn – was wollte er denn jetzt schon wieder?

„Hast du dir den Brief und seine Übersetzung schon mal genau angesehen?“, fragte Ben mich plötzlich völlig aus dem Zusammenhang – zumindest aus dem Zusammenhang, den ich gerade wahrgenommen hatte.

„N-Nein“, stotterte ich und schüttelte möglichst lässig meine neuen blonden Haare über die Schulter. Zum Glück schien Ben nichts von meiner peinlichen Beinah-Hingabe mitbekommen zu haben. Ich musterte den braunen Umschlag, als hielte ich ihn heute zum ersten Mal in der Hand. Nein, ich hatte tatsächlich seit damals in der Lüneburger Heide keinen Blick mehr auf den Brief geworfen. Damals. Das war gerade mal zehn Tage her. Wir hatten so viel damit zu tun gehabt, diesen Brief geheim zu halten, dass ich fast vergessen hatte, dass dieses unscheinbare Papier schlappe 100 Millionen Euro wert sein könnte.

„Also, ich hab´ ihn in den vergangenen Tagen mal richtig durchgelesen“, erklärte Ben mit gedämpfter Stimme und rutschte so nah an mich heran, dass sich unsere Arme berührten. Dann zog er mir vorsichtig das Kuvert aus der Hand und blätterte die Seiten durch, bis er die Übersetzung des französischen Textes gefunden hatte. „Seit fast dreihundert Jahren suchen die verschiedensten Menschen nach diesem Schatz, Sofia!“ Er fasste meine Hand, ein Strahlen erleuchtete sein Gesicht. „Manche haben ihr ganzes Leben dieser Suche gewidmet. Zweihundert Jahre lang war die verschlüsselte Schatzkarte, die Kapitän La Buse vor seiner Hinrichtung in die gaffende Menge warf, verschollen, aber selbst nachdem sie wieder auftauchte, konnte niemand den Code entziffern. Und jetzt haben wir ihn in der Hand. So nah war seit 280 Jahren niemand an der Lösung des Rätsels.“

Mir wurde flau im Magen. Vielleicht lag es an der Art, wie Ben mit mir sprach – mit diesem Enthusiasmus in der Stimme. Aber mir machte das Angst. Dort draußen gab es Menschen, die bereit waren, für diesen Schatz zu töten. Konnte das Wissen um dieses wahnsinnige Geheimnis Menschen verändern? Sie in Besitz nehmen? Sie vergiften? Mir fiel der gruselige Gnom Gollum aus „Herr der Ringe“ ein. Ein harmloses Wesen, das von der Versuchung, Macht zu besitzen, vergiftet worden war. Langsam zog ich meine Hand aus Bens festem Griff heraus. Würden auch wir zu Gollum werden? „Ich versteh´ das nicht“, wandte ich ein und zog den in Folie gefassten Original-Brief aus den losen Blättern hervor. „Warum macht sich La Buse die Mühe und entwirft ein nicht zu entzifferndes Kryptogramm, wenn er gleichzeitig eine komplette Übersetzung seines Codes herausgibt? Das ist doch widersinnig, oder?“

Ben zuckte mit den Schultern. „Vielleicht war die Übersetzung für jemand Bestimmtes gedacht. Mit dem Kryptogramm wollte er sich an seinen Peinigern rächen. Sie sollten sich schlagen und streiten und sich den Kopf zerbrechen und doch nie die richtige Lösung finden. Aber vielleicht wollte er einem Menschen, der ihm wichtig war, die Möglichkeit geben, das Geheimnis doch noch zu lüften. Keine Ahnung.“ „Hm“, skeptisch verzog ich mein Gesicht. „Klingt merkwürdig.“

Mit einem genervten Seufzen schnappte Ben mir den Brief aus der Hand. „Fakt ist: Der Brief ist echt. Das Alter stimmt genau und die Unterschrift könnte tatsächlich von La Buse stammen. Und das Kryptogramm auf der Rückseite ist exakt das gleiche, das der Piratenkapitän in die Menge geworfen hat.“ So schnell ließ ich mich nicht überzeugen. „Woher weißt du das? Bist du etwa im Besitz des Originals?“

Ben lachte und warf sich rückwärts auf mein Bett.

„Was ist so lustig?“, fauchte ich und drehte mich zu meinem Bruder um. Herausfordernd hob er seine linke Augenbraue. Jedes Mal, wenn er das tat, versetzte es meinem Herzen einen kleinen Adrenalinstoß.

„Gib einfach mal „La Buse“ im Internet ein.“ Er grinste süffisant. „Und dann schau mal, was du da alles findest.“

„Man kann das Kryptogramm im Net anschauen?“, fragte ich fassungslos und ließ mich seitlich neben Ben aufs Bett sinken.

„Tja, der modernen Technik sei Dank!“ Ben faltete schmunzelnd seine Hände hinter dem Kopf zusammen. „Nur kann niemand etwas damit anfangen. Niemand außer uns.“

Langsam rollte ich mich auf den Bauch und zog die deutsche Übersetzung zu mir herüber. „Dies hier ist mein Vermächtnis“, las ich vor, „der Schlüssel zum größten Schatz des Indischen Ozeans. Wer ihn zu finden vermag, der behalte ihn mit meinem Segen.“

„Ganz schön pathetisch, der liebe Olivier.“

Doch diesmal lies ich mich nicht von ihm irritieren. „Finde den Schlüssel zum steinernen Tor hinter den fallenden Wassern der großen Insel und folge dem Herzen der Kleinen Schwester. Es wird dich leiten in der Finsternis. Olivier le Vasseur“. Skeptisch blickte ich zu Ben hinüber. „Steinernes Tor, fallendes Wasser? Noch präziser konnte der Kerl sich wohl nicht ausdrücken? Die Seychellen bestehen aus 115 Inseln! Wo sollen wir da anfangen zu suchen?“

„Jetzt sei nicht immer so pessimistisch“, antwortete Ben mit einem genervten Seufzen. „Er redet von Felsen, die gibt es nur auf den Inneren Inseln und das sind nur 32, die meisten davon sind recht klein. Nur konnte La Buse ja schlecht schreiben: Gehen Sie die Rue Lazare hinunter bis zur Grand Anse und buddeln dort nach 30 Metern auf der linken Seite ein Loch. Als er den Indischen Ozean unsicher gemacht hat, waren die Seychellen noch unbesiedelt. Genaue Ortsnamen kannst du also knicken.“

Ein wenig verärgert rollte ich die Folie mit dem Übersetzungstext zusammen und schlug meinem Bruder damit auf den Kopf. „Du hältst mich für total bescheuert, gib´s ruhig zu!“

Blitzschnell reagierte Ben. Noch bevor ich meine Hand zurückziehen konnte, schnappte er mein Handgelenk. Ohne dass ich mich dagegen wehren konnte, drückte er meinen linken Arm neben meinen Kopf ins Kissen und beugte sich wenige Zentimeter über mich. „Na, na“, flüsterte er tadelnd. „Das war aber nicht nett von dir.“

Ich versuchte ihn mit meiner freien Hand von mir wegzuschubsen, doch dieser Akt der Befreiung endete ebenso kläglich wie meine unüberlegte Attacke vor wenigen Sekunden. Jetzt kniete er direkt über mir und hielt beide Hände gefangen. Wehren war zwecklos. Ich spürte, wie mir das Blut in die Wangen schoss und mein Pulsschlag sich nahezu verdoppelte. Hoffentlich merkte er es nicht! Wie peinlich, dass seine Nähe jedes Mal so heftige Reaktionen in mir auslöste! Doch Ben sah mich nur an. Langsam verlosch sein überlegenes Grinsen, seine Züge wurden sanfter, fast ein wenig traurig. Und obwohl ich mich schämte, konnte ich doch nicht wegschauen. Mehrere Sekunden vergingen, aber es kam mir vor wie eine Ewigkeit. Dann lockerte sich Bens Griff, langsam ließ er meine linke Hand wieder los. Kaum spürbar streifte er meinen Arm hinunter bis zur Schulter. Für den Bruchteil eines Moments war mir, als ob auch sein Atem schneller ging als sonst. Dann, plötzlich, ließ er auch meine rechte Hand los, setzte sich aufrecht hin und sagte irgendetwas Dummes wie „Gefahr gebannt“ oder so ähnlich.

Der Kerl machte mich wahnsinnig! Wollte er mich immer wieder völlig aus der Bahn werfen? Fand er das amüsant? Schluss jetzt! ermahnte ich mich selbst. Ich lasse ihn nicht so mit mir spielen! Ich habe auch meinen Stolz!

„Ich …“, gerade wollte ich einen patzigen Spruch bringen, da klopfte es wieder an der Tür und Julie blickte zaghaft durch den Spalt.

„Sorry“, flüsterte sie verlegen und warf mir einen entschuldigenden Blick zu. „Ben, ich muss dich dringend sprechen. Hast du gerade Zeit?“

Ben sprang auf und war so schnell verschwunden, dass er, wäre er eine Comicfigur gewesen, kleine Rauchwolken hinterlassen hätte.

„Oh Benni, ich muss dich ja so dringend sprechen!“, äffte ich Julie mit hoher Säuselstimme nach und rappelte mich mit einem Stöhnen wieder hoch. Dann verstaute ich alle Unterlagen im Umschlag und stopfte diesen unter meine neu eingekauften Designerklamotten in meinen Koffer. Durch die Wand konnte ich Ben und Julie miteinander reden hören. Fast schien es mir, als ob Julie weinte und mein Bruder sie mit sanfter Stimme zu trösten versuchte – vielleicht bildete ich mir das aber auch nur ein. So, wie ich mir in letzter Zeit anscheinend vieles einbildete. Müde ließ ich mich wieder in mein Kissen sinken. Die leisen Stimmen aus dem Nebenraum verebbten langsam, schon bald glitt ich hinüber in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

Es war früher Morgen, als ich wieder erwachte. Draußen stand die Sonne noch tief am Himmel und auf dem Kanal vor unserem Haus fuhr ein einsamer Frachter durch den aufsteigenden Nebel. Verschlafen reckte ich mich, tastete nach meiner Brille, stapfte zum Spiegel und bürstete mir meine neuen, erblondeten Haare. Noch immer kam mir das Gesicht, das mich anblickte, fremd vor. Ich wirkte jetzt älter und irgendwie schmaler als sonst. Vielleicht hatte ich in den vergangenen Wochen ja wirklich abgenommen. Bei all dem Stress wäre das kein Wunder. In Nachthemd und Schlappen schlenderte ich hinüber zum Badezimmer, um mich frisch zu machen und meine Kontaktlinsen einzusetzen. Aus dem Augenwinkel konnte ich sehen, dass das Sofa, auf dem mein Bruder in den vergangenen Tagen geschlafen hatte, leer war. Die Uhr an der Wand zeigte gerade mal halb sechs. War Ben auch schon wach? Aber das Bad war leer und allem Anschein nach hatte es heute Morgen niemand benutzt. Irritiert drehte ich mich um. Aus der mit Vorhängen verhangenen Schlafecke von Julie konnte man ein leises Schnarchen hören. Alles in mir sträubte sich dagegen, um die Ecke zu schauen. Das ging mich nichts an. Und eigentlich wollte ich es auch gar nicht sehen. Aber trotzdem drängte mich eine unbekannte Kraft dazu, auf Zehenspitzen zu Julies Bett zu schleichen und einen der seidenen Vorhänge zur Seite zu ziehen. Ein spitzer Stich durchfuhr mich, als ich die beiden dort liegen sah. Ben hatte seinen Arm um Julies Schulter geschlungen, ihr Gesicht ruhte friedlich auf seinem schwarzen T-Shirt. Ihre langen roten Haare bedeckten das Bett wie ein ausgebreiteter Fächer.

Erschrocken machte ich einen Schritt zurück und stolperte dabei fast über die leere Rotweinflache, die hinter mir auf dem Parkett hin und her rollte. „Mist“, fluchte ich leise und hielt mich in letzter Sekunde am Bettrahmen fest. Ich hörte, wie sich einer der beiden bewegte. Ben hatte sich mit zum Glück immer noch geschlossenen Augen auf die Seite gedreht. Seine linke Hand streichelte Julies wallende Locken und ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Mein Magen krampfte sich zusammen, mir wurde heiß und kalt zugleich. Am liebsten wäre ich weggerannt – aber ich konnte nicht, denn meine Knie zitterten, als wäre ich soeben einen Marathon gelaufen.

„Jetzt reiß dich doch mal zusammen!“, schimpfte ich in Gedanken mit mir selbst. „Gleich wachen sie auf und du stehst an ihrem Bett und gaffst sie an.“ Während ich noch mit meiner Fassung rang, hörte ich Julie zufrieden seufzen. Das reichte. Mit drei großen Sätzen sprang ich zurück in den Wohnbereich, stolperte ins Bad und schloss die Tür hinter mir ab. Dort angekommen, drehte ich den Duschhahn auf, schlüpfte aus meinem Nachthemd und stellte mich mit immer noch rasendem Pulsschlag unter das eiskalte Wasser. Das half. Langsam kam ich wieder zu mir. Mit einem leisen Stöhnen ließ ich meinen Kopf gegen die silberweißen Badezimmerfliesen sinken. Warum tat es so weh, Ben und Julie so zu sehen? Ich wusste doch, dass sie vor einigen Jahren ein Paar gewesen waren und naja – wie sagt man so – alte Liebe rostet halt nicht. Das hatte nichts mit mir zu tun. Und außerdem, Herrgott nochmal, Ben war mein BRUDER, das musste doch endlich in meinen dämlichen Kopf reingehen. Ich musste damit aufhören, mir einzureden, dass es irgendetwas zwischen uns gab. Da war nichts und da würde auch nie etwas sein. Alles andere wäre ja auch echt pervers. Langsam rutschte ich an der Wand angelehnt in die Hocke und starrte dabei auf meine Füße. Das Wasser lief mir in Strömen über das Gesicht – was gut war, denn so musste ich mir nicht eingestehen, dass ich weinte. Erst als ich vor der Badezimmertür Stimmen und Schritte hörte, rappelte ich mich wieder hoch und trocknete mich ab.

„Guten Morgen“, trällerte mir Julie entgegen. „Der Kaffee läuft schon durch, Brötchen sind im Ofen!“

Ohne sie anzuschauen, nickte ich knapp und flüsterte ein kaum hörbares „Danke“ in ihre Richtung. Das Frühstück fiel ähnlich wortkarg aus, denn auch Ben war heute nicht ganz bei der Sache. Mit leerem Blick starrte er vor sich hin und vergaß seine allmorgendliche Zigarette zu rauchen. Grübelte er wieder einmal darüber nach, wie er mich loswerden konnte, um Julie mit auf die Schatzsuche zu nehmen? Oh, ich könnte vor Wut die Wände hochgehen! Und als ob das alles nicht genug war, verabschiedeten sich die beiden gleich nach dem Frühstück von mir, um vor der Abreise noch „eine wichtige Besorgung“ zu machen.

Alles klar! Ich war ja so blöd, dass ich tatsächlich gedacht hatte, Ben wäre vielleicht doch mehr als so ein Frauenheld. Hatte ich mich wohl getäuscht.

Wieder einmal zappte ich mich allein durch die holländischen Fernsehkanäle, knabberte frustriert an einer Tüte Chips und wartete darauf, dass die Zeit verging. Diese noble Wohnung mit ihrem teuren Inventar ödete mich an. Dort draußen wartete das Leben und ich war hier eingeschlossen wie in einer Gefängniszelle. Dass all das morgen ein Ende haben sollte, konnte ich mir kaum vorstellen. Der Gedanke, mit Ben auf Schatzsuche zu gehen, kam mir immer irrsinniger vor. Was er und Julie jetzt wohl machten? Schmiedeten sie Pläne gegen mich oder nutzten sie die freie Zeit für interessantere Dinge?

Dieses Herumsitzen machte mich wahnsinnig! Ziellos ging ich durch die Wohnung und versuchte, Marvin auf dem Handy zu erreichen, doch er nahm nicht ab. Und gerade in dem Moment, in dem ich erwog, rauszugehen und abzuhauen, hörte ich, wie jemand die Wohnungstür öffnete.

Lost Treasure

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