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Der reiche Onkel Alfred Bekker

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Es war wie jedesmal, wenn Onkel Kurt aus Kanada auf einem Treffen der Verwandtschaft auftauchte. Wilfried Schultz pflegte dann furchtbar anzugeben, so daß seine Frau ihm hinterher mal wieder vorhalten konnte: "Warum hast du wieder so maßlos übertrieben, Wilfried?"

"Hab ich das?"

"Natürlich hast du das! Glaubst du vielleicht, du mußt Onkel Kurt irgend etwas beweisen?"

"Nein, Andrea..."

"Und warum tust du dann so, als würden wir im Geld schwimmen? Wir sind kleine Geschäftsleute, die mit ihrem Betrieb gerade so über die Runden kommen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger! Dessen braucht man sich auch nicht zu schämen, finde ich!"

"Ich weiß..."

"Es kann nicht jeder soviel Glück wie dein Onkel Kurt haben, Wilfried. Als Tellerwäscher nach Kanada auswandern, um dann zum millionenschweren Hotelbesitzer emporzusteigen..."

Manchmal empfand Andrea es als richtig peinlich, wenn ihr Mann dann versuchte, zumindest verbal mit Onkel Kurt mitzuhalten. Jener Teil der Verwandtschaft - und das war leider der weitaus größte! - der um ihre wahren Verhältnisse wußte, verdrehte dann regelmäßig die Augen. Aber glücklicherweise war der Familiensinn genug ausgeprägt, so daß Wilfried noch nie bloßgestellt worden war. Allerdings war Andrea davon überzeugt, daß Wilfried das ohnehin schon selbst besorgt hatte und Onkel Kurt die Angeberei seines Neffen längst und lange durchschaut hatte.

"Was meinst du, was der zu Hause in Kanada über dich erzählt!" meinte sie einmal. "Ist ein ganz kleiner Geschäftsmann und tut, als könnte nur noch Dagobert Duck oder Bill Gates ihm das Wasser reichen!"

Aber was diesen Punkt anging, da waren Andreas Moralpredigten in den Wind gesprochen. Bei nächster Gelegenheit würde Wilfried wieder angeben, daß sich die Balken bogen.

Glücklicherweise war Onkel Kurt ein vielbeschäftigter Mann und so konnte er nicht öfter als ein bis zweimal im Jahr über den großen Teich jetten.

Und dann kam irgendwann ein Brief mit schwarzer Umrandung.

Eine Todesanzeige. Onkel Kurt war bei einem Verkehrsunfall umgekommen. Im ersten Moment war Wilfried natürlich von Trauer überwältigt, aber im zweiten wurde ihm klar, daß Onkel Kurt keine Frau und keine Kinder hatte, die etwas erben konnten und er der nächste Verwandte war. Onkel Kurts gelber Ferrari hatte bei dem Unfall zwar einen Totalschaden erlitten, aber das schmälerte das zu erwartende Erbvermögen nur unwesentlich...

"Wir sind reich!" rief Wilfried, aber Andrea meinte: "Abwarten!"

Und sie wartete ab.

Tatsächlich wurden sie zur Testamentseröffnung nach Vancouver eingeladen, dessen Inhalt sie dann doch etwas ernüchterte:

'Lieber Wilfried', wandte sich der Verstorbene an seinen Erben. 'Da du mein nächster Verwandter bist und ich dir immer vertraut habe, vermache ich dir das, was mir am meisten am Herzen lag: Meinen Papagei Captain Silver. Eine ausführliche Haltungsanleitung liegt diesem Testament bei. Da du ja selbst in finanziell großzügigen Verhältnissen lebst, wie du mir immer wieder berichtet hast, bist du auf materielle Zuwendungen ja nicht angewiesen, so daß ich mein restliches Vermögen guten Gewissens einer Hilfsorganisation für Bedürftige spenden kann.'

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