Читать книгу Gantenbein und die Tote in der Dusche - Sanela Egli - Страница 10

Оглавление

7

Mittlerweile hatte sich Jasmine Spuhler an die Spachtelei gewöhnt. Täglich stand die dürre Einunddreißigjährige vor dem Spiegel und klatschte sich viel zu viel Make-up ins Gesicht. Aber nur so traute sie sich noch aus dem Haus. Sie hätte es lieber anders, doch ihr natürliches Aussehen hinderte sie stets daran, sich wohl zu fühlen. Wenn sie sich im Spiegel anstarrte, verfiel sie oft in nostalgische Gedanken und erinnerte sich daran, wie es war, als sie ihren Titel als Miss Fitness verteidigte.

Ihr Gesicht verzog sich zu einem traurigen Antlitz, als sie an die unbeschwerte Zeit zurückdachte. Sie vermisste den Sport sehr. Früher gab es keinen Tag, an dem sie sich nicht sportlich betätigte. Heute war sie froh, eine Woche zu überstehen, ohne einen Tag im Bett gelegen zu haben.

Sie war ein Schatten ihrer selbst.

Jasmine zupfte ihre Fransen zurecht, begab sich in die Diele und schlüpfte in ihre Schuhe. Griff nach dem Schlüssel und verließ die Wohnung.

Sie war Tim unendlich dankbar, er brachte die siebenjährige Angela morgens in die Schule, damit sie sich ungestört für die Arbeit in der hiesigen Kindertagesstätte fertigmachen konnte. Ohne ihn hätte sie die schwere Zeit nicht durchgestanden. Seit ihrer Hochzeit waren sieben Jahre vergangen und sie hatten mehr schlechte als gute Zeiten erlebt. Manchmal kam es Jasmine vor, als ob ihre Beziehung von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen war. Dank ihres Mannes, der sie nie aufgegeben hatte, waren die beiden heute noch zusammen. Doch sie musste sich eingestehen, sie liebte ihn anders als er sie. Das große Geheimnis stand von Anfang an zwischen ihnen. Und jetzt auch noch die beschissene Krankheit. Wäre sie eine Schauspielerin, hätte sie schon längst einen Oscar für ihre Fähigkeit gewonnen. Sie spielte nicht nur ihrem Mann etwas vor, sondern auch ihren Freunden und ihrer Familie. Eigentlich war sie strikt gegen Lügen, aber sie hatte all die Jahre Angst gehabt, ihren Liebsten die Wahrheit zu sagen; das Geheimnis war inzwischen zu einer Lebenslüge geworden.

***

Sie bugsierte ihren Fiat in die Parklücke vor dem Chinderhuus, wie die Kindertagesstätte hieß und freute sich auf die Ablenkung. Die Kinder in ihrer Gruppe waren zwei bis vier Jahre alt und ließen sie ihre Sorgen und Ängste jeden Tag für ein paar Stunden vergessen.

Sie entstieg dem Wagen und knallte die Tür zu und erklomm die wenigen Stufen zum Eingang. Schälte sich aus den Schuhen und glitt in bequeme Hausschuhe.

Die Tür ging auf und Julia trat ein, Jasmines Kollegin, sie arbeiteten in derselben Gruppe. Bärchen, so nannten sich die acht Kinder. Die beiden Frauen waren die Erzieherinnen und Paddy die Auszubildende.

„Guten Morgen. Na, freust du dich schon?“, fragte Julia, zog ihre Brauen hoch und lächelte verschmitzt.

Jasmine überlegte kurz. „Was soll denn sein?“

„Heute ist Mittwoch.“

Und da fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Mittwoch. „Oh nein, ist schon wieder eine Woche um?“

Einmal die Woche, immer mittwochs, wurde um sieben Uhr der vierjährige Fabio von seiner aufgedonnerten Mutter im Chinderhuus abgeladen und um halb sieben abends wieder abgeholt.

„Ach“, meinte Jasmine und verwarf ihre Hände, „heute kann sich mal Paddy um den frechen Schnösel kümmern. Ich habe keine Nerven für den Bengel.“

„Tja“, sagte Julia und verzerrte ihr Gesicht, „Paddy hat einen Kurs. Die Glückliche.“

„Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?“ Sie presste die ihre Lippen aufeinander und zog schweigend an Jasmine vorbei, die ihr in die oberste Etage folgte. Julia sperrte die weiße Tür auf und latschte geradewegs zum Fenster, um es zu öffnen. Jasmine ließ die Tür offen, um Durchzug zu machen und den Gruppenraum kräftig mit Frischluft zu durchfluten, so wie sie es jeden Morgen machte. Danach begab sie sich in den hinteren Teil. Sie passierte das Waschbecken zu ihrer Linken, wo die Kinder nach dem Mittagessen die Zähne putzten, warf einen Kontrollblick in die Toilette, die sich gleich daneben befand. Alles sah ordentlich aus. Gegenüber des WCs stieß sie die Tür auf und trat hinein. Sie befand sich inmitten kleiner Matratzen, die auf dem Boden lagen, auf denen die Knirpse ihren Mittagsschlaf hielten. Sie öffnete das Fenster und kehrte in den vorderen Bereich des Gruppenraums zurück, wo bereits die ersten Kinder hereintrudelten. Unter anderem Fabio, dessen vorlautes Mundwerk nicht zu überhören war.

Jasmine und Julia stellten sich nebeneinander hin, und die eintreffenden Kinder begrüßten sie. Bis alle eintrafen war Spielzeit, das hieß, die Kleinen durften eigenständig herumtollen, was bei den meisten auch ganz gut klappte, nur Fabio hatte den glorreichen Einfall, seine Hose samt der Unterhose herunterzulassen und an seinem Piepmatz zu ziehen. Die anderen Kinder lachten, Julia versuchte, sie zu besänftigen und Jasmine zog den Rebell wieder an.

Der Tag fängt ja schon gut an, dachte sie.

Während Julia sich um die Kinder kümmerte, deckte Jasmine den Tisch für den Snack. Heute gab es Früchte am Spieß und Tee. Die Kleinen setzten sich, und alle aßen mit geschlossenen Mündern, nur Fabio nicht, der schmatzte extralaut.

Nach kurzer Zeit war alles verputzt, und Julia räumte mit Marlies und Gina, zwei Mädchen aus der Gruppe, den Tisch ab. Jasmine setzte sich mit den anderen Kindern vor die Treppe auf den Boden in einen Kreis und zückte das Buch Wo die Tiere leben hervor. Der schwarzhaarige, pummelige Fabio dachte nicht daran, sich hinzusetzen und hopste um die Kinder herum.

„Fabio! Jetzt reicht es aber. Setz dich hin. Bitte. Ich möchte mit der Geschichte beginnen“, sagte Jasmine bestimmt.

Der Bengel machte weiter, stellte sich hinter seine Erzieherin und juckte ihr auf den Rücken. In der Rauferei zog er an ihren Haaren. Wie von einer Tarantel gestochen schnellte sie hoch, legte ihre Frisur zurecht und übergab Fabio ihrer Kollegin, mit der er, nachdem der Esstisch wieder sauber war, sich daranmachte, die Spielsachen und Regale abzustauben.

Jasmine atmete durch, setzte sich mit einem erzwungenen Lächeln in den Kreis zurück und begann, mit einem ziehen in der Magengegend, aus dem Buch vorzulesen. Sie hasste es, wenn jemand ihre Haare berührte. Niemand hatte das Recht dazu!

***

Jasmines Arbeitsstunden waren heute nur mühselig vergangen und sie war froh, als sie endlich wieder zu Hause war. Es gab Tage, an denen man ihr nichts anmerkte. Und dann gab es Tage, wie es heute einer war, an denen sie sich wünschte, im Bett liegengeblieben zu sein.

Sie hörte, wie jemand die Tür öffnete und eintrat. An den kurzen Schritten erkannte sie, dass es ihre sechsjährige Tochter Angela war. Ein zierliches, kleingewachsenes Mädchen mit langen braunen Haaren kam in die Küche. Jasmine drückte ihr einen Kuss auf die Stirn.

„Was gibt’s zu essen?“

„Salat und Schnitzel. Du kannst hierbleiben, Papa müsste auch gleich kommen. Deck doch bitte schon mal den Tisch.“

Ihre Tochter schlängelte sich an ihr vorbei zur Besteckschublade, als Tim in die Küche trat.

„Mh … das riecht lecker“, meinte er und umschlang seine Arme um Jasmine und hauchte ihr einen Kuss auf.

„Hier, du kannst dich gleich nützlich machen“, sagte sie und drückte ihm die Salatschüssel in die Hand, die er mit einem nicht ernst gemeinten Murren entgegennahm.

Jasmine war auffällig still während des Essens.

„Mama, ist alles in Ordnung?“

„Ja, ja, Liebes. Alles bestens. Ich bin nur ein wenig erschöpft, das ist alles. Kein Grund, sich Sorgen zu machen.“

Jasmine wusste, dass weder Angela noch Tim ihren Worten Glauben schenkten und sie war ihnen dankbar, dass sie es auf sich beruhen ließen.

Nach dem Abendessen verschwand Angela in ihr Zimmer und Jasmine und Tim warfen sich auf die Couch. Wortkarg saßen sie da, er legte den Arm um sie und zog sie an sich.

Sie mochte ihn so sehr, doch an schlechten Tagen fiel es ihr ungemein schwer, ihre Gefühle zu zeigen. Überhaupt fiel es ihr immer schwerer, so zu tun, als würde sie ihn lieben, wie sich Ehepaare nun mal liebten. Sie mochte ihn, ja. Sie liebte ihn auch, aber auf ihre eigene Weise. Viel mehr so wie einen Bruder oder den besten Freund.

Er schaltete den Fernseher ein, und sie warteten auf das Ende des Werbeblocks.

„Du hast dein Essen schon wieder nicht angerührt.“ Er wandte sich zu ihr und musterte sie eindringlich. „Du hast schon wieder abgenommen.“

„Ich weiß. Aber ich kriege einfach nichts runter. Sag mal, wie wäre es, wenn wir mal in Urlaub fahren würden?

Irgendwo ans Meer? Mit dir als Unterstützung wäre das doch kein Problem, oder?“

Tim senkte seine Lider und blickte betroffen zu Boden.

„Ehrlich gesagt, ich weiß nicht, ob das in deinem Zustand gut ist. Du … “, er schaute sie an, „ … du würdest bei der geringsten Anstrengung umkippen bei der Hitze dieses Jahr. Und im Süden sind die Krankenhäuser angsteinflößend. Was, wenn du medizinische Versorgung benötigst, die sie dir nicht geben können?“

„Ach, komm, du machst dir mal wieder viel zu viele Gedanken. Lass uns gleich morgen zum Flughafen fahren und dort spontan entscheiden, wo wir hinfliegen.“

„Morgen? Jasmine, Angela muss zur Schule, wir können sie nicht einfach rausnehmen. Und ich muss arbeiten. Wie stellst du dir das denn vor?“

Das Gespräch war abrupt beendet, und die beiden fokussierten sich wieder auf den Fernseher.

Ja, wie stellte sie sich das vor?

Er schwieg. Dann setzte er sich gerade hin und wandte sich ihr zu. „Jasmine, warum fährst du nicht allein? Ich kann wirklich nicht mitkommen, das liegt einfach nicht drin.“

***

Das Ehepaar Spuhler lag im Bett, wie immer, Tim auf die eine Seite schauend, Jasmine auf die andere. Als hätten sie sich nichts zu sagen.

Sie setzte sich auf.

„Kannst du dich bitte zu mir drehen? Ich … ich hab dir was zu sagen.“

Er tat wie geheißen. Sie schloss für einen Moment ihre Augen, hielt kurz inne.

Jetzt oder nie, dachte sie. Jetzt oder nie.

„Tim ich … ich ….“

„Du musst mir was sagen, ich weiß schon. Aber was?“

„Es fällt mir nicht gerade leicht, darüber zu sprechen. Meine Krankheit … du weißt ja, dass die vielleicht tödlich endet.“

„Mhm.“

„Ich will die Zeit, die mir noch bleibt, so leben, wie ich will und nicht, wie man es mir vorschreibt oder von mir erwartet.“

„Liebling, was ist denn los?“

Sie atmete schwer.

„Du bist immer so gut zu mir und Angela, und es tut mir so leid, dass ich dir … mein Geheimnis … also, dass du nun etwas Unerfreuliches erfährst.“ Sie räusperte sich. „Okay, dann sag ich es jetzt einfach. Tim, ich … bin lesbisch.“

Er verfiel in schallendes Gelächter.

„Ich meine es ernst, Tim. Ich stehe auf Frauen. Habe ich schon immer getan, nur … mich nie getraut, etwas zu sagen. Es tut mir leid.“ Tränen rannen ihre Wangen hinab.

„Das soll doch wohl ein Scherz sein, oder? Du stehst auf Frauen? Und diese Erkenntnis ist plötzlich über dich geschwappt?“ Er ruderte wild mit den Armen, ja fast schon hysterisch.

„Nein“, wimmerte sie. „Ganz und gar nicht. Ich weiß es, seit dem ich ein Mädchen war.“

„Ach … Aber in unserer Hochzeitsnacht hattest du das ausgeblendet, oder was?“

„Tim, bitte. Es ist so schon schwer genug.“

Er schnellte hoch und marschierte fassungslos im Zimmer auf und ab. „Das glaube ich einfach nicht. Sag mal, was verlangst du von mir? Dass ich das einfach so hinnehme? Aber wenn es dir schlecht geht, dann bin ich gut genug für dich.“

„Nein, so ist es doch überhaupt nicht.“

„Wie ist es dann, Jasmine? Sag's mir. Wie ist es dann?“

„Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie das ist“, weinte sie. „Ein Leben zu leben, das man nicht leben will. Ich habe mich all die Jahre verstellt, habe mir selbst die Schuld gegeben. Aber damit ist jetzt Schluss. Ich will die Zeit, die mir noch bleibt einfach so gut es geht genießen. Ich will mich so geben, wie ich bin. Einfach nur so sein, wie ich wirklich bin. Ich selbst sein. Mehr nicht.“

Tim resignierte. Er krallte sich seine Bettwäsche und verließ mit hochrotem Kopf das Zimmer.

Gantenbein und die Tote in der Dusche

Подняться наверх