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1. DIE WEICHEN STELLEN: DAS ERRÖTEN DER DUSE
Оглавление»Alles soll genauso sein wie im richtigen Leben.«
Anton Tschechow zum Ensemble bei der Uraufführung seines Stückes Die Möwe, St. Petersburg 1896
Auf den ersten Blick unterscheidet sich der Raum kaum von jedem anderen kleinen Unterrichtsraum überall im Land – bis auf die beiden Betten. Die weiß verputzte Decke, die mattgelben, holzgetäfelten Wände und der blank polierte, asphaltschwarze Fliesenboden erinnern an den Campus eines Lehramt-Colleges irgendwo im Mittleren Westen oder, in aller klösterlichen Ruhe, an das Klassenzimmer einer Zwergschule am frühen Morgen.
Links der Raummitte steht ein großes graues Pult aus Holz schräg vor einer Schiefertafel – eindeutig der Platz des Lehrers. Links davon eröffnet eine Fensterwand den Blick auf einen Innenhof, von dem durch die Jalousien aber nur die Baumwipfel zu sehen sind. Unter den Fenstern stehen auf einem schlichten Podest zwei Reihen Klappstühle, insgesamt etwa zwanzig, für die Schüler bereit. Rechts und links von der Tafel hängen zwei gerahmte Sinnsprüche, sorgfältig im Stil illuminierter Manuskripte kalligraphiert. »Sei konkret!«, so lautet der eine, »Ein Gramm VERHALTEN wiegt schwerer als ein Kilo WORTE«, der andere.
Der Raum wirkt ganz normal, bis auf die beiden Betten, die jemand an die Wand gegenüber den Fenstern geschoben hat. Die Betten sind eigens aus Kantholz angefertigt, sie sind niedrig und breit, mit Sechs-Zoll-Stahlbolzen verschraubt, und sie scheinen stabil genug, um das Gewicht einer kompletten Fußballmannschaft zu tragen. Die gestreiften Drillich-Bezüge beider Matratzen sind zum Teil von einem zerwühlten grünen Baumwollüberwurf und einem Kissen ohne Kissenbezug verdeckt. Die Bettgestelle sind im selben Panzergrau gestrichen wie das Lehrerpult. Sie muten ein wenig surreal an. Vielleicht liegt es an ihrer übertriebenen Robustheit oder auch an der funktionellen Farbe, dass sie mehr wie Trampoline aussehen oder, so wie sie jetzt nebeneinanderstehen, wie der mit Zeltplane bespannte Boden eines Boxrings.
Andere, zunächst unauffällige Gegenstände verstärken den Magritte-haften Surrealismus der Betten: ein Bücherregal mit einem schwarzen Tischtelefon und zwei leeren Whiskeyflaschen im obersten Fach; ein Kleiderständer, dem eines seiner drei Beine fehlt; eine Fernsehtruhe ohne Inhalt; ein gegen die Wand gelehnter Spiegel, der das Abbild des Himmels zurückwirft; ein langer, ebenfalls grau gestrichener Holztisch. Zusammen machen sie die karge Einrichtung komplett.
In diesem ganz besonderen New Yorker Unterrichtsraum an der Neighborhood Playhouse School of the Theatre gibt Sanford Meisner Schauspielunterricht, so wie er es seit den frühen Dreißigern in Dutzenden ganz ähnlicher Räume getan hat. Die Gesamtzahl seiner Schüler während dieser fünfzig Jahre ist nicht bekannt, geht aber sicherlich in die Tausende. Obwohl kein Einzelner für alle sprechen kann, bringt vielleicht Joanne Woodward, die zunächst bei Sandy (so nannten ihn ausnahmslos alle seine Schüler) studierte und als Erwachsene noch einmal zu ihm zurückkehrte, auf den Punkt, was er den meisten von ihnen bedeutet hat. »Ich bin zu Sandy zurückgekehrt, weil er für mich ein Lehrer war«, erinnerte sie sich unlängst. »Für mich war er der einzige Lehrer. Damals hatte ich bereits The Three Faces of Eva (Eva mit den drei Gesichtern) gedreht und einen Oscar dafür bekommen. Es war 1959, und es war wie eine Offenbarung für mich. Ein gravierender Wendepunkt in meiner Entwicklung als Schauspielerin.«
Auch der amerikanische Dramatiker David Mamet, der bei Meisner am Neighborhood Playhouse Schauspielunterricht genommen hat, äußerte sich zu seiner Bedeutung. »Da war dieser Mann, der tatsächlich Bescheid wusste, vor allem aus der Sicht meiner Generation in den Sechzigern. Vielleicht die erste authentische Person, der ich und die meisten von uns im Leben begegnet sind. Sicher, er war ziemlich despotisch bei den Dingen, an die er glaubte, denn er wusste ja um ihre Wahrheit. Und wir wussten, dass wir es mit der Wahrheit zu tun hatten – beziehungsweise mit etwas absolut Anwendbarem, das absolut funktionierte und das wir unbedingt lernen wollten.«1
Sanford Meisner kam am 31. August 1905 in Greenpoint zur Welt, einem Stadtteil des New Yorker Bezirks Brooklyn, als ältestes Kind von Herman und Bertha Meisner. Wenige Monate nach der Geburt des Sohnes zogen die Meisners, beide jüdische Emigranten aus Ungarn – sie war als Baby nach New York gekommen, er als sechzehnjähriger Junge –, in die südliche Bronx, um sich dem Antisemitismus der polnischen Einwanderer in Greenpoint zu entziehen. Sie bezogen ein Haus in der Honeywell Avenue, wo zwei Jahre später ein zweiter Sohn, Jacob, geboren wurde. Während einer Reise in die Catskill Mountains, die als Kuraufenthalt für den kränklichen dreijährigen Sanford gedacht war, bekam der kleine Jacob versehentlich Rohmilch zu trinken, mit der fatalen Folge, dass er sich mit Rindertuberkulose infizierte, einer verheerenden Krankheit, von der sich der Zweitgeborene nie mehr erholte.
»Ich habe umfassende Erfahrungen mit der Psychoanalyse«, erzählte Meisner unlängst einem Journalisten, »ich weiß also sehr genau, dass der Tod meines Bruders, als ich fünf und er drei Jahre alt war, der beherrschende emotionale Einfluss in meinem Leben war, dem ich mich auch nach all den Jahren nicht entziehen konnte. Als ich in die Schule kam – und auch nach der Schule, eigentlich ständig –, lebte ich in einem Zustand der Isolation, als wäre ich so etwas wie ein moralisch Aussätziger, weil ich von meinen Eltern, die gute, aber nicht sonderlich gebildete Menschen waren, dauernd zu hören bekam, dass sie ja schließlich nur meinetwegen aufs Land gefahren seien, wo mein kleiner Bruder sich die Krankheit zugezogen hatte, an der er starb. Die Schuldgefühle, die sie damit auslösten, waren entsetzlich. Als Kind hatte ich kaum Freunde. Ich lebte in einer Phantasiewelt, und ich fürchte, das tue ich immer noch.«
Eine Schwester, Ruth, der Meisner sehr nahestand – sie starb 1983 –, und ein weiterer Bruder, Robert, der geboren wurde, als Meisner sechzehn und die Familie nach Flatbush, Brooklyn, gezogen war – später verlor Meisner den Kontakt zu ihm –, machten den Haushalt komplett.
Meisner erinnert sich, bereits seiner Grundschullehrerin erzählt zu haben, er wolle »Schauspieler werden«, wenn er groß sei, und schon als Jugendlicher inszenierte er mit diversen Cousins und Cousinen Tableaux Vivants, lebende Bilder, in denen es um Tod und Ehre ging und die auf den Aufnahmen amerikanischer Soldaten im Ersten Weltkrieg aus der Wochenschau basierten. Doch den Großteil seiner Kindheit und Jugend hindurch diente ihm das Familienklavier als emotionaler Ausgleich. Nach dem Abschluss an der Erasmus Hall High School 1923 schrieb er sich am Damrosch Institute of Musical Art ein, das später Teil der Juilliard School wurde, um dort ein Jahr lang Klavier und verwandte Fächer zu studieren. Doch der Gedanke, professioneller Schauspieler zu werden, ließ ihn nicht los, und mit neunzehn setzte er ihn in die Tat um.
»Ich wollte schon immer Schauspieler werden«, erinnert er sich. »Ich hatte einen Freund – damals lebte ich noch in Flatbush –, der auch Schauspieler werden wollte. Er hieß Monkey Tobias. Er erzählte mir, dass es da eine Einrichtung namens Theatre Guild gebe, die junge Leute engagiere, also ging ich dorthin. Philip Loeb und Theresa Hellburn führten ein Gespräch mit mir, und ich weiß noch, dass ich über meine Theatervergangenheit sehr kunstvoll gelogen habe; soweit ich mich erinnere, fing sie mit Salvini an. Ich weiß noch, dass sie lachten, aber sie lachten mich nicht aus. Ich bekam eine Statistenrolle in Sidney Howards Stück They Knew What They Wanted, die Hauptrolle spielte die großartige Pauline Lord. Die war ein Genie, schlicht und einfach. Sie saß hinter der Bühne und löste ihre Kreuzworträtsel. ›Welches Wort mit fünf Buchstaben bezeichnet eine Kopfbedeckung für Männer?‹, fragte sie. ›Mütze, Kappe?‹ Wie sollte sie das entscheiden? So schlicht und einfach war sie. Aber ein Genie. Sie hat die erste Anna Christie2 gespielt, und ich fand es wunderbar, sie spielen zu sehen. Damals erkannte ich allmählich, dass ich nach einer Art des Schauspielens suchte, die mich wirklich berührt.«
Herman Meisner war nach seiner Ankunft aus Ungarn Kürschner geworden, ein Beruf, den er mehr als fünfzig Jahre lang ausübte. Sein Sohn gibt eine wunderbar komische Parodie zum Besten, in der Herman einer jungen Frau im Nerzmantel vorgestellt wird, ihr galant die Hand küsst und dabei geschickt auf ihren Mantelärmel pustet, um Qualität und Wert des Pelzes zu bestimmen. Der Vater hatte ausdrücklich eine Laufbahn in der Bekleidungsbranche für seinen Sohn vorgesehen, und so arbeitete Meisner ihm zuliebe eine Zeit lang als Regalauffüller bei einem Hosenhersteller und in einem Kurzwarenladen. Das war vor seinem Erfolg bei der Theatre Guild. Auf die neue Laufbahn seines Sohnes reagierte der alte Meisner zunächst mit betroffenem Schweigen. »Ich habe es ihnen beim Abendessen erzählt«, erinnert sich Meisner. »Ich verkündete, ich sei jetzt Schauspieler. Totenstille. Keiner sagte ein Wort. Weder mein Vater noch meine Mutter noch meine Schwester. Dann, beim Nachtisch, fragte mein Vater: ›Was zahlen sie dir?‹ Ich antwortete: ›Also, wenn das Stück nach den ersten vier Wochen ein Erfolg ist, bekommt man zehn Dollar pro Woche.‹ Da war die Hölle los! Das Chaos, der Aufschrei am Tisch, die Ausbrüche, als ich zehn Dollar sagte – es war unbeschreiblich! Aber ich habe trotzdem weitergemacht!«
Meisner erhielt ein Stipendium für das Studium an der Theatre Guild School of Acting, die damals von Winifred Lenihan geleitet wurde, einer amerikanischen Schauspielerin, die als Erste Shaws Saint Joan (Die heilige Johanna) in New York gespielt hatte. Meisner beurteilte sie als »Technikerin des Repertoiretheaters« und die Schule selbst als »sehr mittelmäßig«. Zu dieser Zeit machte ein befreundeter Musiker Meisner mit Aaron Copland bekannt, einem jungen Komponisten, der gerade vom Studium aus Paris zurückgekehrt war und der Meisner wiederum einem ehemaligen Kommilitonen von der Sorbonne vorstellte, seinem Freund Harold Clurman, der, wie Copland erkannt hatte, eine ebenso große Leidenschaft für das Theater hegte wie Meisner. Clurman wurde bald als Inspizient und dann als Stückeleser bei der Theatre Guild engagiert. Durch diese Freundschaft lernte Meisner einen weiteren jungen Theaterbegeisterten kennen: Lee Strasberg. »Strasberg hatte einen großen und beflügelnden Einfluss auf mich«, erinnert sich Meisner. »Er hat mich mit hochkarätigen Schauspielern und Künstlern jeder Sparte bekannt gemacht, was enorm dazu beigetragen hat, mich emotional zu festigen. Ich habe viel von ihm gelernt. Mit seiner Hilfe konnte ich meinen natürlichen Interessen und Vorlieben nachgehen und sie stärken. Wir gingen beispielsweise zusammen in die Metropolitan Opera und erlebten dort den großen russischen Sänger Schaljapin. Er war überragend in seiner formalen Theatralität und seiner tiefen emotionalen Wahrhaftigkeit.«
Clurman und Strasberg taten sich mit Cheryl Crawford zusammen, die ebenfalls bei der Theatre Guild arbeitete, und 1931, nach einer dreijährigen Gesprächs- und Finanzierungsphase, wählte dieses Triumvirat achtundzwanzig Schauspieler aus, um mit ihnen das legendäre Group Theatre zu gründen. Obwohl es nur zehn Jahre bestand, sollte das Group Theatre enormen Einfluss auf die Entwicklung der amerikanischen Schauspielkunst haben. Der damals erst fünfundzwanzigjährige Meisner war Gründungsmitglied. Eine glückliche Fügung. »Ohne das Group Theatre«, so Meisner, »wäre ich in der Pelzbranche gelandet.«
Einen Einblick in die Bedeutung des Group Theatre für das künstlerische Leben in den Vereinigten Staaten der Dreißigerjahre bietet der Dramatiker Arthur Miller:
»Das Gefühl der Verbundenheit mit dem Theater entstand erst, als ich mir die Inszenierungen des Group Theatre ansah«, schreibt Miller im Vorwort zu seinen Collected Plays (die 1957 erschienen, dreißig Jahre nach der Auflösung des Group Theatre). »Das lag nicht nur an dem brillanten Ensemblespiel, das meiner Meinung nach in Amerika bis heute unerreicht geblieben ist, sondern auch an der Atmosphäre der Einheit zwischen Schauspielern und Zuschauern. Hier war die Verheißung eines prophetischen Theaters zu spüren, die vor meinem geistigen Auge die Situation im alten Griechenland heraufbeschwor, als Religion und Glaube das Herzstück des Dramas bildeten. Ich sah mir die Vorstellungen des Group Theatre für 75 Cent von meinem Platz im Rang an, und in der Pause konnte man die Erregung und die Begeisterung von Menschen spüren, die sich nicht nur in ihrem Herzen, sondern auch geistig angesprochen fühlten. Auch wenn ich sagen muss, dass ich als Schriftsteller an den Stücken etwas auszusetzen hatte, so soll das nicht von der Tatsache ablenken, dass mich fast alle Vorstellungen begeisterten …«3
Als das Group Theatre 1938 mit seiner erfolgreichsten Inszenierung, Golden Boy von Clifford Odets, in London gastierte (Meisner übernahm darin die Rolle des gemeinen Gangsters Eddie Fuseli), schrieb James Agate, der Kritiker der Londoner Times, einfach nur: »Hier wird ein schauspielerisches Niveau erreicht, von dem wir in dieser Form nicht die geringste Ahnung haben.«
Die schauspielerische Qualität des Group Theatre fußt auf dem berühmten Moskauer Künstlertheater sowie auf der von dessen Mitbegründer Konstantin Stanislawski entwickelten Schauspieltheorie und -praxis, dem Stanislawski-System. Stanislawski prägte das Group Theatre auf doppelte Weise. Zum einen war er der Lehrer von Richard Boleslavski und Maria Ouspenskaya gewesen, zwei wichtigen Schauspielern des Moskauer Künstlertheaters, die nach New York ausgewandert waren und dort 1923 mit dem American Laboratory Theatre ihre eigene Schauspielschule gegründet hatten. In den sechs Jahren ihres Bestehens vermittelte diese Schule mehreren Hundert amerikanischen Schauspielern und Regisseuren eine frühe Version des Stanislawski-Systems. Die Schauspielerinnen Stella Adler, Ruth Nelson und Eunice Stoddard nahmen dort Unterricht und waren Mitglieder im festen Ensemble des »Lab«, bis sie zum Group Theatre wechselten. Auch Lee Strasberg war 1924 Schüler am »Lab« und hatte, zusammen mit Harold Clurman, dort auch Regie studiert.
Clurman schrieb später in seinem Buch The Fervent Years, einer Geschichte des Group Theatre: »Die erste Auswirkung [des Stanislawski-Systems] auf die Schauspieler war wie ein Wunder. […] Da war er endlich, der Schlüssel zu diesem schwer fassbaren Element des Bühnenlebens: den wahrhaftigen Emotionen. Und Strasberg [der in den Anfangsjahren des Group Theatre bei fast allen Inszenierungen Regie führte] war ein echter Fanatiker, wenn es um wahrhaftige Emotionen ging. Alles andere war Nebensache. Er forschte mit der Geduld eines Inquisitors danach, empörte sich über trickreiche Ersatzmittel, und wenn es ihm dann gelungen war, die Emotionen zu wecken, hegte und pflegte er sie, nährte sie und bot ihnen Schutz. Für die meisten Schauspieler war das etwas Neues, etwas sehr Grundlegendes, fast schon Heiliges. Es war eine Offenbarung für das Theater, und Strasberg war sein Prophet.«
Stanislawskis zweiter Kontakt mit dem Group Theatre war um einiges direkter. Im Frühjahr 1934 trafen sich Harold Clurman und Stella Adler mit dem russischen Regisseur in Paris, und Stella Adler arbeitete mehr als fünf Wochen lang mit ihm, um jene Aspekte des Systems (in der Version, die Strasberg ihr beigebracht hatte) zu klären, die ihr und den anderen Group-Mitgliedern Schwierigkeiten bereiteten. Das Ergebnis dieser Arbeit, das sie dem Group Theatre im Sommer desselben Jahres präsentierte, bestand darin, dem »affektiven Gedächtnis«, das Strasberg sehr in den Vordergrund stellte – und das vielleicht als bewusster Versuch des Schauspielers verstanden werden kann, sich an die genauen Umstände eines emotionsgeladenen Ereignisses aus seiner realen Vergangenheit zu erinnern, um damit ein Gefühl zu aktivieren, das er auf der Bühne verwenden kann –, etwas von seiner Bedeutung zu nehmen. Stattdessen, so Stella Adler, sei Stanislawski inzwischen der Ansicht, dass der Schlüssel zu den wahrhaftigen Emotionen in einem vollständigen Verständnis der »gegebenen Umstände« – der menschlichen Probleme also – im Stück selbst liege. Diese Verlagerung des Schwerpunkts erwies sich als kontrovers und war der direkte Auslöser dafür, dass Strasberg an Einfluss auf die Schauspieltruppe verlor und sich 1935 schließlich vom Group Theatre verabschiedete. Meisner schlug sich in der Streitfrage auf die Seite Stella Adlers, die später eine angesehene Schauspiellehrerin und enge Freundin werden sollte, und so spielt das affektive oder emotionale Gedächtnis bei der von Meisner entwickelten Methode keine Rolle.
Auf die Frage, wie er mit dem Stanislawski-System in Kontakt gekommen sei, antwortete Meisner ganz offen: »Über das Group Theatre unter der wegweisenden Leitung von Harold Clurman und Lee Strasberg, über Stella Adler, die mit Stanislawski selbst gearbeitet hat und der ich mit Aufmerksamkeit und großem Gewinn gelauscht habe, und über den Schauspieler Michael Tschechow, der mir klargemacht hat, dass Wahrheit, wie beim Naturalismus, immer weit entfernt ist von der ganzen Wahrheit. Bei ihm durfte ich eine aufregende theatrale Form ohne inneren Bedeutungsverlust beobachten, und da wusste ich, das wollte ich auch. Und schließlich noch über den luziden und objektiven Ansatz [Ilja J.] Sudakovs und [Josef M.] Rapoports« – zwei russische Theoretiker, deren Schriften die Bedeutung des realen Handelns, der Grundlage von Meisners Methode, betonen und in den Dreißigern in einer englischen Übersetzung im Group-Ensemble die Runde machten.4
Im November 1936 hatte eine neue Inszenierung des Group Theatre Premiere: Johnny Johnson (A Legend) von Paul Green. Das Stück ist heute vor allem wegen seiner Musik bekannt, der ersten Arbeit des deutschen Emigranten Kurt Weill in den Vereinigten Staaten. Im Programmheft zum Stück veröffentlichte Sanford Meisner im Darstellerverzeichnis eine biographische Notiz, die in zweierlei Hinsicht bemerkenswert ist. Zum einen offenbart sie, wie er selbst seine Schauspielkarriere beurteilte, zum anderen kündigt der letzte Satz den Beginn einer neuen Karriere an: »Sanford Meisner (Captain Valentine) war so lange mit der Aufgabe des Fahnenträgers betraut, dass es wie ein großer – aber erfreulicher – Schock wirkte, ihn in Gold Eagle Guy [dem von Melvin Levy verfassten und 1934 aufgeführten Stück] in einer waschechten Charakterrolle zu erleben. Er hielt sowohl für die Theatre Guild, wo er seine Ausbildung absolvierte, als auch für das Group Theatre die Fahne hoch. Meisner stammt aus Brooklyn, hat allerdings dafür gesorgt, seine Schulbildung nach Manhattan zu verlegen. Er besuchte unter anderem das Damrosch-Konservatorium, das einen versierten Pianisten aus ihm machte. Seit Gold Eagle Guy ist er regelmäßig in größeren Rollen beim Group Theatre zu sehen. Er unterrichtet Schauspiel am Neighborhood Playhouse.«
Der Schritt vom Fahnenträger zum Schauspiellehrer ist eine amüsante Metapher. In Wirklichkeit stand Meisners Karriere als Schauspieler längst in voller Blüte. Allein in der vorangegangenen Spielzeit hatte er in zwei Stücken von Clifford Odets, dem Hausautor des Group Theatre, zwei von der Kritik gefeierte Rollen gespielt: Sam Feinschreiber in Awake and Sing! (Wachet auf und rühmet!) und Julie, den jüngeren Sohn aus Paradise Lost (Verlorenes Paradies), der an der Schlafkrankheit leidet – die Rolle, die Meisner selbst für die beste seiner ganzen Laufbahn hält. Außerdem hatte er zusammen mit Odets bei dessen berühmtem Einakter Waiting for Lefty (Warten auf Lefty) Regie geführt. Künftig sollte Meisner noch weitere wichtige Rollen in Odets-Stücken wie Rocket to the Moon (Brücke zum Mond, 1938) und Night Music (1940) übernehmen und auch nach der Auflösung des Group Theatre 1941 weiterhin auf der Bühne stehen. Seine letzte Bühnenrolle war Norbert Mandel in The Cold Wind and the Warm von Samuel Nathaniel Behrman unter der Regie Harold Clurmans, das im Dezember 1958 Premiere hatte. Im Jahr darauf, nach dem Bruch mit der Leitung des Neighborhood Playhouse, wurde er Leiter der New Talent Division bei 20th Century Fox und zog nach Los Angeles, wo er eine vielversprechende Karriere als Filmschauspieler begann.
Das Unterrichten blieb jedoch das Einzige, das den älteren Meisner emotional ebenso tief zufriedenstellte, wie es das Klavierspielen in jüngeren Jahren getan hatte. »Nur, wenn ich unterrichte, bin ich ganz frei und empfinde Vergnügen«, hat er wiederholt geäußert. »Ich genieße es, Aspekte der Technik zu analysieren. Ich arbeite gern mit Menschen, die mit einer gewissen Ernsthaftigkeit und Tiefe an ihre Aufgabe herangehen. Wenn ich unterrichte, fühle ich mich lebendig und zugehörig. Für mich ist das ein emotionales Ventil.« Der Grund dafür lässt sich leicht nachvollziehen. »All meine Übungen«, erzählte er in einem Interview vor bald zehn Jahren, »sind dafür entwickelt worden, das Leitprinzip zu stärken, das ich im Group Theatre so nachdrücklich erlernt habe: dass die Kunst nämlich Ausdruck menschlicher Erfahrung ist, ein Prinzip, das ich nie aufgegeben habe und auch niemals aufgeben werde. Und jetzt, nach etwa vierzig Jahren, arbeite ich mit den Schauspielern auf eine Weise, die sich in der Praxis offenbar bewährt hat.«5
1962 kehrte Meisner nach New York zurück, um den Fachbereich Schauspiel der neu gegründeten American Musical Theatre Academy zu leiten. Zwei Jahre später kehrte er ans Neighborhood Playhouse zurück, wo er bis heute unterrichtet.6 Das Playhouse ist inzwischen sein Heimathafen gewor den, wie es das schon vor fünfzig Jahren war, als er erstmals dort unterrichtete und seine Berufung im Programmheft zu Johnny Johnson verkündete – vielleicht in ähnlicher Weise, wie er damals mit gerade einmal neunzehn Jahren seiner fassungslosen Familie beim Abendessen mitteilte, er wolle Schauspieler werden.
Heute, mehr als sechzig Jahre später, haben sein fortgeschrittenes Alter und einige Unfälle Meisner massive körperliche Einschränkungen auferlegt. Seit er sich wegen des Grauen Stars und Netzhautablösungen an beiden Augen mehreren Operationen unterziehen musste, trägt er eine dicke Brille. Noch verheerender waren die beiden Operationen, die er aufgrund von Kehlkopfkrebs über sich ergehen lassen musste, die erste davon bereits vor über zehn Jahren, und die ihn im wahrsten Sinne des Wortes sprachlos zurückließen. Unter großen Mühen lernte er danach das Sprechen wieder neu, indem er Luft in die Speiseröhre einatmet und diese als kontrolliertes Rülpsen wieder ausströmen lässt. Wenn man diese Ösophagussprache zum ersten Mal hört, kann sie verstörend wirken, doch man gewöhnt sich als Zuhörer schnell daran. Es klingt wie ein seltsam geisterhaftes, von explosiven Konsonanten und Knacklauten sowie gelegentlichen Hustenanfällen durchsetztes Keuchen. Wenn Meisner heute unterrichtet, wird seine »Stimme« mit Hilfe eines Mikrofons verstärkt, das am linken Brillenbügel befestigt und mit einem kleinen Sender verbunden ist. Dieser überträgt die Worte an einen Lautsprecher auf der anderen Seite des Raumes, gegenüber von Meisners Pult, was den geisterhaften Eindruck noch verstärkt. Und als wären das noch nicht genug Schicksalsschläge, wurde er vor drei Jahren auch noch beim Überqueren der Straße von einem außer Kontrolle geratenen Lieferwagen erfasst und trug einen zwölffachen Bruch am linken Oberschenkel und an der linken Hüfte davon. Nach den notwendigen Operationen kann er nur noch mit Hilfe eines Stockes gehen. Die Sommermonate und den tiefsten Winter verbringt er inzwischen nicht mehr in New York, sondern in einem Haus, das er sich zusammen mit seinem engen Freund James Carville vor zwanzig Jahren auf der Insel Bequia in der Karibik gebaut hat. Das warme Klima und Wasser der Tropen sind Balsam für ihn.
Und dennoch unterrichtet Meisner weiter. In seiner Vorstellung, so hat er es einmal in einem Interview erzählt, sieht er sich wie einen »bekannten Maler« (er meint damit den französischen Künstler Raoul Dufy, vermutlich so, wie er auf dem berühmten Foto von Brassaï7 bei der Arbeit zu sehen ist). »Als er über achtzig war, hatte die Arthritis seine Hände derart verformt, dass er den Pinsel nicht mehr halten konnte. Da bat er jemanden, ihm den Pinsel irgendwie an der Hand zu befestigen, und hat weitergemalt. Ich kehre jetzt, mit all meinen Einschränkungen – ich kann schwer sprechen, ich sehe schlecht –, in diese eisige Stadt zurück, um wieder zu unterrichten! Manche glauben, man hätte mich dazu überredet. Aber das stimmt nicht. Man kann mich zu nichts überreden, was ich nicht will. Und ich will das. Wenn ich unterrichte, bin ich am glücklichsten.«8
Vielleicht liegt der Grund ja in dem Wunder, das Harold Clurman beschreibt, dem »fast schon heiligen« Wunder wahrhaftiger Emotionen. Oder er hat seine Wurzeln in Meisners Bemerkung über das Genie der Pauline Lord: »Durch sie erkannte ich allmählich, dass ich nach einer Art des Schauspielens suchte, die mich wirklich berührt.«
»Habe ich Ihnen schon mal die Geschichte von Eleonora Duse erzählt?«, fragte Meisner kürzlich einen Besucher in seinem Büro. »Wirklich nicht?« Nachdem er sich noch einmal versichert hatte, berichtete er von George Bernard Shaws Kritik über die legendäre italienische Schauspielerin 1895 in dem Stück Heimat von Hermann Sudermann (das Stück ist auch unter dem Titel Magda bekannt, der Rolle der Duse). Shaw schrieb damals Folgendes: »Magda ist plötzlich auf sich allein gestellt, weil sie, die Tochter, sich dem Willen ihres Vaters nicht fügen will, einem dieser abscheulichen Charaktere, die den eigenen Drang danach, jeden nach ihrer Pfeife tanzen zu lassen, mit den geheiligten Grundprinzipien des Familienlebens verwechseln. Sie macht harte Zeiten durch, feiert aber schließlich Erfolge als Opernsängerin, allerdings erst, nachdem ihr einsames Ringen sie trostsuchend in die Arme eines Mitstudenten getrieben hat, der sich alsbald aus dem Staub macht, während sie sich, so gut sie kann, mit der bevorstehenden Mutterschaft arrangieren muss. Auf dem Höhepunkt ihres Ruhmes kehrt sie in ihren Heimatort zurück und sucht, in einem Anfall von Heimweh, ihren Vater auf, der einwilligt, sie zu empfangen. Kaum ist sie wieder im Haus, muss sie feststellen, dass der Vater ihres Kindes inzwischen ein enger Freund der Familie ist. Im dritten Akt des Stückes wird ihr der Besuch angekündigt […] In dem Augenblick, als das Dienstmädchen ihr die Visitenkarte reichte, wurde dem Zuschauer klar, was es für sie bedeutete, sich einer Begegnung mit diesem Mann gegenüberzusehen. Es war interessant zu beobachten, wie sie es dann doch durchstand und wie es ihr im Großen und Ganzen auch recht gut gelang. Er machte seine Aufwartung und überreichte seine Blumen, sie nahmen Platz, und sie hatte offensichtlich das Gefühl, sicher darüber hinweg zu sein und sich eine gewisse Ungezwungenheit gestatten und ihn anschauen zu können, um zu sehen, wie sehr er sich verändert hatte. Doch dann geschah ihr etwas Furchtbares. Sie errötete, wurde sich dessen im nächsten Moment bewusst, und die Röte breitete sich langsam aus und wurde stärker, bis sie schließlich, nach einigen vergeblichen Versuchen, das Gesicht abzuwenden oder ihn davon abzulenken, ganz aufgab und ihr Erröten in den Händen barg. Nach dieser schauspielerischen Glanzleistung braucht mir niemand mehr zu erklären, weshalb die Duse keine zentimeterdicke Schminke verwendet. Ich konnte keinerlei Tricks erkennen: Es schien mir ganz und gar auf der Wirkung der dramatischen Vorstellungskraft zu beruhen […] und ich muss mich zu der tiefempfundenen beruflichen Neugier bekennen, ob es wohl jedes Mal so spontan gelingt.«9
Meisners Zusammenfassung dieser Schilderung ist sehr viel kürzer, in den entscheidenden Details aber korrekt. Mehr noch, seine Begeisterung und sein echtes Staunen über Shaws Geschichte vom Erröten der Duse sind ansteckend, obwohl er die Geschichte schon hundert Mal erzählt hat. Es ist, als wäre die Zeit stehen geblieben und Sanford Meisner könnte sich auf ewig am Wunder dieses Augenblicks erfreuen. Und für einen Moment begreift man, wie dieser außergewöhnliche Mann ein so außergewöhnliches Leben führen konnte.
»Die Duse hat in einem Stück mit dem Titel Magda gespielt, und da gibt es diese eine Szene im letzten Akt. Als junge Frau hatte sie eine Affäre mit einem Kerl, der aus dem gleichen Heimatort stammt, und bekam ein Kind von ihm. Etwa fünfundzwanzig Jahre später kehrt sie zurück, um ihre Eltern zu besuchen, die noch dort leben, und ihr früherer Geliebter macht seine Aufwartung. Sie nimmt seine Blumen – das habe ich alles von Shaw –, und sie setzen sich hin und plaudern. Aber plötzlich merkt sie, dass sie rot wird, und am Ende ist es so schlimm, dass sie den Kopf senkt und verlegen ihr Gesicht versteckt. Das nenne ich eine realistische Darstellung! Und Shaw bekennt sich zu der professionellen Neugier, ob das wohl jedes Mal so klappt, wenn sie diese Rolle spielt. Natürlich nicht. Aber dieses Erröten, das ist der Inbegriff wahrhaftigen Lebens unter imaginären Gegebenheiten, was meiner Definition von gutem Schauspiel entspricht. Dieses Erröten kam aus ihr selbst. Sie war ein Genie!«
1 Die Zitate von Woodward und Mamet sind aus den Interviews transkribiert, die für den Dokumentarfilm Sanford Meisner: The Theater’s Best Kept Secret geführt wurden (produziert von Kent Paul, Verleih: Columbia Pictures).
2 Pauline Lord übernahm 1921 am Broadway die Titelrolle in Eugene O’Neills gleichnamigem Theaterstück. (Anm. d. Red.)
3 Die deutsche Fassung des Vorworts findet sich in: Arthur Miller, Stücke 1. Frankfurt am Main 2009, S. 23. Übersetzt von Harriet Fricke. (Anm. d. Ü.)
4 Paul Gray, »The Reality of Doing«, in: Tulane Drama Review (Sonderausgabe: »Stanislavsky in America«), Herbst 1964, S. 139.
5 Suzanne Shepherd, »Sanford Meisner« in: Yale/Theatre, Vol. 8, Nr. 2 und 3, S. 42–43.
6 Bei Erscheinen des Buches 1987 war Meisner 81 Jahre alt. Er unterrichtete bis 1990 am Neighborhood Playhouse. (Anm. d. Red.)
7 Brassaï (eigtl. Gyula Halász, 1899–1984), französischer Fotograf ungarischer Herkunft. (Anm. d. Red.)
8 In: Shepherd, a. a. O.
9 George Bernard Shaw in der Saturday Review, 15. Juni 1895.