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3. DAS KNEIFEN UND DAS AUTSCH

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MEISNER: Wie fühlt es sich für dich an, Bruce, wenn du die Bewegungen deiner Partnerin nachmachst?

BRUCE: Es entlastet mich.

MEISNER: Wenn man sich entlasten kann, wie Bruce das gerade formuliert hat, wenn man die Konzentration auf etwas anderes als sich selber richten kann, dann hat man schon sehr viel gewonnen.

3. Oktober

»Also.« Meisner richtet sich an den jungen Mann, der in der letzten Unterrichtsstunde das Hemd mit den pinken Buchstaben anhatte. »Du bist Vincent, und deine Partnerin heißt …?«

»Anna«, sagt die schlanke, dunkelhaarige Frau, die direkt vor ihm sitzt.

»Anna. Gut. Steht jetzt auf und dreht einander den Rücken zu.«

»So, dass wir uns berühren?«, fragt Vincent.

»Ohne Berührung. Vince, komm mal her.«

Vincent geht zu dem grauen Pult hinüber, an dem Meisner sitzt, und sie beraten sich kurz. Dann stellt sich Vincent wieder auf seinen Platz vorne im Raum, mit dem Rücken zu Anna. Er nimmt ein paar Münzen aus der Hosentasche und lässt sie zu Boden fallen.

»Hast du Münzen fallen lassen?«, fragt Anna.

»Ich habe Münzen fallen lassen.«

»Ja, du hast Münzen fallen lassen.«

»Ja, ich habe Münzen fallen lassen.«

»Gut, passt mal auf«, unterbricht Meisner das Wiederholungsspiel. »Vince, ich würde sagen, du hast inzwischen festgestellt, dass sie gute Ohren hat, und das hättest du ihr sagen können. Du hättest das gesagt, weil eine Handlung von ihr dich dazu gebracht hat. Und du, Anna, hättest deinerseits schon mit einem gewissen Recht behaupten können, dass er sorglos mit Geld umgeht, weil er die Münzen fallen gelassen hat.«

»Das wäre aber eine Vermutung«, wendet Vincent ein.

»Es wäre eine Vermutung, die du bestreiten könntest. ›Ich gehe nicht sorglos mit Geld um!‹ Kannst du das nachvollziehen?«

»Ja.«

»Gut. Dann überlegt euch etwas Neues und fangt noch einmal an, ganz langsam.«

Kurz darauf stößt Anna Vincent den Ellbogen in den Rücken.

»Du hast mich in den Rücken geboxt!«

»Ich habe dich in den Rücken geboxt.«

»Du hast mich in den Rücken geboxt.«

»Ja, ich habe dich in den Rücken geboxt.«

»Ja, du hast mich in den Rücken geboxt.«

»Ja«, sagt sie, belustigt über seinem ungehaltenen Ton, »ich habe dich in den Rücken geboxt.«

»Was ist daran witzig?«, faucht er.

»Was ist daran witzig?«

»Was ist daran witzig?«, wiederholt er.

»Was ist daran witzig?«

»Was ist daran witzig?« Vincent betont das erste Wort unnatürlich stark. Sofort bricht Meisner ab.

»Nein! Das ist Interpretation! Bis dahin war alles sehr gut, aber ›Was ist daran witzig?‹ war der Versuch, etwas zu variieren. Ich zeige euch mal was. Es gibt einen Punkt, an dem sich der verbale Kontakt zwischen euch verändert, und der beruht auf Instinkt. Instinkt. Ich zeige euch gleich, was ich damit meine. Stell dir vor, Vince, du gehst mit einem guten Freund in ein Kaufhaus und sagst: ›Siehst du die Krawatte da? Die will ich haben!‹ Oder du gehst auf eine Party, siehst dort ein Mädchen und sagst dir: ›Die schnappe ich mir!‹ Da meldet sich dein Instinkt. Kannst du das nachvollziehen? In dieser Übung ändern sich die Wörter also so, wie euer Instinkt es euch diktiert. Ich zeige euch, wie das funktioniert.« Er beugt sich zu Vincent hinüber und sagt leise zu ihm: »Egal, worum ich dich bitte, Vince, die Antwort ist immer ›Nein‹.« Dann sagt er, wieder laut: »Kannst du mir zwanzig Dollar leihen?«

»Kann ich Ihnen zwanzig Dollar leihen?«

»Kannst du mir zwanzig Dollar leihen?«

»Nein, ich kann Ihnen keine zwanzig Dollar leihen.«

»Du kannst mir keine zwanzig Dollar leihen?«

»Ich kann Ihnen keine zwanzig Dollar leihen.«

»Nein?«

»Nein.«

»Nein?«

»Nein!«

»Du bist ein Scheißkerl!«

»Ich bin ein Scheißkerl!«

»Das habe ich doch schon gesagt!« Die Schüler lachen, und als das Gelächter wieder abebbt, fügt Meisner noch hinzu: »Diese Veränderung kam durch den Instinkt.«

Nach kurzem Schweigen schaut er Anna an und mustert sie mit übertrieben lüsternem Blick durch seine dicken Brillengläser. »Kommst du heute Abend noch zu mir?«

»Komme ich heute Abend noch zu Ihnen?«

»Kommst du heute Abend noch zu mir?«

»Komme ich heute Abend noch zu Ihnen?«

»Kommst du heute Abend noch zu mir?«

»Nein, ich komme heute Abend nicht noch zu Ihnen.«

»Du kommst heute Abend nicht noch zu mir?« Er wirft ihr einen vernichtenden, verächtlichen Blick zu. »Du bist wohl die Jungfrau vom Dienst!«

Wieder lachen alle.

»Dann reden wir jetzt mal darüber. Wann wird eine instinktive Reaktion in uns ausgelöst? Wie kommt es dazu?«

»Man hat sie in sich«, sagt Vincent. »Sie taucht ganz plötzlich auf.«

»Stimmt. Du wolltest mir keine zwanzig Dollar leihen, deshalb habe ich dich als Scheißkerl bezeichnet. Sie hat gesagt, sie will nicht mit zu mir kommen, und zwar auf eine Art, dass mein Instinkt mir sagt, sie ist die Jungfrau vom Dienst. Wenn so etwas in einer Übung passiert, ändert es den Dialog. Der Instinkt ändert den Dialog. Dann macht ihr weiter und wartet, bis der Instinkt ihn erneut ändert. Gibt es Fragen? Ray?«

»Was ist, wenn der Partner nichts macht«, fragt Ray, »und der Instinkt einem sagt, dass das nervt?«

»Verwende es!«

»Dann kann man also sagen: ›Du machst ja gar nichts!‹«

»Oder: ›Du nervst mich!‹«

»›Du nervst mich!‹ Dann ist es aber doch eigentlich so, dass da nie nichts ist.«

»So etwas wie Nichts«, sagt Meisner, »gibt es nicht. So etwas wie Nichts gibt es nicht. So etwas wie Nichts gibt es nicht.«

»Was ist mit Schweigen?«, will Sarah wissen.

»Nun, Schweigen ist doch auch ein Moment. Ein Moment des Schweigens ist auch etwas. Ich werde es dir beweisen. Frag mich, ob ich glaube, dass du Talent hast.«

»Mr. Meisner, glauben Sie, dass ich Talent habe?«

Er wendet den Kopf ab, sieht sie nicht an und verharrt in tiefem Schweigen. Die anderen Schüler fangen an zu lachen.

»Das war Schweigen, oder?«, fragt Meisner, als sich das Gelächter wieder gelegt hat.

»Ja, schon…« Sarah sucht nach Worten.

»Dieses ›Ja, schon…‹ ist genau der Punkt. Und zwar deswegen, weil mein Schweigen sehr vielsagend war«, sagt Meisner. »Schweigen kann unzählige Bedeutungen haben. Im Theater ist Schweigen bloß die Abwesenheit von Worten, aber niemals die Abwesenheit von Bedeutung.«

Einen Augenblick lang herrscht Stille.

»Soll das heißen, ich muss nicht nur nach dem Äußeren meines Partners gehen und sagen: ›Du trägst ein graues Hemd, du trägst ein graues Hemd‹, wenn wir das Wiederholungsspiel machen?«, fragt Rose Marie. »Wenn er gelangweilt guckt, könnte ich dann auch sagen: ›Du guckst gelangweilt‹? Könnte ich so ein Urteil fällen?«

»Was sein Verhalten angeht, ja. Es gibt immer einen Punkt, an dem einer von euch beiden das aufgreifen muss, was die Wiederholung mit ihm macht. Was das ist, interessiert mich nicht. Die Wiederholung langweilt dich? Dann kann das die Veränderung sein. Oder vielleicht klingt dein Partner ein bisschen verärgert; daraus kann dann die Veränderung entstehen: ›Du bist sauer auf mich.‹ Mit anderen Worten, dein Instinkt registriert die Veränderung in seinem Verhalten, und das ändert auch den Dialog. Ich rede nur vom Instinkt. Du gehst in einen Laden und siehst ein Kleid. ›Das ist meins!‹ So funktioniert Instinkt. Ich will damit sagen, wenn ihr euch die nötige Zeit gebt, dann findet … ich möchte nicht ›automatisch‹ sagen, das Wort mag ich nicht … dann findet ganz spontan eine Veränderung in euch statt. Daran solltet ihr jetzt arbeiten. Lasst euch die Veränderungen von eurem Instinkt diktieren, nicht von der Wiederholung.«

»Wir haben damit begonnen, über Instinkt zu sprechen. Jetzt wollen wir darüber reden, wo eigentlich das Talent herkommt. Ich bin überzeugt, Talent kommt aus dem Instinkt. Was heißt das genau? Kann es jemand erläutern?«

Rose Marie meldet sich. »Ich glaube, eigentlich haben wir alle den gleichen Instinkt, und wenn wir uns nur erlauben, ganz schlicht und unverstellt zu sein, dann kommen diese Instinkte oder Talente auch zum Vorschein. Vorausgesetzt, dass man sich tatsächlich erlaubt, offen und ehrlich zu sein.«

»Aha«, sagt Meisner. »Aber die heutige Tendenz geht ja dahin, den eigenen Instinkten nur dann zu folgen, wenn sie gesellschaftlich sanktioniert sind. Wir fürchten uns davor, als unkultiviert zu gelten, weil uns etwas gefällt oder eben nicht gefällt. Denkt nur an eine Tochter aus gutem Hause. Sie hat gelernt, immer nur das zu sagen, was gesellschaftlich akzeptabel ist. Die junge Dame besucht also eine Theateraufführung, in der ihre Freundin mitspielt, und ihre ehrliche Reaktion ist, dass sie den Auftritt grauenhaft findet. Aber als sie hinter die Bühne kommt, strahlt sie und ringt sich mit zusammengebissenen Zähnen ein ›Großartig!‹ ab.«

Die Schüler lachen über Meisners lebensechte Darstellung einer höheren Tochter.

»Man sieht, wie sie den Kiefer anspannen muss, damit der echte, instinktive Kommentar nicht durchflutscht. Für Schauspieler ist das gar nicht gut. Könnt ihr erkennen, dass eine solche Kontrolle das genaue Gegenteil des spontanen, vollständig instinktiven Verhaltens ist, von dem wir hier reden?«

Jetzt machen sich Wendy und Jim, ein hellblondes Pärchen Anfang zwanzig, an das Wortwiederholungsspiel. Nach ein paar Minuten werden sie von Meisner unterbrochen.

»Wartet mal, ihr beiden. Wendy, du verhältst dich selbstmanipulativ. Weißt du, was das bedeutet?«

»Ja, aber ich weiß nicht, warum Sie das jetzt sagen.«

»Ich sage es, weil du es tust. Du kontrollierst das, was du sagst, die Kontrolle sollte aber bei ihm liegen. Das heißt, du verhältst dich selbstmanipulativ. Verstehst du?«

»Aber muss er sich diese Kontrolle dann nicht nehmen?«

»Wie bitte?«

»Sie sagen, ich hätte die Kontrolle über uns. Ist er dann nicht auch dafür verantwortlich?«

»Seine Verantwortung, wie auch deine, ist es, zu wiederholen. Du arbeitest zu sehr mit dem Kopf. Du hast die Übung nicht verstanden, weil du denkst, du müsstest deine Antworten manipulieren, dabei musst du nur das, was du hörst, wiederholen. Wenn du das wiederholst, was du hörst, brauchst du nie nach Worten zu suchen. Bei dir überlegt sich der Kopf, was du sagen, was du als Nächstes tun sollst. Was willst du dagegen tun?«

»Nicht nachdenken. Ich kann das sehr gut nachvollziehen, ich bin nämlich Tänzerin, und wenn ich richtig gut bin, denke ich gar nicht mehr über meine Schritte nach, weil ich sowieso weiß, wie ich es machen muss. Es passiert einfach.«

»Aber hier muss es auch einfach passieren, verstehst du? Jim, du hast ein ähnliches Problem. Nicht ganz so stark, aber ähnlich. Was tust du dagegen?«

»Wie Sie sagen: nicht drüber nachdenken. Einfach versuchen, das zu nehmen, was da ist.«

»Hört vor allem zu. Ich schlage vor, ihr macht mit der Wortwiederholung weiter, legt einfach los, und je weniger ihr dabei euer Gehirn einschaltet, desto besser werdet ihr wahrscheinlich sein. Es geht darum, zu wiederholen, was ihr hört. Erfindet nichts! Dann ist es immer besser, zu sagen: ›Ich hänge, hören wir auf‹, um dann noch einmal mit etwas Neuem anzufangen. Aber Denken spielt bei diesem Vorgang keine Rolle.«

Kurz darauf fragt Meisner: »Wendy, was empfindest du gerade?«

»Ich fühle mich … Wissen Sie, ich hätte gar nicht gedacht, dass ich so viel denke, aber wahrscheinlich tue ich das doch. Und es ist wahrscheinlich gut, dass mir das jetzt klar wird, bevor ich Schwierigkeiten damit bekomme. Das ist gut. Irgendwie ist es einfacher, nicht zu denken.«

»Arbeite mit deinem Instinkt«, sagt Meisner. »Darüber reden wir hier. Okay?«

6. Oktober

»Joseph, du machst etwas, das du dir sofort wieder abgewöhnen musst. Du vermischst die Momente, verstehst du? Wenn sie jetzt sagen würde: ›Du bist erkältet‹, dann würdest du sagen: ›Ja, ich bin erkältet, ich bin nass geworden.‹ Das sind zwei verschiedene Momente, und der eine ist die intellektuelle Erklärung für den anderen, anstatt dass du einfach nur wiederholst, was du von deiner Partnerin hörst. Wenn sie sagen würde: ›Du spannst den Kiefer an‹, dann würdest du antworten: ›Ja, ich spanne den Kiefer an, ich bin nervös.‹ Aber das sind zwei verschiedene Momente.«

»Sie meinen, ich soll nur sagen: ›Ja, ich spanne den Kiefer an‹?«

»Ein Moment und jeweils nur eine Bemerkung. Verstehst du das?«

»Ja.«

»Außerdem übertreibst du es mit der Wortwiederholung. Du sagst etwas, das dir an ihr auffällt, aber wenn sie nicht antwortet, wiederholst du es, als müsste sie auf das reagieren, was du sagst, während du doch ihr Schweigen nutzen könntest. Ich zeige dir, was ich meine.«

Er beugt sich zu Anna hinüber, die rechts von ihm sitzt, und flüstert ihr zu: »Gib keine Antwort.« Dann starrt er sie direkt an, deutet auf ihre Kette und fragt: »Ist das eine Goldkette?«

Anna mustert ihn regungslos und schweigt.

»Ist das eine Goldkette?«, wiederholt Meisner mechanisch. Er wartet auf ihre Antwort, doch die bleibt aus. »Siehst du, Joseph, so hast du es gemacht. Du hast zwei Mal dasselbe gesagt. Jetzt zeige ich dir mal etwas.«

Er sieht Anna erneut an. »Ist das eine Goldkette?«, fragt er. Wieder betrachtet sie ihn wortlos, doch diesmal wartet Meisner so lange auf ihre Antwort, bis er wütend ausruft: »Schau mich nicht an, als wäre ich bekloppt!«

Joseph nickt, und Meisner fährt fort: »Du musst ihr Schweigen für einen neuen Moment nutzen, anstatt den ersten zu wiederholen.«

»Dann hat sich der Moment also verändert?«

»Der Moment hat sich durch ihr Schweigen verändert. Hast du das verstanden?«

»Ja.«

»Frag mich, ob wir nächsten Donnerstag wieder Unterricht haben.«

»Mr. Meisner, haben wir nächsten Donnerstag wieder Unterricht?«

Meisner ignoriert Josephs Frage und blickt kühl ins Leere. Das Schweigen wird immer quälender, bis Joseph schließlich betreten sagt: »Anscheinend nicht.«

»Oder«, meint Meisner mit ostentativem Lächeln, »›Reden Sie jetzt nicht mehr mit mir?‹«

Joseph nickt.

»Hast du das verstanden?«

»Ja, ich habe es verstanden.«

»Das dachte ich mir.«

»Philip, du hast da so eine schiefe Vorstellung, dass Schauspieler das Leben nachahmen«, unterbricht Meisner eine Übung.

Philip, der stämmige, blonde, jungenhafte Mann, kaut nervös auf der Unterlippe. Meisner spricht langsam und sehr bestimmt.

»Du versuchst, dich logisch zu verhalten, so wie im Leben. Du versuchst, höflich zu sein, so wie im Leben. Aber als ältester lebender Schauspiellehrer der Welt darf ich sagen: Scheiß auf die Höflichkeit!« Meisners Ton wird leidenschaftlicher. »Du hast nur eine einzige Aufgabe, und die lautet, das zu wiederholen, was du von deinem Partner bekommst. Und wenn der dir die Zunge herausstreckt, dann ist das nicht höflich. Es ist auch nicht erwachsen. Es entspricht nicht dem üblichen Verhalten in eurem Alter. Aber trotzdem musst du es machen!«

»Sie meinen, ich muss da mitgehen?«

»Ja! Und wenn deine Mutter dich haut, schlag zurück!«

»Mache ich. Ich muss wohl mehr unter Menschen gehen, die nicht so höflich sind.«

»Du musst mehr unter Menschen gehen, die ihrem Instinkt folgen.«

»Ich weiß, das ist mein nächster Schritt, mir jemanden zu suchen, der seinem Instinkt folgt.«

»Nein«, sagt Meisner, »das ist in dir! Sie alle haben es. Siehst du das denn nicht?« Er macht eine weite Armbewegung, die die ganze Klasse miteinschließt. »Was dein Partner auch tut, du machst es nach – egal ob richtig, falsch, höflich oder sonst was. Lass dir von mir gesagt sein: Du kannst nicht gleichzeitig Gentleman und Schauspieler sein. Und du bist offenbar der Ansicht, du wärst ein Gentleman.«

»Ja.«

»Verabschiede dich davon!«

»Ich versuch’s.«

»Wieso hältst du dich überhaupt für einen logisch handelnden Gentleman?«

»Ich habe immer wieder von Leuten zu hören bekommen: ›Du bist so ein Gentleman, du bist so ein Gentleman‹, und nach einiger Zeit habe ich das wohl einfach geglaubt.«

»Tu dir selbst einen Gefallen, Philip. Schick diese Leute zum Teufel!«

»Heute wollen wir über Anfänge reden. Ich habe eine Übung für euch, die ich erst einmal vormachen werde. Sie ist grundlegend und entscheidend, und vielleicht macht sie ja einiges klarer. John, steh auf. Ich werde euch jetzt zeigen, wo ihr anfangen sollt. Es geht hier um zwei Grundprinzipien, und wenn ihr wollt, könnt ihr sie notieren.«

Er kommt hinter seinem Pult hervor und stellt sich neben John, der einen Kopf größer ist als er.

»›Tu so lange nichts, bis etwas passiert, das dich zum Handeln zwingt.‹ Das ist das erste Prinzip. Das zweite lautet: ›Was du tust, hängt nicht von dir ab; es hängt vom Partner ab.‹ John«, sagt er dann, »wie ist es bei dir mit dem Textlernen? Bist du gut darin? Bist du schnell? Hier ist dein Text: ›Mr. Meisner‹. Kannst du dir den merken? Darf ich ihn mal hören?«

»›Mr. Meisner‹«, sagt John ganz schlicht.

»Nicht übel.« Die Schüler lachen. »Gut, ich habe also gesagt, du sollst nichts tun, bis etwas passiert, das dich zum Handeln zwingt, und ich habe dir gesagt, das nichts von dem, was du tust, von dir abhängt, sondern vom Partner, richtig? Deinen Text hast du. Weißt du ihn noch?«

»Ja.«

»Wie lautet er, bitte?«

»›Mr. Meisner.‹«

»Bestens. Würdest du dich bitte umdrehen?«

Die übrigen Schüler ahnen, was kommt, und kichern bereits.

»Was gibt es denn da zu lachen? Ich habe doch noch gar nichts gemacht!«

Dann streckt er die Hand aus und kneift John nachdrücklich in den Hintern.

»›Mr. Meisner!‹«, kreischt John und springt zur Seite. Es wird gelacht, vereinzelt auch applaudiert.

»Das«, sagt Meisner, »war die Illustration dessen, was ich euch gerade erklärt habe. ›Tu so lange nichts, bis etwas passiert, das dich zum Handeln zwingt.‹ Und: ›Was du tust, hängt nicht von dir ab; es hängt vom Partner ab.‹ Habe ich dich zu diesem Schrei gezwungen?«

»Ja, kann man sagen.«

»Und zwar mit Recht. Okay, John, du kannst dich wieder setzen. Das hast du sehr gut gemacht. Jetzt begeben wir uns auf etwas gefährlicheres Terrain. Komm her, Rose Marie.«

Sie steht auf und kommt zu ihm in die Mitte des Raumes.

»Wie bist du im Textlernen?«

»Super.«

»›Mr. Meisner.‹«

»›Mr. Meisner‹, das ist mein Text.«

»Das ist dein Text. Wollen wir das noch einmal proben? Wie lautet dein Text?«

»›Mr. Meisner‹«, sagt Rose Marie.

»Und wie lautet das Prinzip?«

»So lange nichts tun oder sagen, bis etwas passiert, das mich zum Handeln zwingt.«

»So lange nichts tun, bis etwas passiert, das dich zum Handeln zwingt! Von Sagen war nicht die Rede. Wie lautet dein Text?«

»›Mr. Meisner.‹«

»Gut. Dreh dich jetzt bitte um, mit dem Rücken zu mir. Konzentrier dich auf deinen Text. Und tu nichts, bis etwas passiert …« Ganz beiläufig legt er ihr den Arm um die Schultern und greift ihr in den Ausschnitt.

»›Mr. Meisner!‹« Sie kichert und weicht ihm aus.

»Da seht ihr, wie echt dieses Spiel ist, voller Emotion«, sagt Meisner. »Ich wusste gar nicht, dass du kitzlig bist.«

Der Raum hallt vom Gelächter wider.

»Aufgepasst! Ich erkläre und illustriere euch gerade etwas sehr Grundlegendes für diese Technik, ihren organischen Bestandteil. Was habt ihr hier gesehen?«

»Wahrhaftige Reaktionen«, sagt Joseph, der ernste junge Mann mit der tiefen Stimme.

»Auf was?«

»Darauf, dass Sie die beiden begrabscht beziehungsweise gekniffen haben.«

»Kurz gesagt: Mein Kneifen rechtfertigt das Autsch, richtig?«

»Richtig.«

»Und das Autsch war die direkte Reaktion auf mein Kneifen?«

»Ja.«

»Welches Prinzip liegt hier zugrunde?«

»Nichts zu tun, bis …«

»… bis etwas passiert. Ist ihm nicht etwas passiert? Ist ihr nicht auch etwas passiert? Da war Spontaneität im Spiel, nicht wahr? Und was noch?«

»Wahrhaftigkeit«, sagt Joseph. »Das ist die Grundlage des Wahrhaftigseins.«

»Ja«, sagt Meisner. »So ist es.«

***

»Weißt du, in den Anfangszeiten des Group Theatre machten die Schauspieler immer etwas, das sie ›Improvisieren‹ nannten.«

Meisner sitzt zurückgelehnt in einem gemütlichen Lehnsessel vor dem erloschenen Kamin in seinem holzgetäfelten Büro. Der Unterricht war lang, draußen geht bereits rotglühend die Sonne unter. Scott Roberts sitzt auf dem Sofa an der Wand, eine große Aktentasche aus Leder auf dem Schoß.

»Das war damals der Versuch, sich mit Worten dem anzunähern, was wir als unsere Situation im Stück ansahen. Wir erzählten in unseren eigenen Worten die Geschichte nach, so, wie wir sie in Erinnerung hatten. Irgendwann kam ich zu der Erkenntnis, dass das alles bloß intellektueller Blödsinn ist. Ein Komponist schreibt doch auch nicht das hin, was er für wirkungsvoll hält; er arbeitet aus dem Herzen heraus. Da habe ich beschlossen, dass ich eine Übung für Schauspieler will, die gar nicht intellektuell ist. Ich wollte diese ganze ›Kopfarbeit‹ ausräumen, die ganze mentale Manipulation wegnehmen und dorthin gelangen, wo die Impulse herkommen. Erstmal ging ich von der Prämisse aus, dass mein Kopf nicht arbeitet, wenn ich einfach nur wiederhole, was du sagst. Ich höre zu, und dabei ist das Hirn überhaupt nicht beteiligt. Wenn du zu mir sagst: ›Deine Brille ist schmutzig‹, und ich sage: ›Meine Brille ist schmutzig‹, und du sagst: ›Ja, deine Brille ist schmutzig‹, dann ist da kein Intellekt im Spiel.«

Meisner betrachtet kurz das gerahmte Schwarzweiß-Foto von Eleonora Duse, das auf seinem kleinen Mahagoniholzschreibtisch steht.

»Dann kam ich zur nächsten Stufe. Nehmen wir mal an, ich sage zu dir: ›Leihst du mir zehn Dollar?‹ Und du sagst: ›Ich soll dir zehn Dollar leihen?‹ ›Ja, du sollst mir zehn Dollar leihen.‹ Das geht dann fünf, sechs Mal hin und her, so lange, bis – und das ist das Entscheidende – deine Ablehnung einen Impuls in mir auslöst, der direkt aus der Wiederholung kommt und mich zu dir sagen lässt: ›Du Dreckskerl!‹ Das ist die Wiederholung, die zum Impuls führt. Intellektuell ist das nicht. Es ist emotional und impulsiv, und nach und nach kommen die Schauspieler, die ich ausbilde, zu einer Form des Improvisierens, bei der das, was sie sagen, nicht aus dem Kopf kommt, sondern wahrhaftig aus den Impulsen, aus dem Herzen, so wie bei einem Komponisten.«

»Ich weiß«, sagt Scott. »Das Problem ist nur, dass dieses ganze Wiederholungs-Pingpong von außen betrachtet auch langweilig wirken kann. Vincent zum Beispiel, der Partner von Anna, hat mir vor dem Unterricht gesagt, dass ihn die Wiederholungsübung wahnsinnig macht.«

»Ach, bitte.« Meisner winkt wegwerfend ab. »Vincent kommt immerhin aus Kalifornien, wo er angeblich bei einem ganzen Bataillon von Lehrern gelernt hat, die angeblich alle von mir ausgebildet wurden! Pass auf, ich werde dir erklären, warum die Wiederholungsübung im Kern überhaupt nicht langweilig ist: Sie spielt nämlich mit der eigentlichen Quelle jeder organischen Kreativität, den inneren Impulsen. Wenn ich das nur irgendwie klarmachen könnte!«

Er schweigt einen Moment. »Wenn ich jetzt Pianist wäre und eine Stunde lang dasitzen und einfach nur jeden Finger einzeln bewegen würde, dann würde jeder Beobachter sagen: ›Ist ja langweilig!‹ Und das wäre es auch – für den Beobachter zumindest. Aber der Ausführende gibt ja kein Konzert, sondern lernt gerade, seine Instinkte fließen zu lassen. Im Group Theatre haben wir den Fehler gemacht, schon mit unseren ersten Improvisationen das vorführen zu wollen, woran wir uns aus dem eigentlichen Stück erinnerten.

Ein Freund von mir ist Besitzer des Hauses, in dem Joan Sutherland ihre Wohnung hat, und er erzählt mir immer: ›Manchmal macht sie mich völlig wahnsinnig mit ihren ewigen Tonleitern, aber dann höre ich die Reinheit der Töne und verzeihe ihr alles.‹ Als Schauspiellehrer bin ich kein bisschen intellektuell. Mein Ansatz basiert darauf, die Schauspieler zu ihren emotionalen Impulsen zurückzuführen, zu einer Art des Schauspielens, die fest im Instinktiven verwurzelt ist. Sie fußt auf der Tatsache, dass jede gute Schauspielleistung sozusagen aus dem Herzen kommt und der Geist überhaupt nicht daran beteiligt ist.«

Schauspielen. Die Sanford-Meisner-Technik

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