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VORWORT

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Wir nannten ihn Sandy, obwohl sich das immer genauso gewagt und gefährlich anfühlte, als würde man als Sechzehnjähriger, der vorgibt, schon einundzwanzig zu sein, nachts in einer Bar einen Martini bestellen. Für die Vertraulichkeit eines Vornamens flößte er einfach viel zu viel Respekt ein. Man schrieb das Jahr 1952, ich war achtzehn Jahre alt und eher zufällig in seinen Unterricht am Neighborhood Playhouse in New York geraten. Nichts hatte mich auf die Intensität dieser Erfahrung vorbereitet. Er war keineswegs schroff oder bösartig – er war einfach nur so erschreckend genau. Man hatte den Eindruck, als könnte er jeden Gedanken, jeden Impuls und jedes Gefühl in den Köpfen seiner Schüler lesen, als besäße er die Fähigkeit, uns bis auf den Grund unseres Daseins zu durchleuchten, sodass wir uns nirgends mehr verstecken konnten. Jedes Mal, wenn er vom Schauspielen sprach, kristallisierten sich dabei Ideen heraus, von denen man instinktiv wusste, dass es sie gab, auch wenn sie einem vorher nie in den Sinn gekommen waren – so wie ein Physiker, der neue Teilchen entdeckt, einfach weil ihre Existenz schon in der Theorie so wunderschön ist. Wenn Sandy sprach, fiel es oft schwer, nicht aufzuspringen und zu rufen: »Richtig! Das stimmt! Das stimmt haargenau!« Es war einfach überwältigend, wie er einem diese Blitze direkt ins Hirn schleuderte. Einmal konnte sich ein armer Kerl einfach nicht beherrschen und platzte tatsächlich heraus: »Mein Gott, das stimmt!« Sandy brummte nur: »Besten Dank, du hast soeben die letzten fünfundzwanzig Jahre meiner Arbeit bestätigt!«

Sanford Meisners Arbeit bestand darin, seinen Schülern einen strukturierten Ansatz zur Gestaltung echten und wahrhaftigen Verhaltens innerhalb der imaginären Gegebenheiten des Theaters zu vermitteln. Genau wie seine Mitstreiter aus dem Group Theatre hat auch er das Gesicht der amerikanischen Schauspielkunst verändert, seit er in den Dreißigerjahren erstmals mit den Ideen Konstantin Stanislawskis in Berührung kam. Harold Clurman, Lee Strasberg, Stella Adler, Bobby Lewis und Sanford Meisner, allesamt aus dem Group Theatre hervorgegangen, waren die einflussreichsten Vermittler dessen, was als The Method bekannt wurde, eine Art bequemer Sammelbegriff für nahezu die gesamte zeitgenössische amerikanische Schauspielkunst. Im Grunde hat aber jede dieser Lehrerpersönlichkeiten ihre eigene »Methode« entwickelt, ihren Ansatz im Lauf der Jahre verdichtet und individuell gestaltet. Und obwohl sie alle außergewöhnliche Lehrer waren, erschien mir Sandys Ansatz doch immer als der einfachste, direkteste, bodenständigste und effektivste.

Das Neighborhood Playhouse bot einen zweijährigen Intensivkurs an, der alle Bereiche des Theaters abdeckte. So etwas gab es sonst nirgends, und obwohl sich das Kollegium mit Koryphäen wie Martha Graham, Jane Dudley und Pearl Lang brüsten konnte, war es doch Sandys täglicher Schauspielunterricht, der uns zwei Jahre lang Adrenalin durch die Adern pumpte. Nachdem ich im Frühjahr 1954 meinen Abschluss gemacht hatte, durfte ich schon im darauffolgenden Herbst mit einem Stipendium als Sandys Assistent zurückkehren und bekam dadurch die einmalige Gelegenheit, noch für weitere sechs Jahre von ihm zu lernen, bis ich 1960 nach Kalifornien ging, um mich der Regie zu widmen. Ursprünglich hatte ich gar nicht den Ehrgeiz, selbst zu unterrichten, und erst recht nicht Regie zu führen, doch die Chance, Meisner weiter zu beobachten und von ihm zu lernen, konnte ich mir unmöglich entgehen lassen. Wenn die Wahrheiten über eine Kunstform nur tief genug gehen, werden sie auch zu Wahrheiten über alle anderen Künste, und so kam es, dass Sandy sich zwar nur der Schauspielkunst widmete, ich mir aber, ohne es zu merken, die Grundlagen aneignete, die sich später zu einem ganz spezifischen Regieansatz entwickeln sollten. Tatsache ist, dass jeder Bereich, in den ich mich als Regisseur einbringe – Drehbuch, Szenenbild, Kostüme, Besetzung, Inszenierung, Kameraführung, sogar der Schnitt –, von den Prinzipien und Ideen dominiert und beeinflusst wird, die ich von Meisner gelernt habe.

Sandy sagte immer: »Es dauert zwanzig Jahre, bis man Schauspieler ist.« Wir dachten, er übertreibe. Aber wir hätten es besser wissen sollen, er übertrieb nämlich kein bisschen. Er meinte damit den Zeitpunkt, falls der überhaupt jemals kam, zu dem man sämtliche Prinzipien und Ideen so weit zerkaut und verdaut hatte, dass sie zu einer Art Schauspielinstinkt werden konnten, einer Technik, die praktisch von alleine funktionierte. Dabei wollte er nie, dass es bei der Arbeit vorrangig um Technik ging. Man lernte bei ihm die Technik als Mittel zum Zweck, niemals als Selbstzweck. Kaum zu glauben, wie viele Schauspiellehrer das nicht verstanden haben.

1981 kehrte ich nach New York zurück, um Meisners Unterricht für einen Dokumentarfilm aufzunehmen. Wir drehten in einem kleinen Theater in Downtown Manhattan, das uns der Theaterproduzent Joe Papp zur Verfügung stellte. Es war einundzwanzig Jahre her, seit ich Sandy zuletzt in Aktion erlebt hatte. Natürlich war er gealtert. Er hatte sich einer Laryngektomie, einer Kehlkopfentfernung, unterziehen müssen, war von einem Lastwagen angefahren worden, der ihm die Hüfte zerschmettert hatte, er hatte zwei Grauer-Star-Operationen hinter sich und trug eine dicke Brille mit einem Mikrofon daran, das seine neu erlernte Art zu sprechen, indem er die Luft in die Speiseröhre drückte, verstärkte. Doch unter seinen Schülern herrschte immer noch das gleiche »High«, die gleiche intensive Konzentration und das Gefühl, kopfüber in neue Bereiche der Erkenntnis und Erfahrung gestürzt zu werden. Es waren auch ein paar ehemalige Mitschüler von mir dabei, alte Hasen, die diese Pilgerfahrt zurück noch einmal unternommen hatten, um wieder Unterricht zu nehmen. Sie waren ihm gegenüber immer noch genauso nervös wie früher – und sie lernten immer noch genauso viel von ihm. Der einzige wirklich greifbare Unterschied bestand für mich darin, dass weniger Worte fielen, weil Sandy das Sprechen große Mühe bereitete. Aber wenn sie dann doch fielen, glichen seine Worte einer gehaltvollen, aufs Wesentliche reduzierten Bouillon. (Während ich das schreibe, fällt mir eine Bemerkung ein, die Maxim Gorki einmal über Tschechow machte: »In Tschechows Gegenwart verspürte jeder den Wunsch, einfacher, wahrhaftiger, mehr er selbst zu sein.«)

Dieses Buch handelt vom Schauspielen. Es handelt außerdem von den vielen anderen Aspekten eines Mannes, der sein Leben damit verbracht hat, alles Überflüssige auszusondern, und der versucht hat, diesem Prozess, die Vorstellungskraft der Schauspieler zu entzünden und die Wahrhaftigkeit ihres Verhaltens zu zähmen, seine Mystik zu nehmen. Als Erstes wird Ihnen auffallen, dass es keinen Fachjargon gibt, keine hermetische, elitäre Haltung zur Theorie. Manches mag schlicht erscheinen. Doch der Eindruck trügt, so wie immer bei Sandys Technik. Sie ist nicht schlicht; das liegt nur an der Klarheit, mit der er sie vermittelt. Wer jemals versucht hat, wahrhaftig und unbefangen auf einer Bühne oder vor einer Kamera zu agieren, der weiß, dass daran gar nichts Schlichtes ist – zumindest nicht während der ersten zwanzig Jahre.

Ich glaube, dass es nur sehr wenige Menschen gibt, die die Technik des Schauspielens wahrhaft unterrichten können. Die meisten sind intelligent und sehr belesen, und sie verwechseln die eigene Fähigkeit, sich dem Gegenstand intellektuell und theoretisch zu nähern, mit der Fähigkeit, echtes Wachstum im Schauspieler zu fördern. Es gibt nur wenige gute Bücher über das Schauspielen. Dieses Buch gehört zu den besten. Ich beneide jeden, der Sandy hier vielleicht zum ersten Mal entdeckt.

Sydney Pollack

Schauspielen. Die Sanford-Meisner-Technik

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