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2. DAS FUNDAMENT LEGEN: DIE REALITÄT DES HANDELNS

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MEISNER: Was passiert als Erstes, wenn man das World Trade Center bauen will – ihr kennt das Gebäude?

SCHÜLER: Man gräbt ein Loch.

MEISNER: Natürlich gräbt man ein Loch. Man kann es ja schlecht einfach auf den Bürgersteig kleben! (Gelächter) Was wurde beim Bau des Empire State Buildings als Erstes gemacht?

SCHÜLERIN: Als Erstes wurde ein Fundament gelegt.

MEISNER: Als Erstes wurde ein Fundament gelegt, auf dem…

SCHÜLERIN: … auf dem dann das Gebäude errichtet wurde.

MEISNER: … auf dem dann das Gebäude errichtet wurde.

29. September

»Das Fundament der Schauspielkunst ist die Realität des Handelns.«

Es ist die erste Unterrichtsstunde des Semesters, und Sanford Meisner wiederholt gleich mehrfach dieses scheinbar schlichte Leitmotiv. »Moment, sagen wir es noch einmal. Das Fundament der Schauspielkunst ist die Realität des Handelns. Die Realität des Handelns. Woher könnt ihr wissen, was das eigentlich bedeutet? Ich werde es euch erläutern.« Nach einer kurzen Pause fragt er: »Hört ihr zu? Hört ihr mir auch wirklich zu?«

»Ja, ja«, antworten die Schüler im Chor.

»Ihr tut nicht nur so, als würdet ihr zuhören, ihr hört zu. Ihr hört mir wirklich zu. Würdet ihr das so sagen?«

»Ja, ja.«

»Das ist die Realität des Handelns. Es muss völlig außer Frage stehen, was ich hier sage. Wenn ihr handelt, dann handelt ihr auch wirklich! Seid ihr heute Morgen die Treppe zu diesem Unterrichtsraum hochgegangen? Seid ihr sie nicht vielleicht hochgesprungen? Oder hochgehüpft? Nein? Ihr habt auch keine Pirouetten gedreht? Ihr seid diese Treppe wirklich hochgegangen.«

Er hält inne, um das kleine Mikrofon zurechtzurücken, das am linken Bügel seiner Brille befestigt ist. »Wie viele von euch hören mir jetzt gerade zu?« Sechzehn Hände recken sich folgsam in die Höhe. »Dann lauscht jetzt mal eine Minute lang. Horcht, jeder für sich, darauf, wie viele Autos ihr draußen hören könnt. Los geht’s.«

Die Schüler, acht Männer und acht Frauen von Mitte zwanzig bis Anfang dreißig, beugen sich vor und versuchen, die Verkehrsgeräusche von New York wahrzunehmen, die durch das Surren der Klimaanlage hindurchsickern. Schon bald schließen einige die Augen. Eine Minute verstreicht.

»Gut«, sagt Meisner zu einem jungen Mann mit gepflegtem braunem Vollbart. »Wie viele Autos hast du gehört?«

»Gar keins«, antwortet der Schüler. »Ich habe ein Flugzeug gehört.«

»Ein Flugzeug ist kein Auto. Du hast also keines gehört. Ich will dir eine Frage stellen: Hast du als du selbst gelauscht, oder hast du irgendeine Rolle gespielt?«

»Als ich selbst.«

»Und du?«, wendet er sich an eine schlanke, dunkelhaarige junge Frau, die wie ein Model aussieht.

»Anfangs habe ich als Schülerin gelauscht.«

»Das ist eine Rolle…«

»Und dann war ich verwirrt, weil ich keine Autos hören konnte und die Geräusche überhaupt so verwirrend waren. Dann habe ich etwas gehört, was ziemlich sicher ein Auto war, dann ist mir langweilig geworden, und dann habe ich noch ein Auto gehört. Also zwei Autos.«

»Auf die Langeweile gehen wir jetzt mal nicht näher ein.« Die Schüler lachen. »Als du gelauscht hast, wie du sagst, warst du da…wie heißt du?«

»Anna.«

»Hast du als Anna gelauscht?«

»Am Ende schon.«

»Dann war ein Teil deines Spiels also echt, und zwei Drittel waren vorgetäuscht.«

»Ja.«

»Wie viele Autos hast du gehört?« Die Frage richtet sich an eine Frau Ende zwanzig mit üppigem, dunklem Haar.

»Ich war mir nicht sicher, welche Geräusche von Autos stammen.«

»Warst du es, die verwirrt war, oder war das Verwirrtsein Teil einer Rolle?«

»Ich weiß nicht. Es hat sich angefühlt, als würde ich eigentlich die ganze Zeit gar nichts machen.«

»Dann warst du also halb Schauspielerin.« Er wendet sich einem jungen Mann in Karohemd und Jeans zu. »Wie viele Autos hast du gehört?«

»Keins.«

»Keins. Und wie hast du gelauscht …?«

»Ich habe einfach als ich selbst gelauscht, einfach als John.«

»Genau das wollte ich wissen. Ein schönes Gefühl. Gut, jetzt überlegt euch alle eine Melodie, die euch gefällt, und singt sie nur für euch – nur im Kopf, nicht laut. Alles klar? Dann los.«

Wieder schließen einige Schüler die Augen, und nach ein paar Sekunden der Konzentration bewegen manche den Kopf im Takt einer Melodie, die nur sie selbst hören können.

»Wie viele von euch haben es geschafft?«, fragt Meisner. »Und als ihr selbst oder als Schauspieler? Wer kann mir das beantworten?«

»Halb so, halb so.« Die Antwort kommt von der jungen Frau namens Anna.

»Du hattest also Schwierigkeiten. Was für Schwierigkeiten?«

»Mir war zu sehr bewusst, dass ich in einem Raum voller Leute sitze, die sich alle absichtlich unterschiedliche Melodien vorsingen. Etwa nach der Hälfte habe ich mich so über mich selbst geärgert, dass ich es vergessen konnte.«

»Und dann hast du gesungen?«

»Ja.«

»Da warst du gut.«

»Da habe ich es zumindest genossen. Ob ich gut war, weiß ich nicht.«

»Gut zu sein ist immer ein Genuss.« Meisner hält einen Moment inne und richtet den Blick dann auf einen stämmigen, blonden, jungenhaften Mann in der ersten Reihe. »Was ist mit dir?«

»Ich habe einfach vor mich hin gesungen.«

»So wie Hamlet?«

»Ich habe versucht, mich an der Melodie zu freuen.«

»Wirklich? Als du selbst, nicht als Hamlet?«

»Als ich selbst.«

Als Nächstes fordert Meisner die Klasse auf, die Glühbirnen im Raum zu zählen. Die Antworten variieren zwischen zwölf und sechzehn, je nachdem, ob man die rote Glühbirne über dem Hinweisschild für den Notausgang mitzählt oder die drei ausgeschalteten Scheinwerfer berücksichtigt, die an einem Balken in der Mitte der Decke hängen. Aber die Antworten sind unwesentlich; nicht das Ergebnis ist entscheidend, sondern dass die Aufgabe ausgeführt wird, die Glühbirnen tatsächlich gezählt werden. »Habt ihr in einer Rolle gezählt – also als Schauspieler«, will Meisner wissen, »oder habt ihr selbst gezählt?«

»Neunhunderteinunddreißig mal achtzehn – versucht das mal im Kopf auszurechnen«, fährt er dann fort. »Neunhunderteinunddreißig mal achtzehn.« Das korrekte Ergebnis lautet 16.758, und niemand kann es auch nur annähernd ausrechnen. Doch auch diesmal geht es gar nicht darum. »Ihr könnt richtigliegen oder falsch«, sagt Meisner. »So wie im Leben. Die Menschen kommen zu unterschiedlichen Ergebnissen. Darum sind die einen Demokraten und die anderen Republikaner. Aber wie viele von euch haben es auch wirklich versucht? Es ist völlig in Ordnung, falschzuliegen, aber es ist nicht in Ordnung, es nicht wenigstens zu versuchen.« »Passt auf«, sagt Meisner, »schaut euch jetzt den Partner neben euch ganz genau an. Und wenn ich danach frage, beschreibt ihr mir alles, was ihr beobachtet habt.« Sechzehn Köpfe wenden sich demjenigen zu, der nun zum ersten Mal als »der Partner« bezeichnet wird.

Als die blonde junge Frau in der zweiten Reihe dazu aufgefordert wird, sagt sie über den jungen Mann rechts neben sich: »Ich habe rote Haare gesehen. Ich habe ein hellgrünes Hemd gesehen, mit Streifen in Rosa, Grau und Beige, Größe M. Ich habe gesehen, dass er eine Rötung am Hals hat. Er hat blaue Augen und kurze, dünne, helle Wimpern. Kleine Hände. Ziemlich kräftig. Er sitzt etwas vorgebeugt. Und er ist stämmig. Seine Hose ist grün. Die Schuhe sind braun – Lederschuhe, mit Gummisohle, glaube ich. Saubere Ohren und saubere Fingernägel. Schmale Lippen, die er geschlossen hält und eher nach innen zieht …«

»Gut. Sind diese ganzen Beobachtungen von dir oder von einer Figur aus einem Stück?«

»Das kann ich nicht beantworten. Wenn ich ehrlich bin, kann ich das nicht richtig auseinanderhalten.«

»Sprichst du jetzt gerade mit mir, oder ist das Lady Macbeth, die mit mir redet?«

»Ich spreche mit Ihnen.«

»Das bist du. Das bist du ganz persönlich. Deine Beobachtungen waren reine, unverfälschte Beobachtungen. Was du wahrgenommen hast, das hast du selbst wahrgenommen und nicht eine Figur aus einem Stück.« Er wendet sich an John, den jungen Mann im Karohemd. »Schaust du mich gerade an?«

»Ja.«

»Als Othello?«

»Nein.«

»Als wer dann?«

»Als ich selbst wahrscheinlich.«

»Genau. Kannst du dir das merken?«

»Ich möchte euch eine Frage stellen, und ich möchte, dass ihr euch und mir zuliebe ganz ehrlich seid. Wie viele Leute in diesem Kurs können richtig gut hören?« Nach kurzer Verwirrung schnellen sechzehn Hände nach oben. »Ich nehme euch jetzt beim Wort. Jeder behauptet von sich, er oder sie könne hören. Ihr könnt also alle hören? Könnt ihr mich hören?«

»Ja«, antworten alle.

»Ich stelle euch jetzt noch eine Frage, die ein bisschen schwieriger ist. Ihr sagt, ihr könnt hören. Das ist gut. Aber könnt ihr das, was ihr hört, auch ganz genau wiederholen? Ich meine ganz einfache Sachen. Ich rede hier nicht von der Unabhängigkeitserklärung. Ich meine etwas wie: ›Trinken Sie gern Kaffee?‹ Könnt ihr das wiederholen?«

»Trinken Sie gern Kaffee?«, sagt eine junge Frau mit kurzem, braunem Stufenschnitt.

»Du hast es getan, also kannst du es. Aber wisst ihr auch alle, was ihr da zu mir sagt? Als Erstes erklärt ihr mir, ihr könntet hören. Ihr sagt mir auch, ihr könntet das, was ihr hört, wiederholen. Wenn ihr wollt, könnt ihr das jetzt noch zurücknehmen! Gut, dann akzeptiere ich das so.«

»Wir können die Wörter wiederholen«, sagt eine dunkelhaarige junge Frau mit breiten Schultern.

»Mehr will ich auch gar nicht – nicht den Geist, nur die Wörter.«

»Nein«, sagt die Frau. »Ich meine, wir können nicht genau das wiederholen, was wir hören. Wir können nur unsere eigene Vorstellung von den Wörtern wiederholen.«

»Ihr könnt genau das wiederholen, was ihr hört. Soll ich es dir beweisen?«

»Ich glaube Ihnen.«

»Wie heißt du?«

»Rose Marie.«

»Warum solltest du mir glauben, Rose Marie? ›Du hast lange Haare.‹ Wiederhol das mal.«

»Du hast lange Haare.«

»Du kannst es also doch! Und ich habe nicht den ersten Akt von Onkel Wanja zitiert, den du vielleicht zum ersten Mal hörst. Wer ist dein Partner?« John, der junge Mann im Karohemd, meldet sich. »Sieh sie dir an. Was beobachtest du an ihr? Ich meine nicht ihren Geist, sondern irgendetwas an ihr, das dich vielleicht interessiert.«

»Sie ist sehr… Eigentlich wollte ich sagen, sie wirkt sehr kess und offen.«

»Das ist eine emotionale Wahrnehmung. So schlau bin ich nicht. Ich sehe nur, dass sie einen rosa Pulli anhat.«

»Okay.«

»Soll ich dir was sagen? Du bist ein Denker.«

»Ich weiß«, sagt John. »Darum bin ich ja hier.«

»Dann hör sofort damit auf!« Die Schüler lachen. »Siehst du, dass sie einen rosa Pulli trägt? Siehst du, dass sie sich mal die Haare kämmen sollte? Siehst du, welche Farbe ihre Hose hat?«

»Ja.«

»Also, du hast mir gesagt, du könnest hören und das Gehörte wiederholen. Das heißt, du musst jetzt von etwas ausgehen, was auch existiert. Finde etwas, was dich an ihr interessiert, und äußere dich dazu. Dann wiederholst du, Rose Marie, genau das, was er gesagt hat, und du, John, wiederholst genau das, was sie sagt. Das macht ihr so lange, bis ich euch unterbreche.«

»Deine Haare glänzen«, sagt John.

»Deine Haare glänzen«, wiederholt Rose Marie.

»Deine Haare glänzen.«

»Deine Haare glänzen.«

»Deine Haare glänzen.«

»Deine Haare glänzen.«

»Deine Haare glänzen.«

»Nein«, unterbricht Meisner, »jetzt interpretiert ihr, damit es abwechslungsreicher wird. Lasst das. Macht es noch einmal mit einer anderen Beobachtung.«

Nach kurzem Schweigen sagt John: »Du hast einen kleinen Ohrring«, und Rose Marie sagt: »Du hast einen kleinen Ohrring.« Sie wiederholen den Satz fünf, sechs Mal, bis Meisner sie unterbricht.

»Gut, jetzt glaube ich euch, dass ihr beide hören könnt, und ich glaube euch auch, dass ihr das, was ihr hört, wiederholen könnt. Das ist zwar noch längst nicht alles, aber es ist immerhin ein Anfang. Du hast ihren Ohrring bemerkt. Du hast dich dazu geäußert. Und du hast wiederholt, was du gehört hast. Bis hierhin habt ihr einander zugehört und das Gehörte wiederholt. Genau darum hatte ich euch gebeten.«

Die Schüler schließen sich zu Zweiergruppen zusammen, und die Übung, die Meisner das »Wortwiederholungsspiel« nennt, wird ausgeführt, immer und immer wieder. Der jungenhafte blonde Mann, Philip, bildet ein Paar mit Sarah, der Brünetten mit dem Stufenschnitt. Sie wiederholen seine Bemerkung »Du hast blaue Augen« so lange, bis Meisner sie unterbricht.

»Gut«, sagt er. »Das kommt euch sicher wahnsinnig albern vor, oder? Aber es ist ein Anfang. Hört ihr einander zu? Wiederholt ihr das, was ihr hört? Genau das tut ihr.«

Nachdem ein anderes Paar einige Male den Satz »Du hast glitzernde Ohrringe« wiederholt hat, sagt Meisner: »Es ist mechanisch, es ist nicht menschlich, aber es ist die Grundlage für etwas anderes. Es ist eintönig, aber trotzdem ist es die Grundlage für etwas.«

Nachdem Anna und ihr Partner den Satz »Auf deinem Hemd sind neonpinke Buchstaben« ein gutes Dutzend Mal wiederholt haben, sagt Meisner: »Ja, genau. Es ist sinnentleert und gar nicht menschlich, stimmt’s? Aber trotzdem passiert etwas. Es entsteht eine Verbindung. Hören sie sich nicht gegenseitig zu? Darin liegt die Verbindung. Eine Verbindung, die entsteht, weil man einander zuhört, die aber trotzdem keine menschliche Qualität hat. Noch nicht. Wenn ihr euch etwas dazu notieren wollt, dann schreibt: ›Es ist ein Pingpong-Spiel.‹ Es ist die Grundlage dessen, was einmal zum emotionalen Dialog werden wird.«

Meisner hält einen Moment inne. »Jetzt werde ich euch mal zeigen, wo die Schwierigkeiten anfangen.« Er wendet sich an eine junge Frau, die ihr braunes Haar zu einem dicken Zopf geflochten trägt. »Du trägst eine bestickte Bluse. Stimmt das?«

»Nein.«

»Wie lautet dann die Antwort?«

»Nein, ich trage keine bestickte Bluse.«

»Genau!«, sagt er. »So lautet die Wiederholung aus ihrer Sicht. Und sofort ist eine Verbindung zwischen zwei Menschen entstanden.« Er wendet sich an Sarah. »Du hast einen Stift dabei.«

»Ja, ich habe einen Stift dabei.«

»Ja, hast du.«

»Ja, habe ich.«

»Genau! Jetzt wird das Gespräch schon menschlicher, oder? Erst ist da nur die mechanische Wiederholung. Dann kommt die Wiederholung aus eigener Sicht.« Er sieht die junge Frau mit dem üppigen dunklen Haar an. »Du toupierst dir die Haare.«

»Ja, ich toupiere mir die Haare.«

»Ja, das tust du.«

»Ja, ich toupiere mir die Haare.«

»Ich sagte: ›Ja, das tust du.‹«

»Ja, das tue ich.«

»Ja, das sehe ich.«

»Ja, das sehen Sie.«

»Lassen wir es dabei bewenden. Das ist das Wortwiederholungsspiel aus eurer Sicht. Und es ist bereits ein menschliches Gespräch, stimmt’s?« Dann sagt Meisner zu dem jungen Mann mit den neonpinken Buchstaben auf dem Hemd: »Du starrst mich an.«

»Ich starre Sie an.«

»Du starrst mich an.«

»Ich starre Sie an.«

»Du gibst es also zu?«

»Ich gebe es zu.«

»Du gibst es zu?«

»Ich gebe es zu.«

»Das gefällt mir nicht.«

»Das gefällt Ihnen nicht.«

»Das interessiert dich nicht?«

»Das interessiert mich nicht.«

»Es interessiert dich nicht?«

»Es interessiert mich nicht!«

Meisner streckt dem jungen Mann die Zunge heraus, und er und die anderen Schüler lachen.

»So geht das Wortwiederholungsspiel. Es darf nur nicht zu weit gehen, das würde ich nicht zulassen. Wenn ihr das jetzt zu Hause gemeinsam übt, macht die Übung erst mechanisch, so wie wir angefangen haben. Danach führt ihr sie aus eurer Sicht aus.«

»Ich habe die Stunde mit dem Satz eröffnet, dass das Fundament der Schauspielkunst die Realität des Handelns ist. Wie verhält sich diese Definition zu dem, was wir gemacht haben?«

John meldet sich. »Wenn wir etwas einfach nur tun, konzentrieren wir uns nicht auf uns selber.«

»Ihr befasst euch mit etwas, das außerhalb von euch selbst liegt«, ergänzt Meisner. »Was noch?«

»Wenn man etwas wirklich tut, dann hat man keine Zeit, sich beim Handeln zu beobachten. Man braucht alle Zeit und Energie für das Handeln an sich«, sagt Ray, der junge Mann mit dem gepflegten Bart.

»Das ist sehr gut für euer Spiel. Noch etwas?«

»Es waren alles sehr konkrete, ›mach‹bare Dinge«, sagt Sarah.

»Dann war also alles, wozu ich euch aufgefordert habe, konkret und ›mach‹bar? Was hat es mit dem Wort ›konkret‹ auf sich?«

»Na ja, es ist handfest. Man kann tatsächlich jemanden ansehen und seine Wimpern zählen, oder man kann die Glühbirnen zählen.«

»Es ist also etwas, das wirklich und wahrhaftig, ausdrücklich existiert«, sagt Meisner. »Was bedeutet also die ›Realität des Handelns‹?«

Ein ernst aussehender junger Mann, der bisher noch nichts gesagt hat, meldet sich. »Wenn man etwas tut, dann tut man es wirklich, anstatt nur so zu tun, als würde man es tun.«

»Und vor allem tut man es nicht als Rolle, als Figur. Wenn ihr Klavier spielen wollt, macht ihr dann erst den Deckel auf oder spielt ihr mit geschlossenem Deckel?«, fragt Meisner. »Aus musikalischer Sicht entspricht das Öffnen des Klavierdeckels der Realität des Handelns. Gibt es dazu Fragen?«

»Wir sollten lauter Dinge tun, die man auch wirklich tun kann: eine andere Person beobachten, nach Autos lauschen«, sagt Ray. »Und wenn man sich wirklich darauf konzentriert, ein Auto zu hören oder jemand anders anzusehen, dann braucht man sich keine Gedanken darüber zu machen, ob man eine Figur darstellt. Man tut einfach diese eine Sache und konzentriert sich ganz darauf.«

»Und genau das ist die Figur.«

»Das ist die Figur?«, fragt Ray.

»Ja.«

»Man muss die Figur also gar nicht spielen, sondern sie ist einfach da, indem man handelt?«

»Richtig. Habt ihr das alle verstanden? Jedes Stück, selbst wenn es von diesem Komödienschreiber ist…wie heißt er noch gleich?«

»Neil Simon?«

»Genau. Jedes Stück basiert auf der Realität des Handelns. Selbst wenn Lear die Faust gegen den Himmel erhebt – dann basiert das auf dem lautstarken Aufbegehren des Schauspielers gegen das Schicksal. Begreift ihr das?« Er hält kurz inne. »Das wird sich euch stärker einprägen, als ihr im Moment glaubt. Aber das ist in Ordnung. Es wird sich von selbst offenbaren. Nach und nach kommt es zum Vorschein. Das ist die Grundlage, das Fundament der Schauspielkunst.«

***

»Ein neuer Anfang. Dabei müsste ich doch eigentlich längst aufhören!«, sagt Meisner zu seinem Assistenten Scott Roberts, während sie auf den Aufzug warten, der Meisner in sein holzgetäfeltes Büro ein Stockwerk tiefer bringen soll. »Man sollte mich erschießen wie einen alten Gaul.«

Scott nickt lächelnd.

»Aber das ist wirklich eine spannende Gruppe, sehr vielversprechend. Die Frage ist nur, wie viele von ihnen werden spielen lernen?«

Scott nickt wieder und drückt noch einmal auf den Knopf, um den Aufzug zu rufen. Unten im Erdgeschoss erwacht ein Motor brummend zum Leben.

»Ich unterrichte seit mehr als fünfzig Jahren, und in dieser halben Ewigkeit habe ich bestimmt einigen tausend jungen Menschen das Schauspielen beizubringen versucht. Und ich habe das auch gar nicht schlecht gemacht. Bei dir zum Beispiel war ich sehr erfolgreich.«

»Vielen Dank«, sagt Scott.

»Aber wenn ich mir meine gesamte Erfolgsrate vor Augen hielte, würde ich wahrscheinlich aufgeben. Darum lasse ich das lieber.«

Der Aufzug kommt, und sie steigen ein.

»Schauspielen ist eine Kunst. Und Schauspiel zu unterrichten ist auch eine Kunst, oder es kann zumindest eine Kunst sein. Am Ende ist es eine Frage von Talent – davon, wie ihr Talent und meines ineinandergreifen. Es wird sich zeigen. Aber ich muss sagen, es tut gut, noch einmal von vorn anzufangen.«

Schauspielen. Die Sanford-Meisner-Technik

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