Читать книгу Die Krebs-WG - Sara M. Hudson - Страница 4

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„Es tut mir Leid, Ihnen solch schlechte Nachrichten übermitteln zu müssen, Frau Bleckmann, aber Ihr Karzinom ist bereits so weit fortgeschritten, dass eine vollständige Entfernung unmöglich ist.“ Der Arzt machte eine Pause und wartete auf eine Reaktion seiner Patientin, die ihn fassungslos anschaute. Als diese jedoch nichts erwiderte, blickte der Mediziner wieder auf die vor ihm liegende Krankenakte und fuhr fort: „Ihre Biopsie Ergebnisse hatten ja bereits gezeigt, dass es sich um einen bösartigen Tumor handelt. Jetzt habe ich auch die Ergebnisse der Ganzkörper CT vorliegen und diese zeigen Metastasen an mehreren Stellen… Wir könnten es allerdings noch mit einer Chemotherapie versuchen….“ Die Worte des Arztes nahm Ellen Bleckmann wie in Trance wahr. Starr saß sie auf dem Stuhl in dem spartanisch eingerichteten Besprechungszimmer von Prof. Dr. Dr. Wagner. Die Farbe war fast gänzlich aus ihrem Gesicht gewichen. Sie nickte gelegentlich, obwohl sie das Gehörte gar nicht wirklich verstand. Nicht wegen der Fachbegriffe, die der Arzt verwendete, nein! Im Prinzip stellte er den Sachverhalt anschaulich und gut nachvollziehbar dar: Brustkrebs im fortgeschrittenen Stadium, Metastasen an Lymphen, Lunge und Knochen. Krebsart: schnellwachsend. Lebenserwartung ohne Chemotherapie: 6 Monate. Mit Chemotherapie bei gutem Gesundheitszustand: vielleicht ein Jahr. Das bestimmt nur, wenn die Chemo überhaupt anschlug. Was gab es da nicht zu verstehen?

Als Ellen noch immer nicht reagierte, fuhr Professor Dr. Dr. Wagner, dem eine gewisse Routine in dieser Art von Gespräch anzumerken war, fort: „Die Medizin ist heute so fortgeschritten, dass es verschiedene Möglichkeiten gibt, den Krebs auch in einem sehr fortgeschrittenem Stadium so gut wie möglich in Schach zu halten.“ Besonders beruhigend klang das in Ellens Ohren nicht. „In Schach halten“, an all den Stellen, die ihr der Arzt eben genannt hatte?

„Vielen Dank für Ihre Mühe, Herr Professor“, brachte sie schließlich schwach hervor, stand langsam auf und schlurfte zur Tür. Obwohl das Gespräch von seiner Seite aus noch nicht beendet war, hinderte der Arzt sie nicht daran zu gehen. Jeder Patient reagierte schließlich anders auf schlechte Nachrichten. Manche heulten, manche wurden ungehalten und aggressiv. Er hatte auch schon erlebt, dass Patienten die Diagnose verdrängten und so taten, als sei alles in Ordnung. Diese Frau hier ergriff die Flucht.

Eine Information wollte der Professor allerdings noch loswerden und rief Ellen hinterher: „Der soziale Dienst wird Sie im Laufe des Nachmittags in Ihrem Zimmer aufsuchen und ihnen Informationen zu….“ Mehr hörte Ellen nicht mehr. Die Tür war bereits hinter ihr zugefallen. Geistesabwesend lief sie Richtung Gynäkologische Station.

Sie hatte noch nicht einmal Gelegenheit gehabt, ihre Tasche auszupacken. Erst heute Morgen war sie hier angekommen und hatte damit gerechnet, eine ganze Weile hier zu bleiben. Sie sollte doch morgen operiert werden. Das Gespräch mit Prof. Dr. Dr. Wagner hätte eigentlich nur die Vorbesprechung zur OP werden sollen. Der computertomographischen Untersuchung hatte sie sich bereits vor einigen Tagen unterzogen. Da war noch keine Rede davon gewesen, dass ihr Krebs unheilbar sei. Ganz im Gegenteil: „Nur um sicherzustellen, dass wir bei der OP auch nichts übersehen“, hatte es geheißen als man sie in „die Röhre“ schob und man schien recht zuversichtlich, dass alles wieder in Ordnung kommen würde. Und nun… Nun hieß es, ihr Krebs sei unheilbar? Nur mit einer Chemo „in Schach zu halten“? Und von einer OP war plötzlich auch gar nicht mehr die Rede. Das konnte doch nicht wahr sein! Warum ausgerechnet sie?

Gedankenversunken und mit gesenktem Kopf betrat Ellen ihr Zimmer. Sie schaute weder nach links noch nach rechts, sondern lief sofort zu ihrer Tasche, die neben dem Bett an der Tür stand, öffnete diese und begann auszupacken. Dabei bemerkte sie nicht, dass sie nicht alleine im Zimmer war. Eine ältere Frau saß strickend in ihrem Bett am Fenster und beobachtete ihre neue Zimmergenossin neugierig dabei, wie sie ihren Schrank einzuräumen begann. Ellen spürte, dass die schlechten Nachrichten des Arztes langsam in ihrem Bewusstsein ankamen. Die Tränen begannen in ihr hochzusteigen. „Hallo, ich bin Josephine“, stellte sich die Frau ungefragt vor. Ellen zuckte zusammen und schaute in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. „Tag“, erwiderte sie knapp und widmete sich sofort wieder ihren Kleidern. Dabei wischte sie sich verstohlen eine Träne von der Wange. Die Fremde sollte schließlich nicht mitkriegen, dass sie weinte. „Warum sind Sie denn hier?“ wollte die Frau wissen. Sie musterte Ellen von oben bis unten, ohne dabei mit dem Stricken aufzuhören und lächelte freundlich, als Ellen wieder kurz aufschaute. Ellen antwortete nicht und hängte ihre braune Tweedjacke auf einen Kleiderbügel. Wieso räumte sie eigentlich ihren Schrank ein? Sie wusste ja nicht einmal, ob sie noch hier bleiben musste. Sie hatte das Besprechungszimmer verlassen, bevor der Arzt zu Ende geredet hatte. „Der Menge an Kleidern zu urteilen, die sie mitgebracht haben, bleiben Sie länger hier“, bohrte die Frau weiter, offensichtlich erpicht darauf, ein Gespräch zu beginnen. „Ich habe eine anstehende O…“ Ellen wollte OP sagen, merkte aber gerade noch, dass das ja nun wohl nicht mehr der Fall war. „Ich habe einige Untersuchungen hier“, gab sie dann zur Antwort, ohne sich umzudrehen und hoffte, dass die Frau sich mit dieser Information zufrieden geben und sie nicht weiter mit Fragen belästigen würde. Ganz schön dreist, gleich zu fragen, warum sie hier sei, dachte Ellen. So etwas machte man doch nicht. Die Frau musste doch sehen können, dass sie mit den Tränen zu kämpfen hatte und ihr nicht nach Reden zumute war. Es gab schon komische Leute. „Brustkrebs oder Unterleibskrebs?“ fragte die Frau, die sich mit ‚Josephine‘ vorgestellt hatte, weiter. Ohne auf eine Antwort von Ellen zu warten, fuhr sie fort: „Ich selber habe Unterleibskrebs. Naja, damit hat es angefangen. Hab schon die 6. OP hinter mir. Alles schon raus: Gebärmutter, Eierstöcke…, aber der verdammte Krebs macht eben auch an anderen Stellen weiter. Morgen kommt die 7. OP. Weiß gar nicht, warum ich mir das immer wieder antue. Ist eh nichts mehr zu machen. Alles nur ein Hinauszögern. Aber man hängt halt irgendwie doch am Leben oder hat Angst vor dem Sterben, nicht wahr? Und das selbst in meinem Alter.“ Ohne Ellen die Chance zu geben, etwas darauf zu erwidern, redete sie weiter: „Vor 3 Jahren habe ich meinen Mann verloren. Auch Krebs. Ein Jahr später hat man ihn dann bei mir festgestellt. Seit zwei Jahren verbringe ich fast meine ganze Zeit in Krankenhäusern oder auf Kur. Hätte mir meine Rente auch ein bisschen anders vorgestellt, aber was soll man machen? Man muss die Dinge eben so nehmen, wie sie kommen, finden sie nicht auch?“ „Mhhh“, meinte Ellen nur. Eigentlich hatte es sie gar nicht interessiert, was die Frau zu erzählen hatte, als sie aber hörte, dass auch sie Krebs hatte, war sie hellhörig geworden. Ellen setzte sich auf ihr Bett. Erst jetzt nahm sie wahr, dass das mittlere Bett im Zimmer nicht belegt war. Deshalb hatte sie zunächst auch gedacht, dass sie alleine sei, als sie das Zimmer betreten hatte. Sie sah zu der Frau hinüber, die ihr gerade so unbefangen ihre gesamte Lebensgeschichte in wenigen Sätzen erzählt hatte, obwohl sie eine Wildfremde für sie war. Sie musste mindestens zwanzig Jahre älter sein als sie selbst, hatte kurze, graue Haare, die, obwohl sie sehr dünn waren, sorgfältig geföhnt und toupiert waren. Ihre goldenen Ringe, die alle mit schweren Edelsteinen bestückt waren, klapperten bei jeder Handbewegung mit den Stricknadeln um die Wette. Auf ihrem Nachttisch stand ein Blumenstrauß, der lieblos in der bunten Plastikfolie, in der er gekauft worden war, in eine Vase gestellt worden war und schon recht welk aussah. Daneben stand eine Saftflasche. „Wie kommen Sie darauf, dass ich Krebs habe?“ fragte Ellen, verärgert über die Indiskretion ihrer Zimmergenossin. „Wenn auf der gynäkologischen Station jemand das Zimmer betritt und kein neugeborenes Baby auf dem Arm hält und stattdessen heult, dann ist das normalerweise einer schlechten Diagnose zuzuschreiben. Wie ich eben sagte: Ich habe viel Zeit in Krankenhäusern verbracht und meine Erfahrungen gesammelt.“ „Brustkrebs“, bekannte Ellen kaum hörbar und sah aus dem Fenster. Die Tränen stiegen ihr wieder in die Augen. Sie hatte gehofft, dass die Frau mit dieser Antwort endlich Ruhe geben würde, aber sie redete ohne Punkt und Komma weiter: „Ach wissen Sie, da gibt es ja heute so viele Möglichkeiten und Sie sind ja noch jung, da würde ich mir keine Gedanken machen. Diese Klinik ist fachlich sehr gut, auf dem neuesten Stand. Wurde mir von meiner Frauenärztin empfohlen und ich muss sagen, ich bin im Großen und Ganzen zufrieden. Naja, bis auf ein paar Ausnahmen. Es gibt den ein oder anderen Arzt, den ich menschlich nicht mag und der mich, glaube ich, auch nicht auf seine Liste der Top 10 Lieblingspatientinnen setzen würde. Aber die machen gute Arbeit hier. Ich meine, immerhin haben sie mir noch ganze 6 Monate garantiert“, sie kicherte und nahm ihr Strickzeug wieder auf, das sie abgelegt hatte, als sie ihre Krankheitsgeschichte erzählt hatte. „Das haben Ihnen die Ärzte so gesagt, dass sie nur noch 6 Monate haben?“ fragte Ellen, die erstaunt darüber war, mit welcher Gelassenheit die alte Dame über ihre Krankheit sprach. „Ja, ja, das haben sie gesagt“, meinte die Frau, ohne von ihrem Strickzeug aufzuschauen. „Und das nehmen Sie so einfach hin? Da würde ich glaube ich anders reagieren“, erwiderte Ellen und biss sich auf die Zunge. Wie denn? fragte sie sich im selben Augenblick. Immerhin hatte sie gerade dasselbe gesagt bekommen. Wie oft die Ärzte hier diesen Satz wohl aussprachen? fragte sie sich. „Ach, wissen Sie, wenn man mal in meinem Alter ist…Ein Arzt hatte mir sogar mal nur drei Monate gegeben, aber das ist schon neun Monate her.“ „Man sieht Ihnen aber gar nichts an.“ Ellen hatte ein anderes Bild von sterbenden Menschen im Kopf: Alt, dünn, fahl und gebrechlich. Diese Frau war zwar blass, sah aber nicht aus wie jemand, der in Kürze nicht mehr unter den Lebenden sein würde. Aber wie sieht eigentlich so jemand aus? Bestimmt nicht so vital wie die strickende Frau hier und auf keinen Fall Ende vierzig wie sie selbst. „Ich bin 68 Jahre und vier Monate alt“, sagte die Frau, als hätte Sie gewusst, dass Ellen über ihr Alter rätselte. „Mit etwas Glück erlebe ich den nächsten Geburtstag noch, aber allzu große Hoffnungen mache ich mir da nicht.“ „Sie nehmen die Sache ja ganz schön locker“, meinte Ellen, strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und musterte die Frau nun etwas genauer. Viel war nicht von ihr zu sehen, da sie die Bettdecke ziemlich weit nach oben gezogen hatte. Sie trug ein rosa Nachthemd und ein wollenes Bettjäckchen darüber. Ob sie es wohl selbst gemacht hatte? Die Wolle, mit der sie strickte, war dunkelbraun und es sah aus, als sollte es ein Pullover werden. „Was soll man denn sonst machen?“, meinte die Frau mit einer Gelassenheit, die Ellen verblüffte. „Es hilft ja nichts, sich verrückt zu machen. Ich habe in den letzten Jahren viel erlebt. Ich habe es satt, ständig in Krankenhäusern zu sein. Aber das sind nun mal meine Aussichten wenn es nach den Ärzten geht. Ich habe keine Kinder, nur eine Nichte, mit der ich mich nicht besonders gut verstehe. Die dürfte so in ihrem Alter sein. Ich lebe alleine in einem riesigen Haus, das mir mein Mann hinterlassen hat. Finanziell könnte ich mir fast alles leisten, was ich will. Aber Gesundheit lässt sich nun mal nicht kaufen. Eigentlich wollten mein Mann und ich gemeinsam noch ein paar schöne Jahre in unserem Haus verbringen. Jetzt ist es mein Mausoleum. Anfangs habe ich sehr damit gehadert und war verbittert, dass das ausgerechnet mir passieren musste, nachdem ich doch gerade meinen Mann verloren hatte. Ich habe ständig gedacht, dass es anderen besser geht als mir und dass mir alles Schlechte passiert und anderen immer alles in den Schoß fällt. Damit habe ich fast zwei Jahre meines Lebens verschwendet, bis mir schließlich klar wurde, dass ich das alles nicht so sehen darf. Immerhin ging es mir viele Jahre lang gut. Dafür darf ich nicht undankbar sein. Heute freue ich mich über jeden Tag meines Lebens, der mir noch ohne Schmerzen bleibt und ich versuche es, trotz der vielen Krankenhausaufenthalte, zu genießen.“ Sie hielt Inne und sah Ellen eindringlich an. „Das sollten Sie auch tun, Kindchen. Egal, was die Prognose ist. Das sollte jeder tun, ob er nun krank ist oder nicht.“ Ellen schwieg eine ganze Weile, während sie die Frau genau beobachtete. Sie spürte, wie die Emotionen sie übermannten und schließlich konnte Ellen die Tränen nicht mehr zurückhalten. Schluchzend brachte sie hervor: „Ich… ich... Mir wurde gerade gesagt, dass ich Brustkrebs im fortgeschrittenen Stadium habe. Metastasen an mehreren Stellen. Sechs Monate ohne, ein Jahr oder so mit Chemo.“ „Ach Kindchen“, sagte die Frau in sanftem Ton, „das mag sich jetzt herzlos anhören, aber es hätte auch noch schlimmer sein können.“ „Schlimmer?“ schluchzte Ellen und suchte verzweifelt nach einem Taschentuch in ihrer Handtasche. „Immerhin haben Sie mit einer Chemo noch Aussichten auf ein Jahr plus. Das hat nicht jeder.“ Ellen hörte für einen Moment auf zu weinen und schaute die Frau fassungslos an. Dann schnäuzte sie sich kopfschüttelnd in ihr Taschentuch. So etwas Plumpes hatte sie noch nie erlebt. Gerade hatte sie sich dieser Wildfremden geöffnet, ihr gesagt, dass auch sie bald sterben würde und die kam ihr so? „Haben Sie eigentlich gerade gehört, was ich gesagt habe? Haben Sie denn gar kein Mitgefühl?“ rief Ellen wütend. „Ach, Mitgefühl. Mitgefühl. Was hilft Ihnen denn Mitgefühl? Davon wird’s auch nicht besser. Was Sie jetzt brauchen, ist jemand, der Ihnen klar sagt, wie die Dinge stehen, ohne diese Mitleidsmasche. Das bringt doch nichts. Ist nur Zeitverschwendung. Sie verkriechen sich im Selbstmitleid, bedauern Tag und Nacht Ihre Lage und bevor Sie sich umschauen, ist ein Jahr vorbei und Sie haben nichts Sinnvolles damit angefangen. Machen Sie doch einfach noch was mit der Zeit, die Ihnen bleibt. Und wenn ich Ihnen einen gutgemeinten Rat mitgeben darf: Nehmen Sie die sechs Monate ohne Chemo und nicht das Jahr mit. Sie fühlen sich während einer Chemo die meiste Zeit so elend, dass Sie eh nichts von dem Jahr haben. Glauben Sie mir, ich weiß wovon ich rede. Bis zum Ruhestand schaffen Sie es vielleicht nicht mehr, aber Sie haben noch ein wenig Zeit geschenkt bekommen. Nutzen Sie diese weise.“ Das war Ellen nun wirklich zu viel. „Sie sind doch total wahnsinnig“, brachte sie fassungslos hervor. Dann sprang sie auf, drehte sich auf dem Absatz um und stürmte wutentbrannt aus dem Zimmer. Das war ja die Höhe. Wo war sie denn da gelandet?

Schnurstracks lief sie zum Schwesternzimmer, um sich zu beschweren. Ohne anzuklopfen riss sie die Glastür auf. Die Oberschwester, eine beleibte Frau, die schon einige Dienstjahre hinter sich zu haben schien, fuhr von ihrer Schreibarbeit auf, als Ellen lospolterte: „Das geht so nicht. Wo haben Sie mich denn da reingesteckt? Ich will ein anderes Zimmer.“

„Na, na, na“, entgegnete Oberschwester Linde kopfschüttelnd. „Nun kommen sie doch erst einmal an. Sie sind ja noch keine zehn Minuten hier. Wir sind nun mal kein Fünf-Sterne-Hotel. Sind Sie Privatpatientin? Nur dann haben Sie Anspruch auf ein Einzelzimmer.“ Mit feldwebelhaftem Ton wies sie ihre völlig aufgebrachte Patientin zurecht. Was sich manche Leute immer erdreisteten. Kaum waren sie hier, schon wurde gemeckert.

„Es geht mir nicht um Luxus“, erwiderte Ellen schnippisch. „Aber bei dieser Frau bleibe ich keine Sekunde länger“.

„So? In welchem Zimmer sind wir denn?“, fragte Oberschwester Linde spöttisch.

„Zimmer 211“, antwortete Ellen knapp. Schlagartig änderte sich der Tonfall der Oberschwester.

„Ach so, Zimmer 211. Ja, ja. Da haben Sie tatsächlich nicht das einfachste Los gezogen, was? Unsere werte Frau Althoff. Gewöhnungsbedürftig, exzentrisch, da gebe ich Ihnen recht.“

„Gewöhnungsbedürftig?“ rief Ellen. „Das ist ja wohl etwas milde ausgedrückt. Die Frau ist der Gipfel. Ich bin sehr krank und ich bleibe keine Sekunde länger mit dieser Person im gleichen Zimmer.“ Beruhigend strich die Schwester über Ellens Oberarm.

„Es tut mir wirklich leid, Frau ehm…“ ein schneller Blick auf ihren Zimmerplan, „…Frau Bleckmann. Aber wir haben momentan kein anderes Bett mehr frei. Naja, eins, aber das… das befindet sich eben auch in Frau Althoffs Zimmer.“ Sie kicherte, hörte damit aber sofort wieder auf, als sie merkte, dass Frau Bleckmann wohl nicht zu Scherzen aufgelegt war. „Sobald eins frei wird, werde ich schauen, was sich machen lässt“, fuhr sie fort. „Ich bitte Sie, solange Geduld zu haben. Morgen könnte sich eventuell etwas ergeben.“ Sie schaute kurz auf ihren Belegungsplan, der vor ihr an der Wand hing. Obwohl sie wusste, dass momentan keine Entlassungen vorgesehen waren, machte sie dieser verzweifelten Patientin falsche Hoffnungen. Aber was sollte sie denn sonst tun? Sie war müde. Es war ein langer Tag gewesen und in einer Stunde hatte sie Dienstschluss. Mit diesem Problem könnten sich ihre Kolleginnen morgen befassen, wenn sie ihren freien Tag hatte.

„Ich soll also eine ganze Nacht mit dieser Frau verbringen?“ rief Ellen. „Das ist doch hier ein Krankenhaus und meines Wissens sollte ein Krankenhaus eine Verbesserung des Gesundheitszustandes der Patienten zum Ziel haben. Wie kann es einem aber besser gehen, wenn man mit einer Person in einem Zimmer ist, die einem sagt, dass man doch mit seiner schlimmen Diagnose zufrieden sein soll und es immerhin noch schlimmer sein könne? Und dass ich lieber sechs Monate ohne Chemo als ein Jahr mit nehmen soll, da ich es ohnehin nicht bis zum Ruhestand schaffen werde.“ Sie schnaubte wütend, als sie daran dachte, mit welcher Gleichgültigkeit diese Frau das zu ihr gesagt hatte.

„Ach deshalb sind Sie wütend. Ich dachte es sei wegen…“, Oberschwester Linde hielt abrupt inne und fuhr dann in bestimmtem Ton fort: „Nun, es tut mir wirklich leid, aber ich kann Ihnen nichts anderes mitteilen, als dass Sie bis morgen warten müssen. Dann kann ich Ihnen sagen, ob irgendwo anders ein Bett freigeworden ist.“ Damit schob sie Ellen aus dem Dienstzimmer und schloss die Tür hinter sich.

Ratlos stand Ellen im Gang. Was hatte Oberschwester Linde gemeint mit „ich dachte es sei wegen…“? Was sollte sie nun tun? Zurück in ihr Zimmer wollte sie im Moment auf keinem Fall. Sie hatte keine Lust auf ein weiteres Gespräch mit dieser Wahnsinnigen. Ihre Handtasche hatte sie bei sich und so machte sie sich auf den Weg in die Cafeteria.


Die Krebs-WG

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