Читать книгу Die Krebs-WG - Sara M. Hudson - Страница 5

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Drei Espressi und ein Stück Marmorkuchen später fand sich Ellen wieder in ihrem Zimmer ein. Ihre Mitbewohnerin war gerade nicht da. Eine willkommene Gelegenheit, sich etwas hinzulegen und die Augen zu schließen. Sie faltete ihre dunkelbraune Jeans und hängte ihre farblich abgestimmte Bluse auf einen Kleiderbügel. Ihre braunen Wildlederstiefel stellte sie sorgsam unter das Bett. Dann schlüpfte sie schnell in ihren Pyjama und zog die Bettdecke bis an die Nase, obwohl ihr gar nicht kalt war. Bevor sie es sich versah, war sie in einen unruhigen Schlaf gefallen und träumte von Ärzten, OPs und ihrer Arbeit. Im Traum stand ihr Chef lachend vor ihr und sagte, sie sei zu alt und zu krank für ihre Arbeit. Er stellte ihr eine junge, blonde Schönheit vor, die ihren Platz eingenommen hatte. „Sie kommen ohnehin nicht mehr zurück“, rief er spöttisch. „Nie, nie wieder.“

Plötzlich fuhr Ellen hoch. Immer wieder hatte sie Udo Jürgens Schlager „Ich war noch niemals in New York…“ in ihrem Traum gehört. Sie saß senkrecht und schweißgebadet in ihrem Bett und brauchte erst einen Moment, um zu verstehen, wo sie eigentlich war. Schließlich stellte sie fest, dass sie von dem Lied gar nicht geträumt hatte, sondern dass ihre liebe Mitpatientin mit Kopfhörern strickend in ihrem Bett saß und lautstark einen Vers nach dem anderen schmetterte. In der Zwischenzeit war es dunkel geworden und das Tablett mit Essen stand unberührt auf Ellens Nachttisch. Sie musste einige Stunden geschlafen haben, wenn sie sogar nicht einmal mitbekommen hatte, dass ihr das Essen gebracht worden war.

Frau Althoff hatte nicht mitbekommen, dass Ellen aufgewacht war und sie fassungslos anstarrte. Endlich war das Lied zu Ende. Doch schon begann sie „Griechischer Wein“ zu singen.

Nachdem Ellen einige Male „hallo, etwas leiser, bitte“ gerufen hatte und keine Reaktion erhielt, sah sie keine andere Möglichkeit, als aufzustehen und zu der Frau hinüber zu gehen, um diesen Wahnsinn zu beenden.

„He, Sie sind hier nicht allein im Zimmer“, Ellen schrie fast. Als die Frau aber noch immer nicht reagierte, zupfte Ellen sie unsanft am Ärmel. Frau Althoff zuckte zusammen und blickte von ihrem Strickzeug auf. „Oh, verzeihen Sie. War ich wieder zu laut? Ich vergesse mich immer, wenn ich Udo Jürgens höre. Tut mir leid.“ Diese Worte schrie sie, denn sie trug noch immer ihre Kopfhörer und hatte die Musik offensichtlich voll aufgedreht. Ellen erwiderte etwas, was Frau Althoff allerdings nicht verstehen konnte.

„Sie müssen schon lauter sprechen, Kindchen“, meinte sie und entfernte ihre Kopfhörer erst, als Ellen wild gestikulierend vor ihrer Nase rumfuchtelte.

„Ach so, deshalb habe ich nichts verstanden“, meinte Frau Althoff. „Was haben Sie gesagt?“

„Ich habe gesagt, dass Sie hier nicht alleine im Zimmer sind“, wiederholte Ellen genervt. „Es ist immerhin…“, sie schaute kurz auf ihre goldene Armbanduhr „halb acht“, vervollständigte sie dann ihren Satz kleinlaut. Es hatte sich für sie schon viel später angefühlt.

„Haben Sie vielleicht Lust, Karten zu spielen? Ich finde es immer so langweilig im Krankenhaus. Ich bin eine Nachtschwärmerin, müssen Sie wissen, und zu Hause gehe ich vor zwei Uhr morgens nicht ins Bett.“ Na, das konnte ja heiter werden, dachte Ellen.

„Nein danke“, antwortete Ellen knapp.

„Dann vielleicht einen Film schauen? In einer dreiviertel Stunde beginnt das Abendprogramm. Sie dürfen wählen.“ Ellen atmete tief ein. Diese unmögliche Person hatte absolut kein Gespür dafür, dass sie überhaupt keine Lust hatte sich mit ihr zu unterhalten, geschweige denn mit ihr fernzusehen. Sie wollte einfach nur in Ruhe gelassen werden und sich mit ihrem Schicksal auseinandersetzen.

„Geben Sie mal ihr Glas her. Ich habe hier was Gutes für Sie, “ sagte Frau Althoff und griff nach der Saftflasche, die auf ihrem Nachtisch stand. Sich selbst schenkte sie zuerst einen ordentlichen Schluck ein, bevor sie auf Ellens Glas deutete. Diese fuhr sie zornig an:„Hören Sie, ich habe keinen Nerv zum Kartenspielen oder Fernsehen. Mir wurde heute mitgeteilt, dass ich, egal wie ich’s mache, nicht mehr lange zu leben hab. Mein Kopf spielt verrückt. Ich kann keinen klaren Gedanken fassen und Sie kommen mir mit Udo Jürgens, Kartenspielen, Fernsehen und Saft trinken. Heute Nachmittag erzählen Sie mir noch, dass ich es eh nicht bis zum Ruhestand schaffen werde. Haben Sie denn gar kein Taktgefühl?“

Die alte Dame sah Ellen von oben bis unten an. Sie atmete tief ein und begann dann mit ruhiger Stimme: „Gerade weil ich weiß, wie es Ihnen geht, mache ich Ihnen diese Vorschläge, Kindchen. Ich habe doch das Gleiche schon hinter mir. Mir hat damals niemand wirklich geholfen, weder als ich meinen Mann verloren hatte, noch als bei mir selbst diese Krankheit diagnostiziert wurde. Da musste ich ganz alleine durch. Die Hand getätschelt zu bekommen und gesagt zu kriegen, wie schlimm das ja alles ist, hätte ich aber auch schon damals nicht für besonders hilfreich gehalten.

Da Sie weder jemand hier her begleitet, noch bisher besucht hat, gehe ich davon aus, dass Sie, wie ich, keine Familie haben, oder mit der Sache irgendwie selbst fertig werden wollen. Ich weiß, dass das alles nur schwer alleine geht, Kindchen. Das ist eben meine Art, Ihnen Hilfe anzubieten.“

Ellen antwortete nicht. Sie hatte sich kraftlos auf das leere, mit Schutzfolie überzogene Bett fallen lassen, das zwischen ihnen stand und sah Frau Althoff mit großen Augen an. Die Frau hatte ja recht: Sie hatte wirklich niemanden, der ihr jetzt zur Seite stehen würde. Wer war da denn schon? Ihre Kollegen? Oder etwa ihr Chef? Außerhalb der Arbeit hatte sie mittlerweile nur wenige Kontakte und als Einzelkind, dessen Eltern seit deren Ruhestand am Gardasee lebten, auch niemanden, der in ihrer unmittelbaren Nähe lebte und sich um sie kümmern würde.

Ihren Eltern hatte sie von der Krankheit noch gar nichts gesagt. Sie wollte sie nicht beunruhigen. Ihr Vater hatte ohnehin Herzprobleme und konnte Aufregung nicht vertragen. Sie hatte geglaubt, damit durchzukommen, ihnen alles zu verschweigen. Von der OP hätten sie nie etwas erfahren müssen. Sie wäre in ein paar Tagen wieder zu Hause gewesen, hätte ihren Eltern vielleicht erzählt, dass sie für ein paar Tage verreist war und die Sache wäre erledigt gewesen. Aber jetzt…

„Wie dem auch sei“, sagte Frau Althoff bestimmt. „Sie müssen auf andere Gedanken kommen. Ich weiß, wir kennen uns nicht. Aber nehmen Sie meinen wohlgemeinten Rat an: Es hilft wirklich nichts, zu jammern und in Selbstmitleid zu versinken. Das tut ihrem Gesundheitszustand überhaupt nicht gut. Was sie tun müssen, ist weitermachen. Kämpfen solange es geht! Je schneller Sie ihr Schicksal annehmen, desto besser! Dann bekommen Sie auch die Kraft, zu kämpfen und geben Ihrer verbleibenden Zeit mehr Qualität. Außerdem erwischt es früher oder später eh jeden von uns.“

In Ellens Augen blitzten Zorn und Verzweiflung auf und sie schrie:

„Sie mit Ihren blöden Weisheiten! Wie soll ich denn weitermachen, wenn es nicht mehr lange zum Weitermachen gibt? Ein halbes Jahr, ein Jahr… Das sind doch keine Aussichten! Wie können Sie nur sagen, dass ich das alles lockerer sehen muss?“

Frau Althoff stand auf, legte ihren tragbaren CD-Player auf ihren Nachttisch, nahm die Saftflasche und ein frisches Glas und setzte sich neben Ellen aufs Bett. Die Schutzfolie knisterte. „Das hat nichts mit ‚locker sehen‘ zu tun. Sie wissen nie, wann es vorbei ist, Kindchen. Ob Sie nun gesund sind oder nicht. Es kann immer aus sein, ohne dass man damit rechnet. Ein Unfall, ein Schlaganfall, ein Herzinfarkt…. Der Tod macht vor keinem Halt. Die Wenigsten machen sich darüber rechtzeitig Gedanken und meinen, das reicht noch, wenn man alt ist. Aber wer sagt, dass man so lange Zeit hat? Nicht viele wissen, wann und an was sie sterben werden. Wir wissen es. Naja, nicht genau wann, aber wir können den Zeitraum ziemlich eng eingrenzen.“

Ellen schüttelte verständnislos den Kopf. Mit den seltsamen Ansichten und Lebensweisheiten dieser Frau konnte sie sich absolut nicht anfreunden. Trotzdem ließ sie Frau Althoff gewähren, als sie ihr einen großen Schluck roten Saft einschenkte und ihr hinhielt. Sie drehte sich auch nicht von ihr weg, als sie ihr die Hand auf die Schulter legte und sagte: „Trinken Sie, dann geht es Ihnen gleich wieder besser.“ Misstrauisch nahm Ellen das Glas und roch daran.

„Das ist ja gar kein Saft“, schniefte sie und wischte sich eine Träne von der Wange.

„Naja, aber wenn man es genau nimmt, war es mal Saft. Jetzt nennt man es Port. Zum Wohl“, erwiderte Frau Althoff kichernd, langte zu ihrem Nachttisch hinüber und holte sich ihr eigenes Glas. Sie prostete Ellen zu und trank es dann in einem Zug leer. Ellen lächelte müde, hob aber schließlich doch ihr Glas, prostete Frau Althoff zu und trank.

Einige Zeit später betrat die Nachtschwester Zimmer 211 auf ihrem abendlichen Rundgang. Sie hatte im Berichtbuch gelesen, dass es Probleme in diesem Zimmer gab. Sie erwartete Gezeter und Beschwerden und hatte sich deshalb dieses Zimmer auf ihrer Runde bis zum Schluss aufgehoben. Sie wollte erst alle anderen Patientinnen versorgt wissen, da sie bestimmt heute Abend noch so einige Scherereien mit den Bewohnern dieses Zimmers haben würde. Wo Frau Althoff war, gab es immer Beschwerden. Sie war ja nicht das erste Mal hier und war, sowohl dem Pflegepersonal als auch den Ärzten, wohl bekannt. Meistens ging es um ihren Udo-Jürgens-Tick. Frau Althoff pflegte, ohne Rücksicht auf andere, lauthals einen Udo-Jürgens-Schlager nach dem anderen zu schmettern. Manchmal auch mitten in der Nacht.

Als die Nachtschwester nun das Zimmer betrat, hatte sie aber eher das Gefühl zu stören, denn die beiden Patientinnen saßen einvernehmlich am Tisch, spielten Karten und kicherten vergnügt. Sie blickten nicht einmal von ihrem Blatt auf, als sie sie fragte, ob sie noch etwas zum Schlafen bräuchten und beide verneinten. Schwester Daniela wünschte den beiden Frauen eine gute Nacht und nahm auf dem Weg nach draußen Ellens Tablett mit, das noch immer vom Abendessen dastand. Zurück im Schwesternzimmer warf sie verwirrt einen Blick ins Stationsbuch. „Probleme in Zimmer 211. Patientin Bleckmann wünscht verlegt zu werden, weil sie mit Patientin Althoff nicht klarkommt.“ So stand es eindeutig und unmissverständlich im Buch, hatte aber eben nicht danach ausgesehen.

„Haben Sie denn gar nichts zu Essen bekommen?“ fragte Ellen ihre Mitbewohnerin.

„Ich werde doch morgen operiert, da krieg ich nichts mehr“, war deren Antwort.

„Und dann trinken Sie Alkohol?“ fragte Ellen entsetzt.

„Ja, ja, das geht schon“, beschwichtigte sie diese. „Was soll denn schon passieren? Mehr als sterben kann ich schließlich nicht.“ Missbilligend schüttelte Ellen den Kopf. Schon wieder so eine sarkastische Bemerkung.

„Wie haben Sie ihn eigentlich bemerkt?“ wollte Frau Althoff wissen.

„Bemerkt? Den Krebs?“ fragte Ellen. Frau Althoff nickte und nahm einen großen Schluck von ihrem Glas. Ellen atmete tief ein. Die Erinnerung an diesen Tag vor ungefähr sechs Wochen war schmerzhaft.

„Ich hab’s beim Duschen gemerkt. So eine Beule unter der Achsel, die ich beim Abtrocknen spürte. Ich habe erst so ein bisschen daran herumgedrückt und dann meine Brust abgetastet. Da bemerkte ich einen weiteren Knoten. Erst dachte ich, ich bilde mir das ein, dann habe ich alles auf den Stress in der Arbeit geschoben. Geschwollene Lymphknoten hat schließlich jeder mal. Ich dachte einfach, dass ich da wohl eine Grippe ausbrütete.“

„Sind Sie nicht gleich zum Arzt gegangen?“ fragte Frau Althoff.

„Das war ja das Problem“, sagte Ellen bitter. Ich habe es erst einmal verdrängt und noch ganze vier Wochen gewartet, bis ich endlich zu meiner Frauenärztin gegangen bin.“

„Aha, das hätte ich nicht von Ihnen gedacht“, meinte Josephine und legte ihre Karten auf den Tisch.

„Wie meinen Sie?“ wollte Ellen wissen.

„Ich kenne Sie zwar erst seit ein paar Stunden, aber Sie scheinen mir eher der Mensch, der sofort einen Arzt aufsucht, wenn er merkt dass etwas nicht stimmt. So kann man sich täuschen.“

„So ganz falsch schätzen Sie mich da nicht ein“, gab Ellen zu. „Ich wäre normalerweise wirklich sofort zum Arzt gegangen. Man liest ja auch immer wieder, dass man das ab einem gewissen Alter vorsorglich regelmäßig tun sollte. Aber in der Arbeit war gerade einfach zu viel los. Da konnte ich doch nicht….“ Sie hielt inne und dachte daran, ob es wohl einen Unterschied gemacht hätte, wenn sie sechs Wochen früher hierher gekommen wäre.

„Ah, die Arbeit!“ sagte Frau Althoff. „Wie nett von Ihnen, Ihre Bedürfnisse für die Arbeit zurückzustellen. Ich hoffe, Ihr Chef wird es Ihnen danken. Was machen Sie denn?“ Ellen ging nicht auf die zynische Bemerkung ihrer Zimmergenossin ein und antwortete: „Ich bin in der Werbung tätig. Naja, um genau zu sein, bin ich die zweite Geschäftsführerin einer kleineren Werbeagentur. Das ist sehr stressig. Wenn man da mal eine Weile aussetzt, ist man weg vom Fenster. Man steht in ständigem Konkurrenzkampf mit jungen Kollegen, die frisch vom Studium kommen und mit den neuesten Techniken vertraut sind. Da muss man mit 48 Jahren schon schauen, dass man den Anschluss nicht verpasst. Mein Chef hat hohe Ansprüche und, obwohl ich schon zwanzig Jahre für ihn arbeite und viel Erfahrung habe, hatte ich in letzter Zeit immer das Gefühl, dass er mich loshaben wollte.“

„Wie das?“ fragte Frau Althoff interessiert.

„Naja, er hat immer solche Bemerkungen gemacht, wie wichtig es sei, auf dem neuesten Stand zu bleiben. Dabei hatte ich immer das Gefühl, dass er dabei mich meinte. Außerdem lobte er die jüngeren Mitarbeiter für jede Kleinigkeit, beachtete mich aber kaum noch. Bei wichtigen Entscheidungen stellte er mich immer öfter vor vollendete Tatsachen, statt Dinge mit mir abzusprechen. Vielleicht habe ich mir das alles auch nur eingebildet. Jedenfalls habe ich die letzten Monate deshalb noch härter gearbeitet als sonst, habe freiwillig Überstunden geschoben, bin auf eigene Kosten auf Fortbildungen gegangen und habe mir kaum eine freie Minute gegönnt. Dabei habe ich eben auch die Alarmzeichen meines Körpers ignoriert.“

„Kommt mir irgendwie bekannt vor“, sagte Frau Althoff lächelnd. „Wann sind sie dann zum Arzt?“

„Als die Knoten nicht weggingen, holte ich mir dann endlich einen Termin bei meiner Frauenärztin. Das war vier Wochen nachdem ich sie entdeckt hatte.“ Frau Althoff zog die Augenbrauen nach oben.

„Die war gleich bei der Untersuchung beunruhigt und redete von einer Verdichtung des Gewebes. Selbst dann sah ich den Ernst der Lage nicht. Was sollte schon sein? Ich wollte mich einfach nicht verrückt machen lassen. Als dann letzte Woche die Ergebnisse der Biopsie zurückkamen, hatte ich den Salat.“

„Und dann mussten Sie, ob sie wollten oder nicht, die Arbeit loslassen, von der Sie so unentbehrlich zu glauben schienen“, ergänzte Frau Althoff Ellens Geschichte.

„Mein Chef war sehr verständnisvoll und sagte, dass die Arbeit warten könne und ich erst einmal gesund werden solle.“

„Sie meinen, dann war Ihre Tätigkeit doch nicht so wichtig, wie sie dachten? Erstaunlich.“

„Können Sie eigentlich nichts ernst nehmen?“ fragte Ellen gereizt.

„Das habe ich, leider viel zu lange, “ rief Frau Althoff bitter. „Wissen Sie, ich habe auch viel zu viel Zeit in meinem Leben damit zugebracht, mich für andere aufzureiben und das ganz ohne Kinder und Familie. Ich hatte, ähnlich wie Sie, eine Führungsposition in einer großen Firma. Mein Mann war dort Prokurist. Tag und Nacht haben wir gearbeitet und viel zu wenig Zeit zusammen verbracht. Wir hatten uns gegen Familie entschieden, weil uns unsere Karrieren wichtiger waren, Geld anhäufen, unabhängig sein. Nur selten haben wir uns einen längeren Urlaub gegönnt. Aber wenn, dann richtig. Luxusurlaub der besonderen Klasse. Die Hotels konnten gar nicht genug Sterne für uns haben. Aber die Urlaube waren kurz. Maximal zwei Wochen, denn wir waren in der Arbeit ja unabkömmlich. Im Ruhestand, da wollten wir dann all das tun, wofür wir uns nie Zeit genommen hatten: monatelange Kreuzfahrten, Weltreisen und, und, und.

Schon wenige Monate, nachdem mein Mann in den Ruhestand getreten war, bekam er die Diagnose: Darmkrebs. Zunächst sah es ganz gut für ihn aus. Aber am Schluss hat er den Kampf dann doch verloren. Typisch, nicht wahr? Jeder schiebt die schönen Dinge des Lebens immer auf den Ruhestand hinaus. Mir wird das nicht passieren, denkt man leichtsinnig. Ich werde schon gesund bleiben.

Bei meinem Mann und mir hat das leider nicht geklappt.“

Ellen sah Frau Althoff nachdenklich an.

„Tut mir leid, dass das alles so für Sie gelaufen ist“, sagte Ellen voller Mitgefühl. Die Frau hatte nun schon wirklich viel mitgemacht und stellte sich dabei nicht so an, wie sie selbst.

Frau Althoff griff schweigend zur Saftflasche und schenkte ihnen beiden nach. Sie prosteten sich zu und widmeten sich dann wieder ihrem Kartenspiel.


Die Krebs-WG

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