Читать книгу Die Krebs-WG - Sara M. Hudson - Страница 8

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Es war drei Uhr morgens und Ellen lag, sich hin und her wälzend, in ihrem Bett. Sie konnte einfach keine Ruhe finden. Unruhige Träume hatten sie geweckt und nun konnte sie nicht mehr abschalten. Sie konnte nur noch an all das denken, was noch vor, aber auch schon hinter ihr lag.

Ihre Gedanken spielten verrückt. Wäre sie doch nur früher zum Arzt gegangen. Hätte sie ihre Vorsorgeuntersuchungen doch regelmäßig gemacht. Wie oft hatte sie schon von Frauen in ihrem Alter gehört, bei denen Krebszellen gefunden worden waren und die mit der Diagnose leben mussten. Ja, aber viele von denen durften weiterleben. Sie nicht. Warum war ihr die Arbeit nur immer wichtiger gewesen als ihre Gesundheit? Für wen hatte sie sich eigentlich immer so abgerackert? Kinder hatte sie keine und einen Partner auch nicht mehr. Hätte Ralf ihr beigestanden, wenn er heute noch bei ihr gewesen wäre? Sie zweifelte daran. Ralf hatte sich über die 18 Jahre, in denen sie zusammen gewesen waren, in einen oberflächlichen Lebemenschen entwickelt. Spaß haben, das war seine Devise. Spaß haben und möglichst keine Verantwortung übernehmen. Deshalb hatte er sie in all der Zeit, in der sie zusammen gewesen waren auch kein einziges Mal gefragt, ob sie ihn heiraten würde. Immer hatte er es für besser gehalten, wenn beide ein Stück weit ihr eigenes Leben hatten. So hatte er auch großen Wert darauf gelegt, dass ihre Finanzen getrennt liefen. Und das, obwohl Ellen gar nicht schlecht verdiente und er durchaus finanzielle Vorteile durch eine Hochzeit gehabt hätte.

Hätte sie überhaupt ja gesagt? Es gab mal eine Zeit, da hätte sie es bestimmt getan! Nur die letzten Jahre nicht mehr.

Den jahrelangen Trennungsprozess hatten sie mit seinem Auszug aus der gemeinsamen Wohnung abgeschlossen. Die wenigen Dinge, die sie sich zusammen gekauft hatten, wurden ohne Streiterei aufgeteilt und er verschwand ohne Umschweife und Beziehungsdrama aus ihrem Leben. Sie hatten sich beide darauf geeinigt, dass es einfach keinen Wert mehr hatte. Sie hatten sich, wie es so schön abgedroschen heißt „auseinandergelebt“. Gestritten hatten sie die letzten Jahre eher weniger, im Gegenteil: Das Desinteresse für den anderen wurde immer größer, bis sie fast nichts mehr zusammen unternahmen, sich immer weniger zu sagen hatten und einen immer unterschiedlicheren Freundeskreis aufgebaut hatten. Ralf liebte es, die Wochenenden im Fußballstadion zu verbringen, anschließend mit seinen Kumpels, von denen mindestens die Hälfte geschieden war, in die Kneipe zu gehen, Bier zu trinken und Fußball zu schauen. Dinge, die Ellen vor einigen Jahren, bis zu einem gewissen Maß, auch Spaß gemacht hatten. War sie in ihren ersten gemeinsamen Jahren nicht oft mit Ralf grölend auf Schalke gewesen und anschließend in der Kneipe feiern? Dies schien ihr nun fast unvorstellbar weit entfernt.

Die letzten Jahre hatte sie einen Geschmack für moderne Kunst entwickelt und viele Ausstellungen besucht. Sie ging gerne ins Theater oder schick essen. Wofür sollte sie auch sonst ihr Geld ausgeben?

Nur ein kleiner Kreis von Freunden und Bekannten gehörte zu den Menschen, die sie an ihrem Leben teilnehmen ließ und auch dieser Kreis war schon ziemlich ausgedünnt. In den letzten Jahren hatte sie immer weniger Zeit für Freizeit gehabt. Die Beförderung zur zweiten Geschäftsführerin, die steigenden Ansprüche in der Werbeagentur, die ständige Angst, ihren Arbeitsplatz zu verlieren, weil sie von jüngeren Mitarbeitern einfach überrollt wurde. Was würde jetzt werden, wo sie krank war? Würde sie, wenn sie nach der Chemo zurückkehrte, durch jemand anderen ersetzt worden sein? Würde sie jemals an ihren Arbeitsplatz zurückkehren? Wollte sie dorthin überhaupt zurückkehren?

Ellen blickte aus ihrem Schlafzimmerfenster. Die Jalousien waren oben, das Fenster gekippt. Sie hasste es, bei geschlossenem Fenster zu schlafen. Es war eine sternenklare Nacht. Ein lauer, fast schon frühlingshafter Wind blies sanft die Vorhänge zurück. Ihre Gedanken sprangen wild umher und sie musste wieder an Ralf denken. Wo er jetzt wohl war? Ob er eine Neue hatte? Seit ihrer Trennung hatten sie nur ein paar Mal telefoniert und das bloß, um sich über einige Dinge zu einigen, die sie als Paar gemeinsam gehabt hatten: Die Einrichtung der Wohnung, das Jahresticket für Schalke, das gemeinsame Lotterielos. Außerdem war da noch der vor Monaten gebuchte Sommerurlaub in Italien, welcher natürlich storniert werden musste.

Seit ungefähr fünf Monaten gab es keinen Kontakt mehr zwischen ihnen, was Ellen bisher auch nicht weiter vermisst hatte. Eigentlich hatte sie bis zu dieser Nacht keinen Gedanken mehr an Ralf verschwendet. Ihre Tage waren immer sehr ausgefüllt gewesen.

Heute Nacht vermisste sie ihn bewusst zum ersten Mal. Als ihre Beziehung noch gut lief, war er immer für sie da gewesen, wenn es ihr nicht gut ging, wenn sie in der Arbeit Stress hatte oder sie sich deprimiert fühlte. Mit seiner lockeren Art konnte er sie immer wieder aufheitern. Damals war er noch ein aufmerksamer Zuhörer gewesen. Dies war auch wohl der Grund dafür, warum sie so lange zusammengeblieben waren. Allerdings war Ellen schon etwas enttäuscht, dass sie in all den Jahren nie einen Heiratsantrag bekommen hatte. Zwar hatte Heiraten nie höchste Priorität für sie gehabt, doch hatte sie sich ganz tief im Innern immer einen Menschen an ihrer Seite gewünscht, der sie versorgt, auch wenn sie immer einen sehr selbstbewussten und selbständigen Eindruck machte. Das hatte ohnehin hauptsächlich mit ihrem Job zu tun, in dem man einfach selbstbewusst sein musste. In Wirklichkeit war sie nicht einmal halb so taff, wie sie sich gab. Das zeigte ja ihr kurzer Krankenhausaufenthalt.

Plötzlich fiel ihr wieder siedend heiß ihre Diagnose ein und der Stich in der Magengegend machte sich wieder bemerkbar. Natürlich hätte sie nicht so naiv sein und selbst noch beim Frauenarzt denken dürfen, dass schon alles ok wäre und dass sie bestimmt nichts Schlimmes haben würde. Warum denn nicht? Warum nicht sie? Wenn es täglich so viele andere Frauen traf, warum dann ausgerechnet sie nicht? Jetzt schämte sie sich für ihre Ignoranz und ihre Naivität. Dann diese spontane Zusage zur Chemo, noch bevor sie sich eingehender darüber informiert hatte. Josephine, die immerhin schon Erfahrung damit gemacht hatte, hatte ihr auch abgeraten. Das war gar nicht ihre Art. Normalerweise recherchierte sie erst einmal alles im Internet, erst recht, wenn es um Krankheiten und Medikamente ging und informierte sich ausgiebig über Nebenwirkungen, Wechselwirkungen und Alternativen. Dieses Mal hatte sie nach einem 20-minütigen Gespräch mit einem Arzt, den sie zum ersten Mal in ihrem Leben gesehen hatte und nachdem sie sich ein paar Infoblätter durchgelesen hatte, sofort unterschrieben. Sie hatte einer einzigen Meinung und einer einzigen Person so blind vertraut? War das ein Zeichen dafür, dass sie sich bereits mit ihrem Schicksal abgefunden hatte, ein Zeichen dass sie schon resigniert hatte und sich willenlos in die Hände der Ärzte begab? Oder war es die Hoffnung, die ja bekanntlich zuletzt stirbt? Wieso holte sie sich eigentlich keine zweite Meinung von einem anderen Arzt ein? Das würde sie doch jedem anderen raten, oder nicht? „Wir haben wenig Zeit“, hörte sie den Doktor sagen. „Sie müssen sich zügig entscheiden, Frau Bleckmann. In diesem Stadium zählt jeder Tag.“ „Ich würde die sechs Monate ohne Chemo nehmen“, mischte sich nun Josephine in ihre Gedanken ein. Hatte sie sich richtig entschieden? Sie hatte noch vier Tage, um ihre Meinung zu ändern.

Gequält stand sie auf, schlüpfte in ihre Filzhausschuhe und schlurfte in ihre gemütliche, kleine Küche. In Zeiten wie diesen war Schokolade oder ein heißer Kakao ein Trost. Sie entschied sich für beides, holte die Milch aus dem Kühlschrank und einen Schokoriegel aus dem Vorratsschrank. Dann schaltete sie ihren Laptop ein, der auf dem Küchentisch stand an und tippte nervös: „Brustkrebs fortgeschritten“ in die Suchmaschine ein. Nach kurzem Überfliegen einiger Seiten erweiterte sie ihre Suche um das Wort „Lebenserwartung“, erhielt dafür aber keine konkreten Ergebnisse. So wie sie das verstand, gab es so viele verschiedene Arten von Brustkrebs, dass die Lebenserwartung bei metastasiertem Brustkrebs extrem variierte. Welcher der vielen verwirrenden Bezeichnungen nun ihre Krebsart war, wusste sie auch noch nicht. Der Arzt hatte es bei ihrem Gespräch bestimmt erwähnt, sie hatte es aber vergessen oder verdrängt.

Erst, als die Morgenröte durch ihr Küchenfenster drang, schaltete sie den Computer aus. Besser fühlte sie sich nicht, eher im Gegenteil. Sie hatte in den fast vier Stunden, in denen sie am Laptop gesessen hatte, nun so viel Verwirrendes und Angsteinflößendes, aber auch Hilfreiches, Interessantes und Hoffnungsvolles über Brustkrebs, Chemos und andere Behandlungsmöglichkeiten gelesen, dass ihr ganz schwindelig war. Ins Bett konnte sie nicht mehr, dazu war sie nun viel zu aufgekratzt.

Entschlossen begab sie sich ins Bad, duschte ausgiebig und wollte noch an diesem Vormittag ins Krankenhaus zu Josephine. Deren seltsam gleichgültige und doch sehr klare Art, war genau das, was sie jetzt brauchte. Sie hatte das Gefühl, sonst wahnsinnig zu werden.

Die Krebs-WG

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