Читать книгу Die Krebs-WG - Sara M. Hudson - Страница 6
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Оглавление„Nennst du mich jetzt endlich Josephine?“, wollte Frau Althoff wissen, als sie am nächsten Morgen auf die Visite warteten. „Wer einen so haushoch beim Canasta schlägt, darf einen nicht mehr siezen. Oder hast du etwa geschummelt?“ „Geschummelt? Sie, ich meine du hast mich doch gewinnen lassen. Ich heiße übrigens Ellen.“ Trotz der schlimmen Nachrichten vom Vortag hatte Ellen wunderbar schlafen können, auch ohne Schlafmittel. Oder hatte das der Port von Josephine bewirkt? Gemeinsam hatten sie doch tatsächlich die ganze „Saftflasche“ geleert.
Kurze Zeit später betrat der Chefarzt begleitet von einer Schar Weißkitteln das Zimmer. Er warf einen kurzen Blick auf Ellens Akte und begann dann ohne Umschweife: „Guten Morgen, die Damen. Frau Bleckmann. Sie haben gestern keine so erfreuliche Diagnose erhalten. Haben sie schon die Zeit gefunden, sich Gedanken dazu zu machen, ob eine Chemotherapie für sie in Frage kommen würde?“ Ellen blickte nervös zu Josephine hinüber. Diese war allerdings schon wieder ins Stricken vertieft und ignorierte die Ärzte völlig. „Ja“, antwortete Ellen. „Ich spiele mit dem Gedanken, eine Chemo zu machen.“ Josephine hielt inne blickte aber nicht von ihrem Strickzeug auf. Erst als Ellen verstohlen zu ihr hinübersah, sahen sich die beiden Frauen einen Moment lang an. In Josephines Ausdruck war zunächst Erstaunen zu erkennen, aber als sie Ellens Verzweiflung in ihrem Blick bemerkte, nickte sie ihr beruhigend zu. Sie selbst hätte sich anders entschieden, aber Ellen hatte noch nicht die Erfahrungen gemacht wie sie selbst und klammerte sich offenbar an jeden Strohhalm. Diese Entscheidung musste man einfach akzeptieren.
„Gut, Frau Bleckmann. Wir werden ihnen die Informationen zu ihrer Chemotherapie im Laufe des Tages vorbeibringen. Wenn sie sich dafür entscheiden, müssten sie sich in der Onkologie vorstellen. Dort wird dann alles Weitere veranlasst. Wir sollten unverzüglich mit der Therapie beginnen, um das bestmögliche Ergebnis zu erzielen. Die Therapie würde nicht stationär von statten gehen. Sie könnten also schon heute oder spätestens morgen mit einer Entlassung rechnen.“
„Dann werde ich also nicht operiert?“, fragte Ellen unsicher.
„Das würde gegebenenfalls erst nach der Chemothereapie geschehen, wenn die Tumore geschrumpft sind. Allerdings nur an den Stellen, an denen sie auch entfernt werden können. Bei Ihnen wären das….“ Er warf einen Blick in Ellens Krankenakte. „… eigentlich nur an der Brust und den axillaren Lymphknoten. War der soziale Dienst gestern bei Ihnen?“ Ellen schüttelte den Kopf. Vielleicht hatte sie ihn verpasst, als sie in der Cafeteria gewesen war, oder als sie geschlafen hatte. „Der hätte eigentlich schon mit Ihnen gesprochen haben müssen. Ich werde das sofort veranlassen.“ Damit war die Sache für den Arzt erledigt und er fuhr fort, ohne von seinem Clipboard aufzublicken: „Nun zu ihrem kleinen zwischenmenschlichen Problem. Sie wollten in ein anderes Zimmer verlegt werden? Wir haben…“
„Nein, nein, nein“, fuhr ihm Ellen ins Wort. „Das hat sich erledigt.“ Sie schaute kurz zu Josephine hinüber und lächelte etwas beschämt. Sie hatte ihr von ihrem Vorhaben nach dem netten gemeinsamen Abend gestern natürlich nichts mehr erzählt.
„Gut, gut. Es ist ohnehin nichts freigeworden. Und da sie ja nun entlassen werden…“, antwortete Chefarzt Rehn und widmete sich, ohne seinen Satz zu Ende zu sprechen, Josephine Althoff.
Ellen bekam alles von dem Gespräch mit und konnte gar nicht fassen, wie souverän Josephine mit all dem Gesagten umging. Zur OP würde sie heute im Laufe des Vormittages abgeholt werden. Es wäre ein letzter Versuch, ihre Beschwerden etwas zu lindern, nachdem die letzte Behandlung auch nicht den erwünschten Erfolg gebracht hatte. Trotzdem müsse sie mit starken Schmerzen rechnen, die auch nach der OP früher oder später unvermeidlich kommen würden, wenn sich der Krebs immer weiter ausbreitete. Ob sie schon einen Pflegedienst zu Hause hätte. Sie könne sich gerne mit der Dame vom Sozialdienst darüber unterhalten, die im Laufe des Nachmittages auch bei ihr vorbeischauen werde.
„Nö“, antwortete Josephine unbeschwert. „Noch krieg ich meinen Kram ganz gut alleine hin und wenn es soweit ist, kann sich der soziale Dienst ja dann darum kümmern. Dafür hat man ihn doch, oder?“ Der Chefarzt zog missbilligend die Augenbrauen nach oben. Er war mit derart provokativen Antworten dieser Patientin vertraut. Dieser Kommentar war noch relativ mild für ihre Verhältnisse. „Ihre Entscheidung“, antwortete er schließlich gefühlskalt. „Sind ihre Angehörigen über die Situation informiert?“ Zum ersten Mal konnte Ellen Wut in Josephines Stimme hören als sie dem Doktor zähneknirschend und etwas lauter als normal antwortete: „Wenn sie mal in Ihre Akte schauen, Herr Doktor, werden Sie sehen, dass ich bis auf eine Nichte keine Angehörigen angegeben habe, die man informieren könnte. Das hatte ich Ihnen persönlich auch schon mehrere Male gesagt. Und meine Nichte interessiert das eh nur, weil sie mein Haus und meine Kohle will. Ich bin ja nun auch nicht das erste Mal auf dieser Station und diese Frage haben Sie mir schon das letzte Mal gestellt, als ich nach der letzten Chemo mit einer Lungenentzündung hier lag und Sie mir prophezeit haben, dass ich in drei Monaten den Löffel abgeben werde. Nun, hier bin ich noch immer, neun Monate später und habe keinen Familienzuwachs bekommen.“
Der Doktor kniff seine Lippen zusammen und schwieg. Kein Wunder wollte keiner mit dieser Frau in einem Zimmer bleiben. Was Frau Bleckmann dazu bewegt hatte, ihre Meinung zu ändern, verstand er nicht.
Schließlich antwortete er emotionslos: „Ja, richtig. Tut mir leid, aber Sie sind nicht meine einzige Patientin, Frau Althoff. Ich kann mir nicht die Familienverhältnisse all meiner Patientinnen merken.“ Als von Josephine keine Antwort mehr kam, sagte er nach einem kurzen Blick in die Akte: „Also dann, bis später im OP. Brauchen Sie noch ein Beruhigungsmittel?“
„Nein, Sie vielleicht?“ war Josephines gehässige Antwort und schon widmete sie sich wieder ihrem Strickzeug. Die Weißkittel, die Professor Dr. Rehn wortlos begleitet hatten und denen dieser auch keine weitere Erläuterung zu den beiden Patientinnen gegeben hatte, zogen gesenkten Hauptes ab. Auch ihnen war diese Situation sichtlich unangenehm gewesen.
Die beiden Frauen waren wieder alleine.
„Du musst schon Klartext mit den Halbgöttern in Weiß reden, sonst machen die mit einem, was sie wollen und behandeln dich wie ein Versuchskaninchen“, schnaubte Josephine und strickte aufgeregt weiter.
„Aber so kann man doch nicht mit einem Arzt reden“, antwortete Ellen kopfschüttelnd.
„Und warum nicht? Es ist doch auch unmenschlich vom ihm, wenn er mir zum x-ten Mal reindrückt, dass ich keine Angehörigen mehr habe. Fachlich mag er ja sehr kompetent sein, aber den Umgang mit Menschen kann man über ein Studium nicht erwerben. Aber mach dir keine Sorge, der kriegt genug bezahlt, dass er eine solche Kritik von einer Patientin schon mal ertragen kann.“ Ihre Ausdrucksweise klang so gar nicht wie die einer 68-jährigen, betuchten Rentnerin, die einmal eine Führungsposition in einer Firma gehabt hatte, dachte Ellen. Eher wie die eines rebellischen Teenagers.
„Aber er hat doch recht, wenn er sagt, dass er nicht die Geschichte aller Patientinnen auf dieser Station behalten kann“, antwortete Ellen verständnislos.
„Ja, sicher, aber ich bin ja nun wirklich nicht das erste Mal hier und er fragt mich immer wieder dasselbe, als wär’s einfach ein automatischer Ablauf. Ich habe immer das Gefühl, als würde ich mich mit einer Maschine unterhalten. So jemanden kann man doch nicht auf Schwerkranke loslassen. Mit dir hat er doch auch nicht anders gesprochen. ‚Eine OP machen wir nur dann, wenn’s was gebracht hat. Sonst lohnt sich das nicht.‘ Das kann man auch anders sagen, finde ich.“
„Pfff“, machte Ellen. „Das sagt die Meisterin des Feingefühls.“
„Ach komm, das ist doch was anderes. Ich rede so wie ich rede aus Überzeugung. Es kommt zwar plump rüber, das tut mir leid. Ich bin wohl über die Jahre etwas hart geworden. Aber als Mediziner sollte man auch darin geschult sein, seine Patienten nicht wie eine Fallstudie oder eine Nummer auf einem Blatt Papier, sondern wie Menschen zu behandeln.“
„Vielleicht ist er über die Jahre auch hart geworden“, gab Ellen zu bedenken. „Für ihn ist es bestimmt auch nicht leicht, Menschen Tag für Tag sagen zu müssen, dass sie Krebs haben und zu sehen, dass auch der Medizin Grenzen gesetzt sind.“
Josephine war erstaunt über Ellens Verständnis für die Art, wie Professor Dr. Rehn mit seinen Patientinnen sprach.
„Und warum liegt er mir immer in den Ohren mit dem Pflegedienst? Ich kann doch noch alles wunderbar selber. Sollte man seine Patienten nicht eher darin unterstützen alles, solange es geht, selbst zu erledigen?“
„Das wird eben sein Procedere sein. Zuerst sagt er dir, wie die Dinge stehen, dann, wie du dir Unterstützung holen kannst. Ich sehe daran nichts Schlimmes.“
„Aber ich brauche noch niemanden, der mir den Hintern putzt und mich füttert. Bis dahin ist hoffentlich noch ein bisschen Zeit.“
„So meint er das doch sicherlich gar nicht. Vielleicht meinte er einfach nur, dass man sich darum rechtzeitig kümmern muss“, wandte Ellen ein.
„Ach, kommt Zeit kommt Rat“, Josephine klang etwas genervt. „Bisher hab ich weder so starke Schmerzen, wie die mir das schon seit Monaten prophezeien, noch bin ich bettlägerig. Die können mich zu nichts zwingen. Das ist ja immerhin meine Entscheidung. Und außerdem: vielleicht beiße ich ja schon ins Gras, bevor es so weit kommt.“
Ellen schüttelte den Kopf. Josephines flapsige Art über ihre Krankheit und das Sterben zu reden, fand sie noch immer sehr befremdlich.
„Ich glaube, ich würde mir so etwas schon von einem Arzt sagen lassen. Er macht das jeden Tag und weiß, von was er redet. Ich muss mir ja jetzt auch darüber Gedanken machen, wie ich das machen soll, wenn ich Hilfe brauche. Ich habe ja niemanden, der sich um mich kümmert, wenn es mir während der Chemo schlecht geht.“
„Warte erst mal ab, vielleicht trifft es dich nicht so schlimm. Manche stecken eine Chemo besser weg als andere. Mir ging’s leider sehr schlecht, deshalb wollte ich dir davon auch abraten.“ Im gleichen Atemzug fuhr Josephine fort: „Du wolltest also das Zimmer wechseln, ja?“ Ellen spürte wie sie rot wurde. Sie wusste nicht, was sie darauf antworten sollte und schaute beschämt zur Seite.
„Weißt du, dass du die erste bist, die geblieben ist“, fragte Josephine. „Vor mir hat bisher jede Reißaus genommen. Meistens wegen meiner Udo-Jürgens-Marotte.“ Ellen schaute erstaunt zu ihr rüber und Josephine zwinkerte ihr schelmisch zu.
„Die Udo-Jürgens-Marotte kannte ich ja noch nicht, als ich gestern das Zimmer betrat und bereits nach wenigen Minuten wieder gehen wollte. Nein, es war wegen deiner komischen Ratschläge und einfach, wie du übers Sterben und die Krankheit geredet hast.“
„Ach so, ja, das war auch schon oft der Grund gewesen, warum ich bereits nach kurzer Zeit alleine im Zimmer lag“, antwortete Josephine. „Sachlich übers Sterben zu reden ist tabu in unserer Gesellschaft. Dabei wird es früher oder später jeden von uns treffen. Da kommt keiner drum rum.“ Ellen, die fand, dass es einen Unterschied zwischen sachlich und geschmacklos gab und es noch immer unangenehm fand, über das Sterben zu sprechen, fragte, um das Thema zu wechseln: „Was hat es denn mit Udo Jürgens eigentlich auf sich?“
„Ach, das erzähl ich dir ein anderes Mal“, antwortete Josephine und nahm ihr Strickzeug wieder auf.
„Und warum musst du bloß immerzu sticken?“ bohrte Ellen weiter. „Soll das ein Pullover werden? Für wen soll der denn sein?“ Josephine hielt kurz inne und starrte gedankenverloren vor sich hin. Dann strickte sie weiter, ohne Ellens Frage zu beantworten. „Und noch was“, fragte Ellen, die merkte, dass Josephine auf diese Frage keine Antwort geben wollte. „Wenn es dir finanziell so gut geht, wie du sagst, warum bist du dann eigentlich nicht Privatpatientin? Dann musst du dir auch keine Sorgen um Mitpatienten machen und du bekommst immer ein Einzelzimmer.“
„Ich mach mir doch gar keine Sorgen um Mitpatienten!“ antwortete Josephine. „Die wollen ja nie bei mir bleiben, nicht umgekehrt. Aber Spaß beiseite“, fuhr sie nun ernst fort. „Ich bin keine Privatpatientin, weil ich nichts von Sonderbehandlungen halte. Klar, ich hätte ein Einzelzimmer, das ich meistens sowieso habe.“ Sie kicherte. „Ich hätte besseres Essen und schöne Bettwäsche und hätte eine Garantie, vom Chefarzt operiert zu werden. Na und? Du hast ja gesehen, was das für ein gefühlskalter Klotz ist. Mein Mann wurde als Privatpatient behandelt und: Er ist doch gestorben. Daran konnte kein Arzt der Welt was ändern. Alles Augenwischerei. Wenn du gehen musst, musst du gehen.“
Am Nachmittag, Josephine war noch immer im OP, brachte eine Krankenschwester die Informationen über Ellens anstehende Chemotherapie in Form einer Broschüre vorbei. Sie nahm sich lange Zeit für ein persönliches Gespräch. Kurz darauf fand sich Ellen im Sprechzimmer des Onkologen wieder. Die Einverständniserklärung war unterschrieben, die ersten Schritte wurden besprochen und das alles innerhalb eines Nachmittages. Noch nie in ihrem Leben war Ellen so spontan gewesen. Warum ausgerechnet jetzt?