Читать книгу Die Krebs-WG - Sara M. Hudson - Страница 7

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„Josephine, bist du schon wach?“ Ellen beugte sich über das Bett ihrer Zimmergenossin. Sie war gerade von der Aufwachstation eingetroffen. Noch etwas benommen antwortete Josephine: „Verdammt, ich lebe ja immer noch. Und das nach so viel Portwein gestern.“ Ellen lächelte. Selbst halb sediert gab sie bissige Bemerkungen von sich. „Na, die Narkose scheint dir auch nicht zu viele Hirnzellen genommen zu haben, wenn du noch weißt, dass wir gestern Abend Port getrunken haben“, scherzte Ellen und legte ihre Hand auf die von Josephine. Diese kämpfte gegen die Benommenheit. Die Narkose war noch nicht vollständig abgeklungen. „Ich trink immer Port vor einer OP. Das hilft mir, mich zu entspannen und schmeckt besser als jegliches Beruhigungsmittel, das sie dir hier geben“, murmelte Josephine. So fit wie sonst fühlte sie sich nach dieser OP nicht. Normalerweise steckte sie OPs trotz ihres Alters ganz locker weg, zum Erstaunen der Ärzte.

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass du vor einer Operation nervös bist. Übrigens, ich darf nach Hause. Hab heute Nachmitttag den Entlassungsbrief bekommen. Die Ergebnisse der Blutuntersuchung sind recht schnell zurückgekommen und ich muss wohl doch nicht noch einen Tag länger hier bleiben. Die meinten, ich bin ja jetzt öfter hier, das muss nicht alles stationär laufen.“ Ellen machte eine Pause, weil sie nicht sicher war, ob Josephine wieder eingeschlafen war. Als diese die Augen wieder öffnete, fuhr Ellen fort: „Meine Chemo beginnt nächste Woche Dienstag. Ich muss einmal die Woche herkommen und das zwei Wochen in Folge, dann hab ich vierzehn Tage Pause.“ „Die wirst du brauchen“, sagte Josephine mit etwas kräftigerer Stimme. „Kann gar nicht fassen, dass du das machst. Aber ich glaube niemand, der das nicht schon selber durchgemacht hat, kann nachvollziehen, was da auf einen zukommt.“ Ellen hatte keine Lust, noch einmal über dieses Thema zu sprechen. Sie hatte sich entschieden und wollte sich davon auch nicht mehr abbringen lassen. „Wunderst du dich gar nicht, warum ich noch da bin, obwohl ich schon vor Stunden entlassen worden bin?“ „Woher soll ich denn wissen, wann das war? Ich war doch im OP“, antwortete Josephine knapp. Natürlich, daran hatte Ellen gar nicht gedacht. Woher sollte Josephine wissen, wie lange das schon her war. „Ich habe extra auf dich gewartet. Meine Sachen sind schon gepackt und du hast wohl auch eine neue Mitbewohnerin. Das Bett in der Mitte ist aufgedeckt und es sieht aus, als sei der Schrank auch schon eingeräumt.“ Ellen sah zu ihrem ehemaligen Bett hinüber. Vor nicht einmal 24 Stunden hatte sie da noch gelegen, voller Angst und Verzweiflung, hatte geweint und nicht gewusst, wie sie mit ihrer Diagnose fertigwerden sollte. Bereits nach so kurzer Zeit hatte diese Frau, die jetzt in ihrem Bett so hilflos aussah und die sie noch kaum kannte, etwas in ihr verändert. Konnte das wirklich sein? Ellen hatte sich noch nie so schnell jemandem anvertraut wie dieser „alten Dame“. Sie konnte nicht von sich sagen, dass sie viele enge Freunde hatte. Ihr Beruf hatte ihr dazu wenig Zeit gelassen. Da die meisten ihrer alten Freunde schon lange Familie hatten und somit ein ganz anderes Leben führten als sie selbst, waren Freundschaften irgendwie auf der Strecke geblieben. Vor einem Jahr hatte sie sich von ihrem langjährigen Partner, Ralf, getrennt und seitdem keine neue Beziehung mehr angefangen. Eigentlich ein schlechter Ausgangspunkt für eine unheilbare Krankheit, dachte Ellen. An wen sollte sie sich wenden, wenn es ihr schlecht ging? Das alles fühlte sich aber gar nicht mehr so schlimm an, während sie da am Bett von Josephine Althoff saß. Irgendwie gab diese Frau ihr eine Art Sicherheit. War es, weil sie das gleiche Schicksal teilten? Angst hatte Ellen zwar trotzdem vor dem, was kommen würde. Alles war irgendwie erträglicher, wenn sie mit Josephine darüber sprach.

Jäh wurde sie aus ihren Gedanken gerissen: „Ellen, setzt du mir bitte noch meine Kopfhörer auf, bevor du gehst?“ Ellen verdrehte die Augen. „Udo Jürgens?“

„Derselbe“, antwortete Josephine mit einem müden Lächeln.

„Ich sehe schon, deine neue Zimmergenossin muss wohl auch erst die Feuertaufe bestehen, was?“ Ellen beugte sich über den Nachtschrank und holte den CD-Player aus der Schublade. Dabei nahm sie wahr, dass Josephines Strickzeug in der Schublade lag, aber nicht als fast fertiger Pullover wie gestern, sondern fein säuberlich aufgetrennt und als Knäuel aufgewickelt neben den Stricknadeln. Daneben lag ein Bild, auf dem ein Mann in kariertem Hemd und Strickjacke zu sehen war. Die Strickjacke war im gleichen Farbton, wie die Wolle, die in der Schublade lag. Neben dem Mann stand eine schick gekleidete Frau. Das war eindeutig Josephine, nur etwas jünger. Es musste also ein Bild von ihr und ihrem verstorbenen Mann sein, schlussfolgerte Ellen.

Aber warum hatte Josephine all das, was sie so fleißig gestrickt hatte wieder aufgetrennt?

„Kannst du ihn nicht finden?“ unterbrach Josephine Ellens Gedanken.

„Doch, doch. Da ist er schon“, antwortete Ellen und setzte ihr den Kopfhörer auf. „Bevor du zu singen beginnst, möchte ich mich bedanken“, Ellen stiegen schon wieder die Tränen in die Augen.

„Bedanken?“ wiederholte Josephine erstaunt. „Für was denn? Der Port war nicht so teuer. Das geht schon in Ordnung. Kannst mir aber gerne eine neue Flasche vorbeibringen. Ich komme ja hier die nächsten Tage nicht weg.“

„Ach was, Port“, winkte Ellen ab. „Dafür, dass du mir Mut in dieser ausweglosen Situation gibst, auch wenn ich deine Einstellung zu unserer Krankheit für verrückt und sehr gewöhnungsbedürftig halte.“

„Ach dafür. Na, wenn’s dir geholfen hat, Kindchen bin ich froh. Kannst mich gerne mal besuchen kommen, wenn ich wieder zu Hause bin. Auf dem Nachttisch liegt meine Visitenkarte. Hab ich schon mal raus gelegt, in der Hoffnung, dass du sie siehst und mitnimmst, falls ich nicht da gewesen wäre, wenn du gehst.“ Ellen drückte Josephines Hand ganz fest und nahm die Karte an sich. Sie wollte sie auf jeden Fall besuchen, vielleicht sogar noch, solange sie hier auf Station lag. Noch bevor sie das Zimmer verlassen hatte, begann Josephine „Ich war noch niemals in New York…“ zu schmettern, allerdings nicht so kräftig, wie am Abend zuvor. Gestern Abend hatte Ellen der etwas schräge Gesang der alten Frau noch zur Weißglut gebracht, heute kam es ihr bereits merkwürdig vertraut vor.

Auf dem langen Weg Richtung Ausgang, kam Ellen ein Paar mittleren Alters entgegengelaufen. In dem kurzen Augenblick, in dem sie an einander vorbeiliefen, nahm Ellen wahr, dass die Frau, die sich auf ihren Mann stützte, weinte. Sie konnte nicht viel älter sein als sie selbst, hatte ebenfalls dunkles Haar und trug einen hellen Bademantel. Wie lange sie selber wohl noch ihre Haare haben würde? fragte sich Ellen. Der Arzt hatte ihr schon prophezeit, dass Haarverlust eine der Nebenwirkungen sein würde. Ob diese Frau wohl auch gerade eine schlimme Diagnose erhalten hatte? Ellen drehte sich nach den beiden um und sah, dass sie ins Zimmer 211 verschwanden. „Na, egal was ist“, murmelte Ellen leise vor sich hin, „da sind sie ja in bester Gesellschaft.“ Schmunzelnd verließ sie das Krankenhaus und begab sich zum Taxistand.

„In die Grünewaldstraße“, gab sie dem Taxifahrer Anweisung.

„Na, Sie sind bestimmt auch froh, aus dem Bunker da rauszukommen“, meinte dieser und deutete auf das Krankenhaus, von dem sie sich nur langsam entfernten, da der Verkehr sehr dicht war.

„Was meinen Sie?“, Ellen hatte nicht richtig hingehört.

„Na, aus dem Krankenhaus. Keiner ist doch gerne im Krankenhaus. Aber Ihnen scheint’s ja gutgetan zu haben. Sie sehen kerngesund aus.“ Ellen spürte einen Stich in der Magengegend. Kerngesund? Für einen kurzen Moment hatte sie vergessen, wie es um sie stand. Doch dieser unwissende Mann, der es bestimmt nicht böse meinte, hatte dafür gesorgt, dass alles wieder präsent war: Die Diagnose von gestern, ihre Hilflosigkeit, die Verzweiflung… Sie antwortete nicht und sah aus dem Fenster. Es war ein schöner Februartag, die Sonne schien und der Himmel zeigte sich in strahlendem Blau. Vielleicht sollte es ihr letzter Frühling sein, dachte sie und schon wieder wollten ihr die Tränen in die Augen steigen. „Ach, Kindchen. Stell dich nicht so an. Wer weiß schon, wann unser letzter Frühling ist?“ hörte sie Josephine in ihrer Vorstellung sagen. Josephine. Was für eine verrückte, alte Frau und sie begann, beim Gedanken an sie zu lächeln.

Als das Taxi in ihre Straße bog, fühlte sie, dass sie nervös wurde. Nichts würde mehr so sein, wie vorher. Sie würde morgen nicht, wie üblich, zur Arbeit gehen. In ihrer Wohnung war sie alleine. Das war sie ja immer, seit sie sich von Ralf getrennt hatte, aber bisher war sie viel zu beschäftigt gewesen, um darüber nachzudenken.

Sie bezahlte den Taxifahrer und gab ihm trotz seines Kommentars von vorhin ein gutes Trinkgeld. Er konnte ja nicht wissen, wie es um sie stand. In ihrer Wohnung angekommen, nahm sie den Hörer und wählte die Nummer ihrer Eltern. Sie musste ihnen Bescheid geben, solange es ihr gut ging. Wer wusste schon, wie es ihr nach der ersten Chemo nächste Woche gehen würde.

Doch noch bevor das Freizeichen erklang, legte sie wieder auf.


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