Читать книгу Trust me, Vögelchen! - Sara-Maria Lukas - Страница 7
Kapitel 4
ОглавлениеAnnabell schluckt. Ihr ist gleichzeitig heiß und kalt. Ihre Gedanken rasen. Der Portier hat recht, wenn im Golfclub was los ist, sind immer alle Zimmer in der Stadt belegt. Aber sie kann den Fotografen doch unmöglich einfach sich selbst überlassen! Verflucht, was soll sie tun? Im Büro anrufen? Nach einem Blick auf die Uhr verwirft sie die Idee jedoch, die haben alle längst Feierabend.
Es gibt nur eine praktikable Lösung. Sie versucht, nicht darauf zu achten, dass ihr Brustkorb sich immer enger anfühlt, und wendet sich ihm zu. „Wenn das in Ordnung für dich ist, kannst du bei mir übernachten. Ich habe allerdings kein Gästezimmer, du müsstest in meinem Wohnzimmer …“
Ian winkt ab. „Eine Couch reicht völlig. Das ist sehr nett von dir.“
Sie starrt ihn an. Irgendwo tief in ihrem Hinterkopf hat sie die irrsinnige Hoffnung gehabt, er könnte so höflich sein, ihr Angebot abzulehnen, und würde sie wegschicken. Wie dumm von ihr, warum sollte er das tun? Niemand schläft freiwillig auf der Straße. Nun hat sie ihn am Hals … in ihrer Wohnung … auf ihrer Couch … in ihrem Bad. In ihrer Küche. Sie schluckt.
„Okay, dann komm.“ Wenn doch bloß ihr Körper nicht so irre auf ihn reagieren würde. Noch nie hat sie die Anwesenheit eines Mannes dermaßen erregt! Das verunsichert sie doch erst recht! Sie weiß nicht, wie sie damit umgehen soll. Das kommt viel zu plötzlich. Niemals hätte sie damit gerechnet, dass ein Mann noch mal so auf sie wirken würde.
Ihr Puls beginnt zu rasen. Mist. Sie dreht sich abrupt von ihm weg und läuft los. Sie muss sich bewegen und zählen. Wenn sie nicht zählt, wird ihre Lunge kollabieren.
*
Ian kann sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Ob die Belli-Geierin noch Jungfrau ist? Sie macht den Eindruck, als hätte sie Angst, er könnte ihre Einladung falsch verstehen. Auf dem Weg zum Auto läuft sie in einem seltsam abgehackten Rhythmus, als würde sie die Schritte zählen.
Sie brauchen mit dem Auto ungefähr eine halbe Stunde aus der Innenstadt hinaus. Die Zicke sagt kein Wort. Was soll’s. Hauptsache, er kann sich irgendwo ein paar Stunden aufs Ohr legen. Er ist im Flieger extra wach geblieben, um sich schnell an den anderen Tagesrhythmus zu gewöhnen, und nun entsprechend hundemüde.
Sie erreichen eine Straße, in der sich vier schlichte hohe Apartmenthäuser aneinanderreihen. Annabell stellt den Wagen auf einem Parkplatz ab und steigt aus. Ian folgt ihr und nimmt sein Gepäck aus dem Kofferraum.
Sie schließt die Klappe mit einer harten Bewegung und zeigt nach vorn. „Da lang.“
Nebeneinander gehen sie einen sanft gebogenen Fußweg entlang zur Eingangstür des mittleren Gebäudes. Wieder schreitet sie in diesem seltsamen Stil, und als er ihr einen Seitenblick zuwirft, sieht er, dass sich ihre Lippen ganz leicht bewegen, während sie beim Laufen auf den Boden starrt. Kein Zweifel, Geier-Belli zählt Schritte.
Schade, eine nette, fröhliche Gastgeberin wäre ihm lieber gewesen als eine mit psychischen Problemen, bei der er das Gefühl hat, höchst unwillkommen zu sein.
Sie fahren im Fahrstuhl bis in den achten Stock des Hauses. Im Flur sieht Ian sich um. Es gibt fünf Wohnungstüren. Annabell öffnet eine und deutet hinein. „Bitte.“
Ian schlendert an ihr vorbei und steht in einem schmalen Wohnraum mit integrierter Küche und einem Tresen. Wüsste er nicht, dass es eine Wohnung ist, würde er schwören, in der Ausstellung eines Möbelkaufhauses zu stehen. Die Wände sind weiß, die Couch und der Sessel schwarz, ein Esstisch, ein hoher Schrank mit Glastüren und vier Stühle ebenfalls schwarz. Der Küchentresen ist so grau wie der Fußboden, und die Küchenmöbel glänzen in Weiß.
Nicht ein Tupfer einer anderen Farbe. Nur Grau, Schwarz und Weiß. Zwei Türen führen in weitere Räume, vermutlich eine ins Bad und eine ins Schlafzimmer. Gegenüber der Wohnungstür befindet sich eine Fensterfront, durch die man einen herrlichen Blick auf L.A. und das Meer hat und durch deren Glastür man auf einen schmalen Balkon gelangt. Die Sonne ist inzwischen längst untergegangen und überall schimmern die Lichter der Stadt.
Er sieht sich um. Das winzige Apartment ist nicht nur aufgeräumt, es wirkt geradezu steril. Nicht mal die Fernbedienung eines Fernsehers liegt irgendwo herum.
Er hört, wie die Wohnungstür zuklappt, und wendet sich seiner Gastgeberin zu. Annabell steckt den Schlüssel ins Schloss, dreht ihn um, zieht ihn wieder ab und hängt den Schlüsselbund neben der Tür an einen Haken.
Sie kommt auf ihn zu. Ihre Hände halten sich verkrampft an ihrer Handtasche fest.
„Äh …“ Sie zeigt auf die linke Tür. „Da ist das Bad.“
Ian stellt seine Taschen ab und nickt. „Eine Dusche wäre toll.“
„Natürlich … äh … fühl dich wie zu Hause, ich hole dir Handtücher. Ich muss bloß erst …“
Sie geht in den Küchenbereich und wäscht sich hektisch die Hände. Anschließend marschiert sie zur zweiten Tür des Wohnbereiches und öffnet sie. Ian ist zu neugierig, um ihr nicht unauffällig drei Schritte hinterherzuschlendern und einen Blick hineinzuwerfen. Auch dieser Raum ist extrem aufgeräumt und die rosa Bettwäsche auf dem breiten Bett so penibel glatt gestrichen, dass keine einzige Falte zu finden ist. Immerhin ist sie weder schwarz noch grau noch weiß, sondern rosa. Wenigstens hängen über einem Kleiderständer ein paar Klamotten, und an der Wand stehen, wie mit einem Lineal abgemessen, sauber aufgereiht ein Paar schwarze Pumps, ein Paar Sandalen mit dünnen Riemen und ein Paar flache Stiefeletten. Sie scheint also tatsächlich in diesem Apartment zu leben.
Sie öffnet die Tür eines verspiegelten Kleiderschranks und holt zwei Handtücher heraus, weiße Handtücher, die sie ihm entgegenhält. „Brauchst du sonst noch was?“
„Nein. Vielen Dank.“
Er schlendert zurück in den Wohnraum, hockt sich vor seine Reisetasche und öffnet den Reißverschluss. Annabell geht an ihm vorbei zur Wohnungstür und greift nach dem Schlüsselbund. Ups, will sie ihn allein lassen? Nein, sie steckt den Schlüssel ins Türschloss, schließt auf und zu, rüttelt ein Mal an der Klinke, zieht den Schlüssel wieder ab und hängt den Bund zurück an die Wand.
Sie dreht sich um und begegnet seinem Blick. Augenblicklich nehmen ihre Wangen eine rötliche Tönung an. „Ich … ähm … hier muss man sorgfältig abschließen, die Gegend ist nicht die beste.“
Ian nickt nur und beginnt, in seiner Tasche nach einem frischen Slip und einem T-Shirt zu wühlen.
Annabell tritt hinter den Küchentresen und ihr Blick zuckt nervös hin und her. „Möchtest du etwas trinken?“
„Im Moment nicht, danke.“
Sie wäscht sich mit hektischen Bewegungen schon wieder die Hände, und Ian muss sich zusammenreißen, um nicht genervt zu stöhnen.
„Hör mal, du musst dir wegen mir keine Umstände machen. Es ist wirklich sehr nett, dass du mich bei dir übernachten lässt, aber ich möchte dir nicht den Feierabend vermiesen und du musst mich nicht bedienen.“
„Das macht keine Umstände.“ Sie runzelt die Stirn. „Ich beziehe dir eine Bettdecke.“ Bevor er antworten kann, ist sie in ihrem Schlafzimmer verschwunden. Ian seufzt. Das wird wohl kein angenehmer Abend mit nettem Small Talk werden.
Nachdem er das Bad betreten hat, hört er wieder das Klirren des Schlüsselbundes. Die Gute scheint zum dritten Mal ihre Wohnung abzuschließen. So was nennt man Zwangshandlung. Geier-Belli hat scheinbar ein paar Probleme. Schritte zählen, Handlungen wiederholen, Hände waschen, das sterile Zuhause … vielleicht ist sie eine Autistin. Dann muss sie ihn in ihrer Privatsphäre als massiven Störfaktor empfinden.
Das Badezimmer ist genauso aufgeräumt wie der Rest des Apartments. Hier sind die Wandfliesen schwarz und der Boden glänzt grau. Was für ein Gegensatz zum Wohnbereich, denkt Ian ironisch und seufzt. Zum Glück ist es nur für eine Nacht.
Er stellt sich unter die Dusche und genießt es, die nach dem langen Flug klebrige Haut einzuseifen. Als er das Wasser abstellt, hört er, dass sie schon wieder ihre Wohnungstür abschließt, und kann sich ein genervtes Augenverdrehen nicht verkneifen, während er den Rasierapparat anschaltet.
Um ihr nicht noch mehr Unbehagen zu verursachen, zieht er sich vollständig an, bevor er das Bad verlässt.
Sie steht in der Küche und trocknet sich gerade die Hände ab. Meine Güte, die Frau muss ja aufpassen, dass ihr keine Schwimmhäute wachsen. Als sie ihn hört, dreht sie sich ruckartig kurz in seine Richtung. „Ich mache Sandwiches. Ich hoffe, das reicht dir. Was Besseres hat mein Kühlschrank gerade nicht zu bieten.“
Sie scheint sich etwas gefangen zu haben und wirkt ruhiger als vorhin. Ian schlendert zu ihr hinüber. „Natürlich reicht das. Du musst dir wirklich nicht so viel Arbeit machen, ich kann mir auch selbst eine Scheibe Brot belegen. Du hattest doch bestimmt einen anstrengenden Arbeitstag.“
„Das geht schon. Setz dich drüben auf die Couch.“
Er lehnt sich an den Küchentresen. „Trevor Quentin hat den Ruf, ein Choleriker zu sein. Er ist vermutlich nicht gerade ein pflegeleichter Regisseur.“
Sie lacht trocken auf. „Nein, das ist er nicht. Aber in seinem Job ist er ein Genie, und es ist interessant, ihn bei der Arbeit zu beobachten.“
Ian sieht sich um. „Kann ich irgendwas tun? Vielleicht schon Gläser mit rübernehmen?“
„Äh … da drüben im Schrank. Ich habe Weißwein, wenn du magst.“
Ian lächelt sie an. „Wein hört sich gut an.“
Sie nickt, öffnet den Kühlschrank und holt eine Flasche heraus.
„Wenn du mir einen Korkenzieher gibst, mache ich ihn schon auf.“
„Das ist ein Drehverschluss.“ Sie stöhnt leise. „Tut mir leid, es ist billiger Wein, du bist sicher besseren gewohnt.“
Ian lacht. „Nein, kein Problem.“
„In Deutschland bauen sie doch überall Wein an, oder nicht?“
„Es gibt Weinanbaugebiete in West- und Süddeutschland, aber ich wohne in Norddeutschland, da trinkt man Bier mit Schnaps, der wie Wasser aussieht, und isst sauren Hering.“
Sie gluckst. „Saurer Hering?“
Er nickt. „Deswegen sind die norddeutschen Leute so lustig, weil sie so viel sauren Fisch essen.“
Geier-Belli runzelt die Stirn. „Du veräppelst mich.“
Er zwinkert. „Stimmt. Die Norddeutschen haben den Ruf, eher humorlos zu sein. Allerdings gibt es in Hamburg wirklich an jeder Straßenecke sauren Fisch, der nicht mal schlecht schmeckt.“
Sie kichert. „Du hast Humor, du scheinst eine Menge sauren Fisch zu essen.“
Erleichtert registriert er, dass ihre Nervosität nachlässt. Ihre Gesichtszüge entspannen sich und ihre Augen glitzern. Ihre Iriden schimmern wie das Meer bei heftigem Wind, tiefblau mit hellen Sprenkeln, die an schäumende Gischt erinnern. Plötzlich erkennt er ihre Schönheit. Sie hat ein eher ovales Gesicht, fein geschnittene Züge und ein kleines Kinn. Ihre Lippen sind nur leicht geschwungen. Sie ist nicht oberflächlich hübsch, wie so viele Frauen, sondern auf eine sehr persönliche individuelle Art, die ihm als Fotograf besonders auffällt und ihn einnimmt. Interessante Gesichter sind seine berufliche Passion. Plötzlich sieht er sie vor seinem inneren Auge mit über den Kopf erhobenen Armen an einer weißen Hauswand neben einer Straßenlaterne lehnen. Sie ist barfuß, trägt nichts als ein fast durchsichtiges Hemdchen und blickt mit diesen meerblauen Augen fragend zu ihm auf. Das Bild in seinem Kopf ist heiß. In seiner Hose regt sich etwas. Unwillig holt er seinen Verstand zurück in die Realität.
Er schlendert mit der Weinflasche und zwei Gläsern in den Wohnbereich des Apartments. „Stört es dich, wenn ich die Balkontür aufmache?“
„Nein.“
*
Annabell beobachtet, wie er die Flasche und die Gläser auf den Couchtisch stellt und weiterschlendert, um die Tür zu öffnen. Während er im Bad war, hatte sie Zeit, ihre Gedanken zu sammeln, und jetzt reagiert sie nicht mehr ganz so panisch auf die Tatsache, dass sie einen heißen Typen in ihrer Wohnung hat.
Seit er nach dem Duschen und Rasieren, bekleidet mit einer sexy engen Jeans und einem schlichten weißen T-Shirt, aus dem Bad gekommen ist, duftet er unaufdringlich nach einem angenehmen Rasierwasser. Seine Haare sind noch nass und die Schmetterlinge in ihrem Bauch werden nicht ruhiger. Doch allmählich gewöhnt sie sich an den Aufruhr ihrer Hormone und an seine Gesellschaft. Falls es ihr anzusehen ist, dass ihre Libido auf ihn reagiert, interessiert es ihn nicht, denn er ist belanglos freundlich. Natürlich interessiert es ihn nicht. Vermutlich bemerkt er es nicht mal, so genau sieht er sie doch gar nicht an. Niemals würde einer wie er eine langweilige Frau wie sie interessiert betrachten, geschweige denn auf die Idee kommen, mit ihr zu flirten.
Der harmlose Small Talk hilft ihr, sich in seiner Gegenwart einigermaßen zu entspannen, obwohl das Summen im Bauch einfach nicht schwächer werden will.
Seine Stimme ist angenehm und ruhig, was seine auf Selbstsicherheit beruhende Gelassenheit demonstriert. Sein Blick ist sehr direkt. Sie ist überzeugt davon, dass er dominant ist. Natürlich ist er das, kein Zweifel, und wenn sie sich an das Telefongespräch, das er im Auto geführt hat, erinnert, beginnen die Schmetterlinge in ihrem Bauch Saltos zu schlagen. Von ihm übers Knie gelegt zu werden, muss wunderbar … Verflucht. Was sind denn das für bescheuerte Gedanken? Schluss damit! Sofort!
Er ist einfach nur einer dieser Männer, bei denen bestimmt jede Frau weiche Knie bekommt. Warum soll es ihr anders gehen? Zum Glück zeigt er deutlich, dass er an ihr nicht interessiert ist. Das hilft ihr, ruhig zu bleiben. Es ist ja auch nur ein Abend. Ab dem nächsten Tag hat er ein Hotelzimmer und sie sieht ihn nur am Set zwischen all den anderen Leuten.
Sie wäscht sich die Hände, trägt die Teller mit den Sandwiches zur Couch und setzt sich ihm gegenüber in einen Sessel. Er schenkt Wein ein und sie prosten sich zu.
Während sie essen, erzählt Ian, warum es ihn nach Deutschland verschlagen hat. Seine Mutter war Deutsche. Er und seine vier Brüder haben den ehemaligen landwirtschaftlichen Betrieb ihrer Verwandten in der Nähe von Hamburg geerbt.
„Und du?“, fragt er schließlich. „Bist du in L.A. geboren?“
Sie schüttelt den Kopf. „Nein, ich bin erst vor ein paar Jahren hierhergekommen.“
Seine Augen ruhen fragend auf ihr, doch sie wird ihm garantiert nicht erzählen, was der Grund für ihren Umzug war.
Ihre Hände streichen fahrig über die Lehne des Sessels.
„Wie genau sieht dein Arbeitsauftrag aus?“, fragt sie schnell, um von der privaten Gesprächsrichtung abzulenken.
„Ich soll fotografieren, über die Dreharbeiten berichten und Interviews führen, wobei Letzteres nicht so ganz einfach wird. Da könnte ich etwas Unterstützung gebrauchen.“
„Wie meinst du das?“
Er trinkt einen Schluck und lehnt sich mit dem Glas in der Hand zurück. „Ich bin eigentlich kein Journalist, sondern nur Fotograf. Doch die Redaktion von Yellow Light brauchte so plötzlich und dringend jemanden für diese Reise, dass sie keine Zeit hatten, nach einem echten Fotoreporter zu suchen, und ein Freund empfahl ihnen, mich zu fragen. Ich wollte mir einen kostenlosen Besuch in der alten Heimat nicht entgehen lassen und nun“, er zuckt mit den Schultern, „hoffe ich, es hinzukriegen.“
„Was ist denn schwierig für dich?“
„Was für Fragen stellt man bei einem Interview? Was interessiert die Leser eines Filmmagazins? Welche Fragen mögen Filmleute nicht? Kannst du mich dabei ein wenig unterstützen?“
„Ich weiß nicht, wie viel Zeit ich für dich habe. Normalerweise bin ich mit meinem Job schon ziemlich ausgefüllt.“
Ian nickt seufzend. „Und dann halsen sie dir auch noch den Babysitterjob für den blöden Fototypen aus Deutschland auf. Verstehe.“
Annabell spürt Hitze im Gesicht. „Ich meinte das nicht negativ.“
Ian zwinkert. „Das weiß ich. Ich ziehe dich bloß ein bisschen auf.“
Seine Augen blitzen und seine wunderschönen Lippen verziehen sich zu einem Lächeln, das ihr Herz zum Glühen bringt. Oh nein! Flirtet er etwa doch mit ihr?
„Was für einen Sport treibst du?“, fragt er.
„Was?“
Sein Blick wandert demonstrativ über ihren Körper. „Du bist keine der typischen Magerkeitsfanatikerinnen der Filmbranche, sondern hast Muskeln.“
„Äh … ich laufe.“
„Wie schön, ich auch. Drehen wir morgen Abend eine Runde zusammen?“
„Mhm … äh … klar.“ Völlig konfus starrt sie ihn an. Warum will er mit ihr laufen?
Seine Augen werden schmal. Er mustert sie viel zu intensiv, und sie springt auf, greift nach den leeren Tellern und läuft los in den Küchenbereich, reißt die Klappe des Geschirrspülers auf und stellt die Teller hinein.
Als sie die Klappe wieder schließt, mit dem Oberkörper hochkommt und sich umdreht, steht er vor ihr und versperrt den Weg zurück ins Wohnzimmer.
Er runzelt die Stirn. „Ich glaube, wir müssen da mal dringend etwas klarstellen.“
Sie schluckt und starrt ihn an. Er nickt, als würde er ihre Reaktion als Zustimmung werten. „Du hast Angst vor mir, und das gefällt mir nicht.“
Sie schüttelt energisch den Kopf. „Ich habe keine …“
Er hebt die Hand. „Du hast auf dem Flughafen meinen Kettenanhänger angestarrt, du hast im Auto ein Telefongespräch mitgehört, und jetzt starrst du mich an, als ob du erwartest, dass ich jeden Moment über dich herfalle.“
Entschieden zwingt sie sich, ihm in die Augen zu sehen. „Das ist Bullshit. Ich weiß, dass du nicht über mich herfällst, und SM interessiert mich nicht.“ Sie macht Anstalten, sich an ihm vorbeizudrängen, doch er stützt sich mit der einen Hand auf der Ecke des Küchentresens und mit der anderen auf dem Schrank auf, sodass sie nicht vorbeikommt.
„Du kennst also die Triskele als SM-Zeichen?“
Sie verdreht genervt die Augen und verschränkt die Arme vor der Brust. „Das ist heutzutage ja wohl nichts Besonderes mehr.“
„Du stellst dir aber anscheinend etwas Falsches darunter vor.“
Plötzlich ist sie stinksauer. Was bildet der Typ sich ein, sie so in die Enge zu treiben? Annabells Pulsschlag erhöht sich vor lauter Wut so sehr, dass vor ihren Augen Sterne flimmern. Verdammt, er soll aufhören!
„Ich will nur einfach nichts davon hören“, zischt sie.
„Hast du Angst?“
„Quatsch. Ich weiß, dass so was nur einvernehmlich läuft.“
„Ich sehe dir aber an, dass du Angst hast. Warum gibst du es nicht zu? Wenn wir darüber reden, wirst du beruhigt sein.“
„Ich muss nicht beruhigt werden und ich will nicht reden!“
Ian seufzt. „Dann hör mir wenigstens zu. SM findet ausschließlich einvernehmlich und nach ausgiebigen Gesprächen über Vorlieben und No-Gos statt. Es macht mich an, ich würde aber niemals …“
„Das weiß ich! Ich sagte doch, ich weiß, dass es nur einvernehmlich läuft. War’s das?“
Er runzelt die Stirn, und sie leckt sich nervös über die trockenen Lippen, während sie wild mit der Hand herumfuchtelt. „Hör zu, ich bin kein naives Kleinkind. Ich weiß das alles, ich habe keine Angst vor dir und ich will von diesem Thema nichts hören! Es kann doch nicht so schwer sein, das zu kapieren.“
Sie drängt sich gegen seinen Arm. „Und jetzt lass mich durch!“
*
Irritiert tritt Ian zur Seite und sie rennt an ihm vorbei. Ihre Reaktion ist total überzogen und unverständlich.
„Hey, ich wollte doch bloß …“
„Nein. Ein für alle Mal, kein Wort mehr über dieses Thema.“
Er nickt langsam. „Okay. Schon gut. Ich will nur nicht, dass du Angst vor mir hast.“
„Ich habe keine Angst vor dir.“ Sie atmet so tief durch, dass sich ihr Brustkorb deutlich sichtbar hebt und wieder senkt, wodurch sein Blick zwangsläufig auf ihre Brüste gelenkt wird.
„Ich habe wirklich keine Angst vor dir. Es ist alles in Ordnung. Ich bin nur müde und muss schlafen. Fühl dich einfach wie zu Hause.“
Sie dreht sich um, verschwindet in ihrem Schlafzimmer, kommt eine Minute später mit einem Pyjama in der Hand wieder heraus und flüchtet ins Bad.
Seufzend lässt er sich auf die Couch fallen und checkt sein Handy.
Als die Badezimmertür wieder aufgeht, sieht er auf. Annabell trägt nun einen Pyjama und einen Morgenmantel darüber. Sie zögert, als ob sie einen inneren Kampf ausfechten würde, und hastet Sekunden später zur Wohnungstür. Ohne ihn anzusehen, steckt sie den Schlüssel ins Schloss, schließt auf, schließt ab, rüttelt an der Klinke, zieht den Schlüssel wieder heraus und hängt den Bund an den Haken.
„Schlaf gut“, sagt sie leise, als sie an ihm vorbeigeht.
Er nickt. „Du auch. Gute Nacht.“
„Gute Nacht.“