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Kapitel 5

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Am nächsten Tag bekommt Ian nicht viel von Annabell zu sehen. Sie macht ihren Job, und er verbringt den Tag damit, am Set herumzuspazieren, mit Kameraleuten zu plaudern und Leute zu fotografieren.

Ab und zu sieht er sie von weitem zwischen Regietisch, Kameraleuten und Schauspielern hin und her flitzen. Irgendetwas fasziniert ihn an dieser seltsamen Frau. Er kriegt sie nicht aus dem Kopf. Ian ist nicht der Typ Mann, der sich gern mit schwierigen Menschen abgibt, im Gegenteil. Er ist Single, weil er den lockeren und unkomplizierten Umgang mit devoten und masochistischen Frauen mag, die selbstbewusst zu ihren Neigungen stehen und es genießen, sie auszuleben. Doch Geier-Belli hat etwas an sich, das ihn reizt und neugierig macht. Er will unbedingt wissen, warum sie so missgelaunt auf ihn reagiert.

Sie trägt heute eine helle, dünne Hose, flache Sneakers und eine weite, bunte Bluse mit langen Flatterärmeln. Vielleicht kann sie die Sonne nicht gut ab und bedeckt deswegen so viel Haut? Die glatten, blonden Haare hat sie zu einem festen Zopf am Hinterkopf zusammengebunden und ihre meerblauen Augen versteckt sie hinter einer Sonnenbrille. An ihrem linken Ohr hängt ein Bluetooth-Headset, das mit ihrem Handy verbunden ist. Den ganzen Tag hetzt sie zwischen dem Regisseur, den Kameraleuten, den Garderoben der Schauspieler und dem Verpflegungswagen hin und her. Sie trägt ein Klemmbrett mit Notizen und das Handy mit sich herum und benutzt beides abwechselnd. Und immer wieder zieht sie ein kleines Fläschchen mit Desinfektionsspray aus der Hosentasche und sprüht ihre Handflächen damit ein.

Wenn ihre Tage immer so ausgefüllt sind, wird sie ihn bei seinem Job nicht unterstützen können.

Ihre überzogene Reaktion auf das Thema BDSM hat ihn erst recht neugierig gemacht, und er wäre kein echter Carter, wenn er nicht den Drang verspüren würde, das Mysterium Annabell zu ergründen.

Am frühen Nachmittag sitzt er auf einem klapprigen Stuhl auf der Terrasse der prächtigen Villa, die Schauplatz des Films ist, und sieht von Weitem zu, wie eine Szene im parkähnlichen Garten abgedreht wird. Sage de Mystin, die Amerikanerin mit französischen adeligen Vorfahren und momentaner Star in L.A., hat schon zum dritten Mal ihren Text vermurkst. Aber sie meckert über ihren Partner, der sie angeblich durcheinanderbringt, weil er ihr die falschen Stichworte gibt. Eingebildete Ziege. Als Ian sie um ein Interview gebeten hat, hat sie ihn abgekanzelt wie einen Fahrstuhlboy, der die verkehrte Taste gedrückt hat.

Sein Handy vibriert in der Gesäßtasche seiner Jeans und er nimmt den Anruf an. Es ist Tim Spenger von Yellow Light.

„Hi, Ian, ich wollte nur kurz hören, ob bei dir alles klar geht.“

„Wenn man davon absieht, dass ich erst ab heute Abend ein Hotelzimmer habe und meine Ansprechpartnerin hier so im Stress ist, dass ich sie kaum zu Gesicht bekomme, ist alles bestens.“

„Kein Zimmer?“

„Es wurde erst für heute reserviert. Vermutlich habt ihr die Zeitverschiebung vergessen. L.A. ist acht Stunden hintendran im Vergleich zu Hamburg.“

„Oh Fuck, das hat eine Praktikantin verbockt. Die buchen bei uns solche Reisen. Tut mir leid.“

„Hab’s überlebt.“

„Und was ist mit deiner Ansprechpartnerin?“

„Sie ist hier die Produktionsassistentin. Sie soll für mich Interview- und Fototermine mit den Darstellern und dem Regisseur vereinbaren, aber dazu kommt sie nicht, weil sie dafür keine Zeit hat.“

„Okay, ich spreche mit der Produktionsfirma. Die haben uns schließlich eingeladen, weil ihnen die Werbung in Deutschland so wichtig ist. Wenn die Produktionsassistentin keine Zeit hat, müssen sie jemand anders für dich aktivieren.“

Ian trinkt einen Schluck Kaffee aus seinem To-Go-Becher und beobachtet Annabell, wie sie neben einem der Beleuchter steht und mit dem Finger auf dem Klemmbrett hin und her fährt. Sie scheint ihm einen Szenenaufbau zu erklären.

„Sag ihnen, sie sollen einen Ersatz für Annabells Job finden, damit sie für mich Zeit hat.“

Tim lacht. „Annabell heißt sie also. Ist wohl jung und hübsch, die Produktionsassistentin, was?“

„Das auch, aber sie ist vor allem, soweit ich das heute mitbekomme, im ganzen Team sehr beliebt und wird mir leichter Türen öffnen als ein schüchterner Praktikant.“

„Verstehe. Ich rede mit der Produktionsfirma.“

„Mach das. Und, Tim, ein Mietwagen wäre sinnvoll, dann kann ich nebenbei ein paar Streetstorys mitbringen, wenn ich schon in L.A. bin. Das hier ist meine zweite Heimat und ich habe hier noch ganz interessante Kontakte.“

„Super. Der Wagen ist genehmigt. Ich reserviere ihn gleich übers Internet und schicke dir die Bestätigung aufs Handy.“

*

Schon wieder brummt das Smartphone unter ihrem Arm. Genervt legt Annabell das Klemmbrett zur Seite und sieht auf das Display. Es ist das Büro. Seufzend meldet sie sich.

„Ken, was ist denn? Ich habe keine Zeit, Trevor hat nach mir gerufen.“

„Ab morgen übernimmt Emely für den Rest der Woche deinen Job und du kümmerst dich um den deutschen Pressetypen.“

„Waaas? Warum?“

„Es ist wichtig, dass er in unserem Sinne schreibt und gute Storys mit nach Deutschland nimmt.“

„Dann kann Emely sich doch um ihn kümmern.“

„Er will aber dich.“

„Wie bitte?“

„Hat er seinem Boss in Deutschland ausdrücklich gesagt.“

„Wieso?“

„Keine Ahnung.“

„Was soll das? Seit wann kann so ein Typ bestimmen, wer was in unserer Firma macht?“

Ken lacht. „Freu dich doch, ich habe gehört, er ist ein äußerst attraktiver Typ.“

Annabell stöhnt. „Emely und Trevor verstehen sich nicht besonders gut. Das wird jeden Tag Zoff geben, unter dem hier alle leiden werden.“

„Emely lässt sich, im Gegensatz zu dir, bloß seine Launen nicht gefallen. Das ist alles. Er wird damit leben müssen. Und du genieß es, ein paar Tage lang einen ruhigen Job zu haben, Süße, das hast du dir verdient. Außerdem bist du inhaltlich mehr in der Filmstory drin als Emely. Du hast mir ausgiebig über Wartenheimer vorgeschwärmt, wie aussagekräftig sein Konzept zu diesem Film ist, wie gut das Thema in unsere Zeit passt und wie genial Trevor es lebendig werden lässt. Emely macht sich nicht mal die Mühe, unsere Drehbücher vor Produktionsbeginn zu lesen. Du kannst den Deutschen viel besser bei seiner Arbeit unterstützen, weil du dich intensiv mit dem Stoff auseinandergesetzt hast. Ciao, Bella, ich muss auflegen, es klingelt auf der anderen Leitung.“

Ohne eine Antwort abzuwarten, beendet er das Gespräch. Mal wieder. Das ist eine echt beschissene Angewohnheit von dem Blödmann. Mit ihr kann man es ja machen. Grummelnd klemmt sie sich das Handy unter den Arm und läuft zu Trevor. „Was gibt’s?“

„Ich brauche frischen Kaffee, in dem hier ist eine Fliege ertrunken.“

Sie greift nach seinem Becher und unterdrückt einen Fluch. „Kommt sofort.“

Am Imbisswagen ist nichts los. Betty vom Versorgungsteam lungert draußen herum, tut so, als ob sie die Campingtische abwischen müsste, und quatscht mit Ian. Er steht lässig mit dem Ellenbogen auf die Theke gelehnt da, hat einen Fuß angehoben und nach hinten gegen die Wand gestützt. Durch seine enge Jeans und das dünne T-Shirt sind die Konturen seines trainierten Körpers gut wahrnehmbar. In einer Hand hält er seine teure Spiegelreflexkamera. Es ist eine schöne Hand mit langen Fingern, und der kräftige Arm animiert dazu, sich hineinschmiegen zu wollen. Unwillkürlich wünscht sich Annabell, er möge sie an ihrer Kehle packen, sie rückwärts zu einem Bett schieben, in die Rückenlage zwingen und damit seine Macht über sie demonstrieren.

Er bemerkt sie und hebt den Kopf. Ihre Knie werden weich, doch dann sagt Betty irgendwas, kichert und legt ihre Hand locker auf seinen Unterarm. Er wendet sich wieder ihr zu, woraufhin sie aufreizend die Brüste vorstreckt. Dumme Kuh.

Annabell räuspert sich, als sie die beiden erreicht. „Hi, Betty, ich brauche einen frischen Kaffee für Trevor.“

„Kommt sofort, liebste Annabell.“ Sie wendet sich lässig ab und hüpft die drei Stufen in den Wagen hinein.

Ian dreht sich Annabell zu. „Hey, bleibt’s bei unserem Jogging-Date heute Abend?“

Sein Lächeln dringt wie Röntgenstrahlen in ihren Brustkorb ein. Hitze entsteht dort, wo ihr Herz schlägt, und steigt ihr bis ins Gesicht. Oh Mann! Wie macht er das bloß? Sie sieht schnell an ihm vorbei und streicht sich eine Haarsträhne zurück, die sich aus ihrem Zopf gelöst hat.

„Äh … ja … wenn du willst. Deine Sachen sind ja sowieso noch bei mir. Wir müssen sie holen, bevor ich dich ins Hotel bringe.“

„Fein, wir können in dem kleinen Park hinter deinem Häuserblock eine lockere Runde laufen. Dann kannst du duschen, anschließend fahren wir ins Hotel, damit ich einchecken und duschen kann, und zu guter Letzt lade ich dich zum Essen ein.“

„Äh … Essen? Wieso? Ich weiß nicht …“

„Keine Widerrede. Das ist nur ein Dankeschön für den Schlafplatz auf deiner Couch.“

„Aber …“

„Außerdem können wir dann gleich besprechen, wie wir die nächsten Tage gestalten. Dein Büro hat dir doch bestimmt schon gesagt, dass du mich unterstützen sollst, oder?“

„Ja, aber deswegen musst du doch nicht …“

Er hebt die Hand. „Ich gelobe hoch und heilig, kein Wort über SM, Peitschen oder Bondage zu verlieren.“

Aus den Augenwinkeln sieht Annabell, wie Bettys Kopf hochzuckt, als hätte jemand ihr einen Eiswürfel in die Bluse fallen lassen. Ians Gesichtsausdruck mit einem übertrieben breiten, harmlosen Grinsen animiert sie, zu kichern. Sie schüttelt den Kopf. „Du bist ein Spinner.“

„Fein. Das deute ich als ein Ja. Wann hast du Feierabend?“

*

Ian lässt genüsslich seinen Blick über Annabells sportlich schlanken, aber nicht mageren Körper wandern, der bedeutend reizvoller auf ihn wirkt als der von Betty mit den aufgepolsterten Brüsten.

Er hat sie dazu gebracht, zu lächeln. Es ist lächerlich, aber ein klitzekleiner Mix aus Glück und Stolz wärmt sein Herz. Eigentlich ist es für Ian wirklich nichts Besonderes, eine Frau zum Lächeln zu bringen, aber es bei Geier-Belli geschafft zu haben, ist wie ein unerwartetes Geschenk.

Geier-Belli passt wohl doch nicht als Spitzname. Annabell ist eher ein süßes Vögelchen wenn sie ihn wie eben, aus ihren meerblauen Augen, ansieht und damit ein Ziehen in seinem Brustkorb auslöst. Er will mehr davon. Er will, dass sie in seiner Gesellschaft ihre Zwänge und ihre Nervosität vergisst und genauso locker und fröhlich lächelt wie jetzt gerade.

Das ist seltsam und irritierend. Er kennt sie kaum, sie müsste ihm gleichgültig sein, aber das ist sie nicht, und dagegen kann er sich nicht wehren.

Annabell wirft einen Blick auf die Uhr ihres Handys. „Offiziell ist in knapp zwei Stunden Drehschluss, aber man weiß nie, ob Trevor sich daran hält oder ob Wartenheimer mit neuen Ideen alle Pläne zunichtemacht.“

Betty stellt den Becher mit frischem Kaffee auf den Tresen und Annabell greift danach.

Sie dreht sich um und will zurück zum Set laufen, doch sie stößt mit dem Kaffeebecher gegen den Griff, mit dem man die Markise hoch und runter fährt. Der Kaffee spritzt aus dem Becher, und sie macht eine unwillkürliche Abwehrbewegung, damit ihre Kleidung keine Flecken bekommt. Dabei tritt sie mit dem Fuß unglücklich gegen den Eimer mit Wischwasser, den Betty dort stehen gelassen hat. Sie gerät aus dem Gleichgewicht. Da sie unter dem anderen Arm das Klemmbrett samt Smartphone verstaut hat, kann sie die Hand nicht nutzen, um sich abzustützen, und sie stößt einen leisen Schreckenslaut aus. Der Kaffeebecher gleitet ihr aus der Hand. Ian schlingt seinen Arm um ihren Brustkorb, um sie aufzufangen, bevor sie fällt. Dabei rutscht der Stoff ihrer weiten Bluse eine Sekunde lang nach oben, und er erhascht einen Blick auf ihre Taille bis zum Rand des BHs.

Ian erkennt ein aufwendiges Tattoo und eine Narbe.

Hektisch ein leises „Danke“ murmelnd, zieht sie, sobald sie wieder sicher steht und er sie losgelassen hat, den Stoff runter, doch es war genug Zeit, um den Text zu lesen: Devoted Slave of.

Darunter prangt die hässliche Narbe einer Verbrennung, und es ist nicht schwer, zu erraten, dass dort auf brutale Weise ein Name ausgemerzt wurde.

„Fuck“, flucht sie und sieht an sich hinab. Ihre Hose hat ein paar Spritzer Kaffee abbekommen.

Betty wirft ihr einen feuchten Lappen zu und sie reibt an den Flecken herum. Genervt gibt sie auf, legt den Lappen auf den Tresen und desinfiziert sich mit ihrem Spray die Hände.

„Gib mir einen neuen Kaffee, Trevor wird stinkig, wenn er nicht schnell genug seinen Koffeinnachschub bekommt.“

„Kommt sofort.“

Ian räuspert sich. „Überlass mir für eine Minute dein Handy, ich speichere dir meine Nummer ein. Dann kannst du mir Bescheid geben, wenn du Feierabend hast.“

Sie gehorcht, er tippt darauf herum und gibt es ihr dann wieder zurück. Betty hat den frischen Becher Kaffee fertig und reicht ihn über den Tresen.

„Danke“, murmelt Annabell und läuft eilig los.

Nachdenklich sieht Ian ihr nach. Sie muss SM-Erfahrungen haben, und die waren anscheinend nicht angenehm. Deswegen ihre übertriebene Abwehr, als er mit ihr über dieses Thema reden wollte.

„Mach dir keine Hoffnungen“, flötet Betty, als sie wieder herauskommt. „Ich glaube, sie steht nicht auf Männer.“

Ian hebt eine Augenbraue. „Nein?“

„Sie flirtet nie, obwohl beim Film genug Traumtypen rumlaufen, von denen schon oft einige Interesse an ihr gezeigt haben.“

Betty strahlt ihn an und er muss ein genervtes Stöhnen unterdrücken. Er nickt ihr zu. „Schönen Tag noch, ich gehe dann mal wieder arbeiten.“

Während er zurück zum Set schlendert, denkt er über Annabell nach. Wer sich ein Tattoo dieser Art stechen lässt, lebt in der Regel in einer 24/7-SM-Beziehung und glaubt, dass es für immer ist. Hat sie schlimme Erfahrungen mit einem Psychopathen gemacht? Solche Arschlochtypen schleichen sich gern in ihre Kreise, um unter dem Deckmantel von BDSM Frauen auszunutzen. Wurde ihr Vertrauen missbraucht und reagiert sie deshalb so überempfindlich auf das Thema?

Ein Erlebnis, das er als junger Mann gehabt hat, fällt ihm ein. Eine devote Frau, die er aus dem Club kannte, in dem er seine ersten BDSM-Erfahrungen gesammelt hat, hatte sich das Leben genommen. Betroffen ist er damals zur Beerdigung gegangen und anschließend mit einer Freundin der Toten ins Gespräch gekommen. Er erinnert sich an eine ihrer Aussagen, die ihn damals sehr nachdenklich gemacht hat: Das Schlimmste, was dir als devote, masochistische Frau passieren kann, ist eine miese Erfahrung. Du hast Angst, kannst keinem Mann mehr vertrauen, willst nie wieder was mit BDSM zu tun haben, aber die Gier danach bleibt, denn die Veranlagung verschwindet ja nicht. Du sehnst dich danach und kannst es doch nicht mehr haben.

Mit einem geduldigen Partner kann eine Sub miese Erfahrungen überwinden, hat Ian damals unwillig entgegnet, doch sie hat nur geschnaubt. Welcher Dom will denn die Verantwortung für eine Sub übernehmen, die ein seelisches Problem hat? Das ist doch viel zu kompliziert und gefährlich. Sei mal ehrlich zu dir selbst. Gehst du in den Club, um eine Session als erregendes Spiel zu erleben, oder weil du heiß darauf bist, dich fürsorglich um eine psychisch gestörte Frau zu kümmern? Sie hat ironisch gelacht und hinzugefügt: Dann wärst du doch wohl eher Krankenpfleger geworden, oder?

Seine Aufmerksamkeit kehrt in die Gegenwart zurück. Plötzlich regt sich tief in seiner Brust ein dumpfer Schmerz. Der Gedanke, dass Annabell vielleicht aufgrund mieser Erfahrungen Angst vor ihm hat, seit sie weiß, dass er auf BDSM steht, ihn aber aus Höflichkeit trotzdem mit in ihre Wohnung genommen hat, schmeckt bitter. Verdrängt sie nach schlimmen Erlebnissen ihre Neigungen? Ob ihre Zwangshandlungen damit zusammenhängen?

Er weiß, dass es ihn nichts angeht. Er weiß, dass er sich nur für ein paar Tage in L.A. aufhält. Er weiß, dass er sich raushalten sollte, aber das ganze Wissen nützt ihm nichts, denn sein Gefühl ist anderer Meinung. Er wird die schöne Annabell dazu bringen, ihm zu erzählen, was ihr passiert ist.

*

Es ist ein komisches Gefühl, als Annabell ihr Handy zückt und Ians Namen antippt. Es fühlt sich vertraut an, obwohl sie sich doch gar nicht wirklich kennen.

Er hat sie am Nachmittag beim Imbisswagen aufgefangen, als sie ins Stolpern gekommen ist. Ohne zu zögern, ohne die geringste Unsicherheit hat er sie gepackt und zuverlässig gehalten. Routiniert, als würde er öfter Frauen halten, die nach einer anstrengenden Session … Verflucht, was für blöde Gedanken.

Hoffentlich kriegt sie ihre Hormone in den Griff, wenn sie jetzt tagelang mit ihm zusammenarbeiten muss. Sie trägt noch das Headset mit Mikro zum Telefonieren, das sie immer bei der Arbeit am Ohr klemmen hat. Als Ian sich mit seiner tiefen Stimme meldet, spürt sie das Vibrieren bis in den Bauch. „Äh … ich bin’s, äh … Annabell. Ich bin jetzt fertig.“

„Gut. Treffen wir uns bei deinem Auto?“

„Okay.“

Sie läuft los. Als sie den Parkplatz erreicht, steht Ian bereits an ihr Auto gelehnt da und tippt auf seinem Smartphone herum.

Sie steigen ein und Annabell startet den Motor. Obwohl es schon Abend ist und die Sonne nicht mehr brennt, ist der Innenraum des Autos noch aufgeheizt.

Ian dreht den Knopf der Klimaanlage auf eisig. „Sag Bescheid, wenn es dir zu kalt wird.“

Annabell nickt, entledigt sich ihres Headsets und verstaut es im Handschuhfach.

„Ich soll dich von Cat grüßen. Du sollst dir von mir nicht auf der Nase herumtanzen lassen“, erzählt Ian, während sie rückwärts aus der Parklücke rangiert.

„Aha. Wer ist Cat? Deine … äh … Partnerin?“

„Sie heißt richtig Charlotte und ist die Sub meines Bruders Logan.“

Annabell runzelt die Stirn, doch bevor sie etwas sagen kann, hebt er schon die Hand. „Sorry, die Gewohnheit. Seine Freundin, natürlich.“

Er betont das Wort Freundin so übertrieben ironisch, dass Annabell schnaubt. Blödmann. Macht er sich über sie lustig? Weil sie auf das Thema BDSM so überempfindlich reagiert? Vermutlich hält er sie für total verklemmt und altmodisch. „Sie kennt mich doch gar nicht“, murmelt sie unwillig.

„Ich habe ihr erzählt, dass du mir deine Couch zur Verfügung gestellt hast und sehr nett bist.“

Annabell schweigt und er kratzt sich an der Stirn. „Tut mir wirklich leid, alle meine Brüder praktizieren BDSM, und darüber zu reden ist so normal für mich wie für andere Leute Gespräche über das Wetter. Aber ich bemühe mich, es nicht mehr zu tun. Versprochen.“

Annabell schluckt. Er verarscht sie doch. Er macht sich über sie lustig.

Sie will nicht fragen, aber das Bedürfnis, ihm zu demonstrieren, dass sie keine verklemmte Ziege ist, ist stärker. „Haben alle deine Brüder Partnerinnen, die auch ihre Subs sind?“

„Ja, ich bin der Letzte, der sich standhaft weigert, eine feste Beziehung einzugehen.“

„Eine derartige Beziehung ist ja auch eine große Verantwortung.“

*

Ian stutzt. Unauffällig mustert er sie von der Seite. Obwohl sie gerade an einer Ampel anhalten muss, sieht sie konzentriert nach vorn. Ihre Hände umklammern das Lenkrad mal wieder, als hätte sie Angst, es könnte sich selbstständig machen und das Auto unvermittelt gegen eine Mauer steuern.

Er will unbedingt wissen, was in ihr vorgeht. „Verantwortung?“, fragt er gleichmütig. „Verantwortung bürdet man sich doch erst auf, wenn man ein Kind zeugt, oder nicht?“

Ihre Kiefergelenke zucken. „Na ja, bei gleichberechtigten Paaren vielleicht, aber bei eurer Art der Beziehung ist es doch anders.“

„Wie meinst du das?“

Sie schüttelt unwillig den Kopf. „Das geht mich gar nichts an.“

„Sorry, aber das muss ich jetzt unbedingt klarstellen. Leute, die keine Ahnung von BDSM haben, glauben, dass der dominante Partner den devoten unterdrückt, aber das ist falsch und solche Vorurteile nerven mich. Egal ob in einer Session oder in einer festen Beziehung: Es passiert grundsätzlich nur das, was für beide das Richtige ist. Wenn man es genau nimmt, ist der devote Teil sogar der wahre Boss beim BDSM, denn er bestimmt die Grenzen und kann jederzeit mit einem Wort alles beenden.“

Sie hebt die Augenbrauen. „Ach so? Äh … also … ich habe ja keine Ahnung, aber so viel ich weiß, gibt es doch auch Frauen, äh … beziehungsweise devote Partner, die sich vollständig unterordnen wollen, und dann trägt der andere sehr wohl die Verantwortung für ihr Wohlergehen.“

Ian muss innerlich lächeln. Er wird schon noch aus ihr herauskitzeln, was ihr passiert ist. „Wie kommst du darauf?“, fragt er harmlos interessiert.

Sie runzelt die Stirn. „Keine Ahnung, vermutlich habe ich im Internet darüber gelesen. Stimmt es denn nicht?“

„Unterdrückung kenne ich nur aus kranken Verhältnissen. Das ist kein BDSM.“

„Ich spreche nicht von Unterdrückung.“

Er hebt provozierend die Augenbrauen. „Nein? Von was denn?“

Ihre Wangen nehmen eine rötliche Färbung an. „Äh … 24/7 … äh … glaube ich, nennt man das, oder nicht?“

Als Schauspielerin wärst du definitiv ungeeignet, denkt Ian und kann sich ein Lachen kaum verkneifen.

Leider haben sie ihr Ziel schon erreicht. Annabell parkt das Auto und das Gespräch wird zwangsläufig unterbrochen. Aber der Abend ist ja noch lang.

*

Annabell ist heilfroh, als sie vor ihrem Wohnblock parken und das Auto verlassen kann. Was stellt sie auch so dämliche Fragen und manövriert sich damit selbst in Erklärungsnot?

Betont munter wechselt sie das Thema, während sie den Fußweg zu ihrer Haustür entlangschlendern. „Wie sind deine Laufgewohnheiten? Hast du ehrgeizige Ziele?“, fragt sie.

Er winkt ab. „Ich jogge nur zum Spaß. Zu Hause habe ich eine sechs Kilometer lange Route für die tägliche Bewegung. Bei schönem Wetter und wenn ich Zeit dafür habe, laufe ich aber auch gerne längere Strecken.“

„Wie viel sind sechs Kilometer?“

Trust me, Vögelchen!

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