Читать книгу Die Nikolaus-Entführung - Sarah Bosse - Страница 10
Die Fahrt durch den Nebel
ОглавлениеGustav Gans war schlecht gelaunt. Als die beiden Jungen erschienen, war er wie mit Düsenantrieb an den Zaun geflattert, schnatterte wie verrückt und reckte böse den Hals. Dann kamen auch die sechs Gänse angewetzt und verstärkten das Kriegsgeschrei des mächtigen Ganters.
»Häh, spinnt ihr?«, schrie Harry. »Drehen denn jetzt alle durch? Aufhören, sofort aufhören! Ihr kennt uns doch.«
Auch Luc verstand das nicht. Eigentlich waren Gustav Gans und seine Gänsedamen friedliche Tiere und ließen sich sogar streicheln. Irgendetwas musste geschehen sein, dass sie auf einmal so aggressiv waren. »Beruhigt euch, wir tun euch nichts.«
Aber die Gänseschar beruhigte sich nicht. Erst als die Hintertür des Wohnhauses aufflog und eine junge Frau mit Lederweste erschien, ließ das aufgeregte Geschnatter ein wenig nach. Das Hühnervölkchen, mit dem sich die Gänse das Gatter teilten, ließ sich dagegen von dem Lärm nicht beirren und pickte weiter im nassen Gras herum.
Die junge Frau schwenkte einen hölzernen Kochlöffel. Wollte sie damit die Gänse zurücktreiben oder die Besucher bedrohen? »Was habt ihr hier zu suchen?«, rief sie schrill.
Harry winkte ihr zu. »Bleib mal locker, Marion! Ich bin’s, Harry! Und das ist mein Cousin Lucas. Kannst Luc zu ihm sagen.«
»Sorry, hab dich unter deiner Kapuze gar nicht erkannt. Aber wenn ihr zu Opa Charly wollt, dann kommt ihr umsonst. Er ist mit zwei alten Freunden zum Skatturnier nach Rehberg gefahren. Glaube ich jedenfalls.«
Harry zeigte zu dem uralten Ford Capri, der im Carport stand. »Aber sein Wagen ist doch hier!«
Marion breitete die Arme aus. »Wahrscheinlich haben sie ein Taxi genommen. Beim Kartenkloppen geht ja das eine und andere Bierchen über den Tisch. Ich schätze, es wird spät, bis er wiederkommt.«
Luc begriff: Die junge Frau, die Marion hieß, war Opa Charlys Enkelin und bewohnte nun mit ihrem Mann das große Haus.
Luc trat nahe an Harry heran und zischte ihm durch den Lärm ins Ohr: »Komisch! Yannick und Mirja haben behauptet, Opa Charly sei zum Kegeln an der Mosel, aber Marion sagt was von einem Skatturnier in Rehberg. Wer hat recht – oder hat keiner recht?«
»Das frage ich mich auch, Luc! Nur eins ist klar, nämlich, dass Opa Charly nicht da ist. Die Sache wird immer verrückter«, erwiderte Harry.
Marion schüttelte sich. »Mir ist kalt. Ich komme gerade erst von der Arbeit und muss unbedingt was essen. Ciao!« Sie verschwand ins Haus.
Der Gänserich Gustav lief immer noch aufgeregt umher, aber sein Geschnatter ließ nach. Dann watschelte er zum großen Geflügelstall, dessen Tür geöffnet war. Die Gänse folgten ihm brav. Die Jungen wussten, dass Opa Charlys Geflügel das ganze Jahr über nach Belieben rein- und rauskonnte.
Ja, der alte Mann war wirklich verliebt in seine gefiederte Schar. Besonders Gustav Gans war für ihn wie ein Kumpel. Wenn er über den Hühnerhof ging, folgte ihm der Ganter Schritt für Schritt und die sechs Gänse liefen im Gänsemarsch hinterher. Opa Charly konnte im Kreis laufen und Achten drehen, er konnte im Slalom trippeln oder im Zickzack hüpfen: Die Gänseschar folgte exakt all seinen Bewegungen. Und wenn er mit Gustav Gans und den Gänsedamen plapperte, dann klang es wie eine Debatte in einer Fernseh-Talkshow. Man verstand nichts, aber es hörte sich herrlich an.
»Die Gänse vermissen Opa Charly«, sagte Harry. »Was mag da bloß passiert sein, dass die so gereizt sind?«
Luc und Harry schlenderten zum Gartenhaus hinüber, in dem Opa Charly inzwischen wohnte. Es war ein hübsches, robustes Holzhaus. Die Fenstervorhänge waren geschlossen.
Plötzlich blieb Luc stehen und zeigte auf die Steinplatten vor der Haustür. Da waren dreckige Reifenspuren zu sehen, anscheinend von einem Fahrrad. Rätselhaft war nur, dass auf den nassen Platten drei Reifenspuren exakt parallel nebeneinander verliefen.
»Mann, Harry, was hat denn das zu bedeuten? Fahrräder haben ein Vorderrad und ein Hinterrad, aber nicht drei Nebeneinanderräder.«
»Blitzmerker!« Harry grinste und ging in die Hocke. »Hier – siehst du? Die beiden äußeren Spuren sehen anders aus als die mittlere. Was für ein seltsames Fahrzeug ist das denn gewesen?«
Luc hatte sein Smartphone aus der Hosentasche geholt und machte Bilder. »Außen also zwei breite Spuren, exakt dazwischen noch eine schmalere Spur mit anderem Profil«, murmelte er. »Wirklich rätselhaft. Ein normales Fahrrad ist hier jedenfalls nicht entlanggerollt.«
»Vielleicht ein Riesendreirad!«, sagte Harry. »Das würde dazu passen.«
Die Jungen folgten den Spuren, bis sie im Gras nicht mehr zu erkennen waren. Da waren auch ein paar erdige Flecke, vielleicht von Schuhen, aber das war nicht sicher.
»Wie alt können die Spuren sein?«, fragte Harry.
Luc zuckte die Schultern. »Bei der feuchten Luft: drei, vier Stunden?«
Harry staunte. »Aber was schließen wir daraus, Herr Kommissar?«
»Nichts.« Luc blies die Backen auf. »Wir stehen total auf dem Schlauch. Erst müssen wir mal unsere grauen Zellen aktivieren.«
»Und was machen wir solange, bis die aktiviert sind?« Harry rieb sich mit dem Handschuh Nebeltropfen aus dem Gesicht.
»Das tanzende Licht!«, durchzuckte es Luc plötzlich. Und er hatte irgendwie das Gefühl, dass das mehr als eine spontane Idee war. »Lass uns zum Buchenberg rauflaufen. Das Licht von heute Mittag geht mir nicht aus dem Kopf.«
»Bei dem Sauwetter?«
Luc blieb cool. »Seit wann bist du denn so ’n Weichei?«
Das ließ Harry nicht auf sich sitzen. »Okay, okay! Dann suchen wir eben nach deinem Lichtgefunzel. Wahrscheinlich hast du das sowieso bloß geträumt. Aber wir laufen nicht, wir fahren.«
»Mit Fahrrädern?«
»Wir schnappen uns die Pedelecs von meinen Eltern. Kannst du E-Bike fahren?«
Luc trommelte sich mit den Fäusten auf die Brust. »Ich kann alles fahren, was Räder hat.«
»Angeber!« Harry trabte los.
Das Geschnatter und Gefauche der sieben Lieblingsgänse von Opa Charly war verstummt. Der Wind jaulte. Der nebelige Dunst quirlte in milchigen Schlieren.
Eine Viertelstunde später waren die Jungs mit den E-Bikes auf dem Weg. Raus aus Habichtsdorf. Nur wenige Autos waren auf der Landstraße unterwegs. Wasser spritzte, wenn eines davon an ihnen vorbeifuhr. Unbeirrt düsten die beiden Biker die steile Straße hinauf und bogen in einen asphaltierten Feldweg ein. Hier oben war die Luft klarer. Der dunkle Buchenberg ragte bedrohlich vor den beiden Erkundern auf. An hellen Tagen spazierten hier Naturfreunde, jetzt war die Landschaft merkwürdig still.
Sie versteckten die E-Bikes hinter Ginsterbüschen. Es gab zwar einen matschigen Waldweg den Hügel hinauf, aber Harry kannte eine Abkürzung quer durchs Gebüsch. Die Jungen zuckten zusammen, als plötzlich drei Rehe vor ihnen aufsprangen und im Unterholz verschwanden. Dann standen sie vor einem hohen Maschendrahtzaun mit spitzen Stacheln obendrauf.
Ist hier Schluss für Luc und Harry?
Lies morgen weiter!