Читать книгу Die Nikolaus-Entführung - Sarah Bosse - Страница 12
Das Haus vom Nikolaus
ОглавлениеHarry und Luc waren nicht überrascht. Georg Kattner hatte ihnen ja von dem Drahtzaun um das neu bepflanzte Gebiet erzählt. Aber irgendwo in dieser Baumschonung mussten sich die Reste von dem ehemaligen Jagdschlösschen der Barone von Quickburg befinden. Ein Trümmerhaufen wahrscheinlich, vielleicht aber sogar eine Ruine.
»Klettern können wir vergessen«, sagte Harry und zeigte zu den spitzen Stacheln hinauf, »aber vielleicht ist der alte Zaun irgendwo eingerissen.«
»Es muss doch ein Tor geben«, sagte Luc, »’ne Zufahrt für Forstfahrzeuge oder so. Los, machen wir uns auf die Suche! Ich geh nach rechts am Zaun entlang und du nach links. Wer was entdeckt, der …«
Das hörte Harry nicht mehr, er war schon unterwegs.
Auch Luc stapfte los durch Farngestrüpp, über glitschiges Moos und Heidekraut. Dass ihm Holunderzweige ins Gesicht peitschten und Brombeerranken an ihm zerrten, machte ihm nichts aus. Er war jetzt ein Fährtensucher, ein Pfadfinder, ein Scout im wilden Westen. Über ihm rauschten die Baumwipfel. Immer am Zaun entlang!
Und Luc hatte Erfolg. Er erreichte einen freien Platz. Hier endete der Waldweg, der sich von unten durch das Gebüsch schlängelte. Luc sah eine ziemlich verrottete Sitzbank und einen leeren Abfallkorb. Vor allem aber war da ein Gittertor im Zaun mit einem verkratzten Emailleschild:
HALT!
Betreten der Aufforstungsanlage strengstens verboten!
Die Forstverwaltung
Luc zückte sein Smartphone, rief Harry an und verkündete triumphierend: »Komm her, Partner, ich hab das Tor gefunden!« Dann ließ Luc den Blick schweifen. Der kleine Wendekreis wurde vermutlich von der Forstverwaltung genutzt, aber der Waldboden war jetzt grasbewachsen und mit Laub bedeckt. Luc glaubte, da und dort undeutlich Spuren von Rädern oder Schuhabdrücke zu erahnen, doch das bildete er sich vermutlich nur ein. Die armdicken Gitterstäbe des Tores waren angerostet. Eigentlich wirkte alles so, als sei hier seit Langem kein Mensch mehr gewesen. Aber Luc dachte an das tanzende Licht.
Dann kam Harry völlig außer Atem angehetzt. »Na super!« Er rüttelte heftig am Gittertor. »Aber wie sollen wir da rüber?« Er trat gegen die Eisenstäbe des Tores, das sicher an die drei Meter hoch und genau wie der lange Zaun oben mit Stacheldraht abgesichert war. »Die haben’s ja verdammt spannend gemacht! Als ob sie den Goldschatz von Fort Knox sichern müssten. Dabei geht es doch nur um kleine Bäumchen.« Harry war sauer.
Luc schaute sich das Torschloss genauer an. Es war ein altmodisches Schloss mit einem großen Schlüsselloch. Luc leuchtete mit seinem Handy. Und dann machte er eine Entdeckung: Auf dem Rostbelag um das Schlüsselloch waren frische Kratzspuren zu sehen! »Hey, guck dir das an, Harry!«, rief Luc aufgeregt. »Da hat jemand versucht, das Schloss zu knacken.«
Harry machte große Augen. »Ich schätze, mit ’nem Dietrich oder einem gebogenen Nagel oder so!«
»Vielleicht hatte er einen Nachschlüssel oder ein richtiges Einbrecherwerkzeug wie die Diebe.« Luc boxte gegen das Türschloss. Und dann passierte es: Das Gittertor sprang auf.
»Das gibt’s ja nicht!« Harry fasste sich an den Kopf. »Wir sind nicht die Ersten, die da reinwollen. Aber warum …«
Luc unterbrach ihn. »Die Kratzspuren sind neu. Von vorgestern oder gestern – oder heute.« Er flüsterte auf einmal, obwohl es dafür keinen Grund gab. »Gehen wir jetzt weiter?«
»Logo. Darum sind wir ja gekommen. Wenn du da wirklich ein Licht gesehen hast, will ich es genau wissen.«
»Harry, ich habe es gesehen!«
Also drangen die zwei weiter in das unbekannte Gelände vor. Buchen, Eichen, Ahorn, Eschen … Da waren auch Sorten, die ihnen unbekannt waren. Manche Bäume waren schon groß wie Laternenmasten, andere erst hüfthoch und noch kleiner.
Harry ging vor. Quer durch die Baumreihen durch Disteln, scharfkantige Gräser und Brennnesselgestrüpp. Vögel flatterten auf und kreischten. Luc meinte, es seien Dohlen oder Krähen, aber Harry tippte auf Wildtauben. Die Jungen stapften zügig bergan.
»Wenn du das Licht von der Bahnlinie aus gesehen hast, dann müssen wir auf die Westseite«, keuchte Harry. »Tempo! Es ist schon ganz schön dunkel.«
Dicke Wolkenbänke trieben mit dem Wind. Hin und wieder hielten Luc und Harry an und ließen den Blick schweifen. War irgendwo zwischen den Baumstämmen Lampenschein zu entdecken?
Nach wenigen Metern blieben sie plötzlich wie angewurzelt stehen. Die Überraschung hatte ihnen die Sprache verschlagen.
»Boooh, ein Spukschloss!«, wisperte Luc aufgeregt.
»Ei-ei-eine Ruine!« Harry hatte Lucs Arm gepackt. »Wir haben sie gefunden.«
Keine hundert Schritte entfernt, sahen sie am Hang das rätselhafte Haus. Die Umrisse standen scharf wie ein schwarzer Scherenschnitt vor dem tintenblauen Himmel: zackige Mauerreste, ein Stück Wand mit zwei Fensterhöhlen, Trümmer vom eingestürzten Dach und über allem ein kleiner Turm ohne Spitze.
»Ein Spukschloss!«, wiederholte Luc staunend.
»Wie in einem Gespensterfilm.« Harry lachte leise, aber es klang nicht echt. »Warum hab ich nicht mein Fernglas mitgenommen, verdammt!«
Sie hatten sich vorgestellt, dass die Reste vom ehemaligen Jagdschlösschen tatsächlich nur aus Steinhaufen und vielleicht ein paar Mauerbrocken beständen, doch dass sie auf einmal eine Ruine mit einem fast erhaltenen Türmchen und Fensteröffnungen vor sich sahen, machte das Abenteuer perfekt.
Der Wind blies stärker und fetzte welkes Herbstlaub aus den Buchenwipfeln. Zwischen die Regentropfen hatten sich einzelne Schneeflocken gemischt.
»Ganz schön unheimlich«, knurrte Luc. »Ich glaube …«
Was er glaubte, konnte er nicht mehr sagen. Gebannt starrten die Jungen zu der Fensteröffnung hinauf, hinter der es plötzlich hell wurde. Lampenschein wanderte im Gemäuer herum. War das etwa das tanzende Licht? Nein, das sah irgendwie anders aus, fand Luc.
»D-d-da ist jemand drin!« Harry duckte sich unwillkürlich.
Für einen kurzen Augenblick schien es, als ob sich eine Gestalt hinter der Fensteröffnung bewegte. Eine Gestalt mit einer hohen Mütze auf dem Kopf.
»War das ein Bluff?«, fragte Harry heiser. »Oder haben wir das wirklich gesehen?«
Luc gluckste albern: »Das war der Nikolaus.«
Harry zeigte mit zittrigen Fingern auf die Ruine. »Das ist das Haus vom Nikolaus.« Er gab sich einen Ruck. »Ein spannender Fall, genau richtig für Detektive.«
»Du sagst es, Partner. Ein Fall für uns.«
Das wandernde Licht wurde schwächer. Luc und Harry waren sich schnell einig: Wir kommen wieder. Morgen, wenn es heller ist, beginnen wir zu recherchieren. Wir fürchten uns nicht vor einem komischen Nikolaus. Aber jetzt war es bereits zu dunkel. Außerdem brauchten sie einen taktischen Plan.
Ist das ein Fall für Detektive?
Lies morgen weiter!