Читать книгу Die Nikolaus-Entführung - Sarah Bosse - Страница 6
Das tanzende Licht
ОглавлениеWeißer Nebel schwebte über Äckern und Wiesen. Heute wollte es gar nicht so richtig hell werden und in diesem diffusen grauen Licht sahen die bewaldeten Hügel dahinter aus wie dunkle Köpfe schlafender Riesen. Jedenfalls empfand Luc das so. Er presste die Stirn gegen die Fensterscheibe, um besser hinaus in die Landschaft schauen zu können, die an ihm vorbeizog. Der Dieselmotor der Regionalbahn brummte wie eine Hummel.
Nur wenige Fahrgäste saßen im Abteil. Zwei junge Frauen mit Beanies tippten auf ihren Smartphones herum, ein dicklicher Mann mit einer Zeitung vor dem Bauch stieß Schnarchtöne aus, eine alte Dame in schwarzer Kleidung hielt die Einkaufstasche auf ihrem Schoß fest umklammert und lutschte schmatzend ihr Bonbon. Luc freute sich mächtig auf das ganz lange Nikolaus-Wochenende und auf seinen Kumpel Harry, der außerdem auch sein Cousin war. Die Fahrt aus der Stadt bis nach Habichtsdorf dauerte kaum mehr als eine halbe Stunde.
Luc ließ seine Blicke über die Hügelkette schweifen. Das waren die Baumberge. Luc musste an die tollen Wanderungen denken, die er dort schon mit Harry gemacht hatte. Plötzlich stutzte er. In der grauen Nebelsuppe hatte er am letzten Waldgipfel etwas entdeckt: eine Art flackerndes Licht. Was hatte das zu bedeuten? Luc wusste, dass da oben in der einsamen Gegend niemand wohnte. Da gab es keine Bauernhöfe, keinen Gasthof, keine Ferienhäuschen, keinen Sendemast … Luc sah, dass das Licht sich bewegte. Es zuckte, verschwand für Sekunden und blitzte wieder auf. Es war kein grelles Licht, sondern eher der Schein einer Lampe. Das Licht schien zu tanzen.
Das ist geheimnisvoll!, dachte Luc. Und ein bisschen spukig wirkte es auch. Luc spürte ein Kribbeln in den Fingern. Seine Neugier war geweckt. Die Beobachtung musste Harry sofort erfahren. Wartete da vielleicht sogar ein Abenteuer auf die Freunde?
Laut tutete das Warnsignal, als der Zug die Ortsgrenze erreichte. Luc hatte sich seinen Schulrucksack übergeworfen. Harry wartete bereits am Bahnsteig. In seinem roten Parka war er schon von Weitem zu erkennen. Als sich die Tür zischend öffnete, sprang Luc in hohem Bogen nach draußen und hätte dabei fast seinen Cousin umgeworfen.
»Hi, Partner!«, brüllte Harry und reckte fröhlich den Arm hoch. »Schön, dich zu sehen, Alter.«
»Hey! Alles klar bei dir?« Luc stieß einen Freudenschrei aus, als sie sich abklatschten. »Endlich Wochenende. Ich dachte, in Habichtsdorf liegt schon Schnee.«
»Und ich dachte, du würdest Schnee mitbringen.«
»Nee, bloß Schulklamotten«, sagte Luc, »und Zahnbürste. Ich bin ja sofort nach der fünften Stunde los.«
Die Regionalbahn rollte weiter. Die beiden Jungen joggten los. Kalte Nässe schlug ihnen entgegen. Bis zum Haus der Kattners war es nicht weit. Tauben hüpften auf die Straße und flatterten erst auf, wenn ein Auto sie schon fast überfahren hatte.
»Vorhin hab ich was Komisches gesehen!«, rief Luc im Laufen. »Da tanzte so ein spukiges Licht oben am Waldrand.« Er zeigte in die Richtung. »Hast du ’ne Ahnung, was das sein könnte? Mir kam’s auf jeden Fall seltsam vor.«
Harry winkte ab. »Oben am Buchenberg? Da ist doch eigentlich völlig tote Hose. Das Gebiet ist abgesperrt, da kann man gar nicht rein. Eine verfallene Hütte steht da, hab ich mal gehört. Ich war aber noch nie dort.«
»Mensch, Harry, ich seh doch keine Gespenster!«
»Okay, okay! Vielleicht verbrennt da ein Waldarbeiter vertrocknete Äste oder so. Ich hab jetzt erst mal Hunger. Wir haben mit dem Mittagessen extra auf dich gewartet.«
Über dem Schaufenster stand in großen Buchstaben:
KATTNER-OPTIK – BRILLENMODE, AUGENOPTIK, KONTAKTLINSEN
Über dem Laden und der Werkstatt war die Wohnung der Familie Kattner. Tante Kerstin stand schon auf der Treppe und umarmte Luc so inbrünstig, dass ihm beinahe die Luft wegblieb. »Lucas Lodemann, mein Lieblingsneffe! Klasse, dass du uns mal wieder besuchst. Wie geht es dir? Bist du gesund und munter?«
»N-n-nein, Tante Kerstin«, stammelte Luc. »Du erwürgst mich ja!«
Großes Gelächter. Luc ließ seinen Rucksack auf den Boden plumpsen und kroch aus seinem Kapuzenanorak. Er schnupperte. Feiner Duft drang aus der Küche.
Onkel Georg mit bunter Schürze vor dem Bauch erschien in der Diele. »Hopp, hopp, an den Tisch! Es gibt Apfelpfannkuchen und Speckpfannkuchen. Magst du doch, ja?«
»Und ob!«, rief Luc. »Ich kann mindestens ein Dutzend verputzen.«
Der Onkel klopfte ihm auf die Schulter. »Wie kommt’s, dass du heute schon hier bist? Hast du morgen keine Schule?«
»Eben nicht«, grinste Luc. »Praktischerweise ist die Heizungsanlage in der Schule komplett ausgefallen. Große Reparatur morgen. Langes Wochenende. Heute Nachmittag und Freitag, Samstag und Sonntag. Echt cool!«
»Du hast’s gut. Ich muss morgen noch mal in die Schule«, erklärte Harry. »Lasst uns endlich futtern!«
Die Pfannkuchen schmeckten erstklassig. Luc und Harry veranstalteten ein Wettessen. Luc gewann 8:7. Und hinterher servierte Onkel Georg noch süßen Reis mit Pflaumenkompott.
»Uff!«, stöhnte Luc. »Geht in Deckung, wenn ich platze.«
Da fiel ihm wieder ein, was er seinen Onkel hatte fragen wollen. »Sag mal, Georg, du kennst dich doch in den Baumbergen aus: Ich hab vom Zug aus so ein merkwürdiges Licht gesehen, das flackerte oben am Buchenberg. Das tanzte hin und her, das Licht. Total spukig. Hast du ’ne Ahnung, was das sein könnte? Harry meint, da oben am Hügel spielt sich nichts ab. Aber mir kam das komisch vor.«
Onkel Georg lachte. »Harry hat recht. Nach dem Orkan vor dreißig Jahren ist der Wald dort oben wieder aufgeforstet worden. Aber damit Spaziergänger und Pilzsucher die kleinen Pflänzchen nicht niedertrampeln oder Rehe sie auffressen, hat die Forstverwaltung das ganze Gelände eingezäunt.«
»Harry hat was von einer verfallenen Hütte erzählt«, sagte Luc. »Vielleicht hat dort jemand eine Lampe angezündet.«
»Hütte ist das falsche Wort.« Der Onkel schmunzelte. »Was du Hütte nennst, das war einmal das Jagdschlösschen der Barone von Quickburg. Im neunzehnten Jahrhundert. Dahin haben sie vermutlich ihre reichen Geschäftsfreunde zur Treibjagd und zu abendlichen Besäufnissen eingeladen. Aber das Schlösschen ist wohl nur noch eine Ruine. Ich wüsste nicht, warum da jemand hingehen sollte.« Onkel Georg stand auf. »Wir müssen den Laden öffnen. Mittagspause ist vorbei.«
Tante Kerstin rief aus dem Wohnzimmer: »Luc, willst du nicht mal eben deinen Eltern Bescheid geben, dass du gut angekommen bist? Und vergiss nicht, Grüße von uns zu bestellen!«
Luc schickte eine Nachricht nach Hause: Bin heil angekommen. Alle Kattners lassen grüßen. Hier regnet es.
Kerstin und Georg Kattner gingen nach unten in den Laden und in die Werkstatt. Die beiden Jungen räumten den Tisch ab und stellten Geschirr und Bestecke in die Spülmaschine.
»Und was unternehmen wir jetzt?«, fragte Luc.
»Jetzt bringen wir deine Sachen in mein Zimmer. Und dann gehen wir erst mal zu Mirja und Yannick rüber. Die werden sich freuen, dich mal wieder leibhaftig zu sehen.«
Ob Luc immer noch an das tanzende Licht denkt?
Lies morgen weiter!