Читать книгу Einmal im Jahr für immer - Sarah Ricchizzi - Страница 10
Kapitel 5
ОглавлениеRegenbogen im Treppenhaus
Amelie saß in ihrem Wohnzimmer, das Gesicht in ihren Händen vergraben und schwieg. Dann holte sie tief Luft, füllte ihren Lungen mit dem Leben, das sie in dem Moment dringend benötigte. Und Geduld. Unfassbar viel Geduld.
»Ich finde es ja ganz hübsch, so, wie es jetzt aussieht.« Das war der Clown. Gewiss, er befand sich immer noch in ihren eigenen vier Wänden und betrachtete mit vergnügtem Gesicht, wie Amelie mit sich rang die Fassung zu wahren. »Wobei ein bisschen mehr blau hätte es noch hübscher aussehen lassen.«
»Was tun Sie hier?« Obwohl Amelies Puls weiterhin auf einem sehr hohen Niveau galoppierte, versuchte sie dennoch irgendwie ruhig zu bleiben.
»Das hast du doch gerade in dem Brief gelesen, oder nicht? Ich finde, er hat sich sehr klar ausgedrückt. Wo ich auch wieder beim eigentlichen Thema wäre. Ich muss dann mal weitermachen, dafür wurde ich schließlich bezahlt.«
»Halt! Nein, nein! Bitte! Hören Sie auf dieses Haus zu zerstören!«
»Als Zerstören würde ich es nun nicht gerade bezeichnen.« Dieser Fremde mochte diese Situation ungemein komisch finden. Amelie konnte sich nicht einmal ein müdes Lächeln abgewinnen.
»Ich zahle das Doppelte, aber bitte, verschwinden Sie. Diesen Brief hat er verfasst… er war nicht er selbst. Und jetzt gehen Sie bitte.«
»Das kann ich nicht. Ich werde es auch nicht. Weißt du: Mir hat er auch einen Brief mit sehr klaren Instruktionen geschrieben. Er war unmissverständlich.« Amelie sah auf, doch der Clown war bereits verschwunden. Sofort war sie auf den Beinen. Diesen Wahnsinnigen musste sie stoppen, bevor noch weitere Räumlichkeiten darunter litten. Doch zu spät: Viel zu spät.
Sie hörte es, bevor sie in das richtige Zimmer lief: Der Clown stand mit einem weiteren Farbeimer im nächsten Raum, dieses Mal der Küche, und schüttete einfach den gesamten Behälter Farbe mit einem ordentlichen Schwung gegen die Wand. Im Wohnzimmer hatte er die Decke gewählt, von wo aus nun ein stechender Blauton zäh hinab regnete.
»STOP!« Amelie stellte sich vor ihn hin. Vielmehr zwischen ihm und der Wand. Jeder normale Mensch hätte inngehalten und aufgehört. Nicht dieser Mann. Er holte kräftig aus und PLATSCH schüttete den restlichen Schuss Farbe direkt in Amelies Gesicht.
»Puh, ein Glück, dass du Mund und Augen noch einmal rechtzeitig geschlossen hast. Das hätte auch schiefgehen können.« Amelie rührte sich nicht mehr. Das durfte schlichtweg nicht wahr sein. Es war einfach unmöglich.
Ein Clown war in ihr Haus eingedrungen (wie es sich herausstellte mit einem Schlüssel, dem Math ihm übergeben hatte), hatte sie splitterfasernackt in ihrem schlechtesten körperlichen Zustand betrachtet, ihr einen Brief von Math übergeben und angefangen ihr gesamtes Haus von Innen mit Farbe zu bewerfen. Bereits der Teil mit dem Clown, der überhaupt an der Tür angeklopft hatte, war schwer begreiflich, geschweige denn vom Rest der Geschichte. Wie sollte sie das nur jemals irgendeiner Menschenseele erklären? Am besten einfach gar nicht.
Amelie erhob ihre Finger und wischte sich mit einer unschlüssigen Bewegung vorsichtig die Farbe von den Augen. Ganz langsam versuchte sie diese zu öffnen, merkte an der Müßigkeit, dass sie wohl eher Wasser benötigte, bevor sie die Farbe vollständig ins Auge hineintrieb. Wunderbar. Jetzt konnte sie diesen Clown überhaupt nicht mehr bremsen, weil sie zu beschäftigt war, seinen Farbüberfall zu beseitigen, den sie obendrein unklugerweise noch selbst zu verschulden hatte. Es war gewiss nicht ihre genialste Idee gewesen, sich einem Clown, einer weißen Wand und einem vollen Eimer Farbe entgegenzustellen. Vermutlich hätte sie ihn eher von hinten angreifen sollen, das wäre zumindest effektiver gewesen und sie wäre nicht schmutzig.
»Ich finde ja, so eine Dusche täte dir gut. Deine Familie wird wahrscheinlich zu nett sein, um es dir zu sagen, aber du stinkst echt fürchterlich. Und das so richtig mächtig. Eigentlich kannst du sogar von Glück sprechen, dass du jetzt ganz Orange im Gesicht bist.« In dem Punkt konnte Amelie wohl kaum widersprechen. Zumindest, was die Dusche betraf.
Amelie seufzte und gab den Kampf auf. Dann sollte der Clown eben fortführen, was er begonnen hatte. Sie lief an dem tropfenden Wohnzimmer vorbei und ging wieder hinauf in den Raum, in dem alles begonnen hatte: Dem Badezimmer.
Da Amelie sich nicht mehr sonderlich gewaschen hatte, standen zu ihrem Glück noch sämtliche Pflegeprodukte in der Dusche randvoll gefüllt und warteten begierig darauf von ihr endlich wieder genutzt zu werden.
Sie schloss die Tür ab, zog sich erneut aus und stellte sich unter die Dusche. Dabei wartete sie nicht ab, bis das Wasser eine angenehme Temperatur angenommen hatte, sondern machte es einfach direkt an. Eiskalte Tropfen rieselten an ihr herab und gaben ihr für einen kleinen Augenblick das Gefühl wieder etwas mehr zu leben.
Eine Dusche hatte einen sehr eigenartigen Anklang. Diese Reinheit zu durchleben gab dem Körper, ohne, dass sie es sonderlich beeinflussen oder verhindern konnte, einen wohltuenden Nachgeschmack. Erst, als sich ihre Finger auf ihrer Kopfhaut einmassierten, fühlte sie eine gewisse Entspannung und vergas für ein paar Minuten, dass ein künstlerisch eher unbegabter Clown sich unweit von ihr entfernt in einem anderen Raum aufhielt. In dem Moment war sie nur für sich allein.
Während sie das plätschernde Wasser in sich aufsog und die Welt dort draußen für diese Weile kaum mehr für sie existierte, holten sie die Worte von Math ein. Jene letzten Worte, in einem fremden Brief, die er an sie gerichtet hatte. Einem zweiten Abschiedsbrief. Einer, der wesentlich aktueller gewesen war, als der Erste.
Hier an diesem Ort, in der fließend kalten Dusche, dort konnte sie weinen, so viele Tränen, wie es ihre Augen zuließen. Denn diese würde niemand jemals sehen. Hier war sie alleine.
Amelie trat aus der Dusche heraus und empfand die Kälte des Bads als erfrischenden Atemzug, der ihr einen Schwung mitgab, um sie diesen Tag überstehen zu lassen. Ihr Blick verharrte erneut an der Tür, bei ihrem Fußabdruck an den Fliesen, wo wieder ein Stück Papier hervorschaute, dieses Mal allerdings mit der Handschrift des Clowns:
Die Tür war abgeschlossen, außen hängt Kleidung.
Die Alte gehört verbrannt.
Zuerst lauschte sie in die Stille hinein, vernahm den Clown, wie er im unteren Stockwerk herum rumorte und wog sich in Sicherheit die Tür öffnen zu können. Bei dem Kleidungsstück handelte es sich definitiv um ein Kostüm. Da Amelie immerhin nur in ihren eigenen vier Wänden so herumlaufen müsste und nicht vor der Öffentlichkeit, und vor allem nur so lange, bis sie ihre eigene Wäsche gewaschen und getrocknet (oder verbrannt) hatte, solange könnte sie dieses Ding tragen. Andererseits war es ihr in dem Moment auch ziemlich gleich, was sie trug, solange ihre saubere Haut nicht die alte Kleidung tragen musste. Gleichzeitig war auch dieser Teil ihr egal. Es war, als würde sie nur zwischen den ihr gebotenen Optionen wählen, ohne selbst dabei wirklich eine Entscheidung zu fällen.
Das Kostüm stellte sich als Zahnpastatube heraus, welches Amelie nicht weiter in Frage stellte. Es war als Kleid konstruiert, das ihr bis zu den Knöcheln reichte, mit blauen Streifen und einem weniger kreativen Werbeslogan:
Blendende Gesundheit mit blendenden Zähnen!
Den albernen Hut als Öffnung ließ sie im Bad und stakste so hinunter, auf der Suche nach den Missetaten des Clowns. Wie lange sie wohl unter der Dusche gestanden hatte? Was er in der Zeit angerichtet hatte?
»Wissen Sie, Ihr Geschmack lässt zu wünschen übrig. Es wäre nett, wenn ich ein kleines Mitspracherecht hätte.« Mit den Worten kündigte sich Amelie an, während sie die Treppen hinunterging und nach des Clowns Schandtaten Ausschau hielt.
»Weißt du, ich finde, dass du eine äußerst schlechte Gastgeberin bist. Obendrein bin ich dafür, dass wir diesen Höflichkeits-Quatsch lassen. Immerhin habe ich dich bereits nackt gesehen. Ich glaube näher müssen wir uns auch nicht kommen und daher wäre es wohl angebracht ein kleines nettes Du zu verwenden, meinst du nicht auch? Schick siehst du übrigens aus.«
»Von mir aus, ich heiße Amelie. Jetzt verrate mir bitte, was all das hier soll«, seufzte sie und deutete mit einer ausladenden Bewegung auf die Farbeskalation, die sich während ihrer Duschzeit in ihrem Haus manifestiert hatte. Der Clown hatte alles gegeben, das musste sie ihm lassen. Nur eine tatsächliche Farbbombe hätte dieses Chaos noch übertrumpfen können; Farbe tropfte mittlerweile in etlichen Varianten von der Decke jedes Zimmers hinunter und sorgte dafür, dass überall des Clowns Fußabdrücke bunt verteilt lagen und ungefähr seinen Farbweg andeuteten. Es waren so viele Fußabdrücke, dass Amelie den Eindruck bekam, eine ganze Horde seiner Art hätte sich hier ausgetobt. Die Wände wurden ganz willkürlich mal vollständig, mal nur mit Klecksen, meistens allerdings mit einer gewaltigen Ladung Farbe versehen. Irgendwann musste der Clown entdeckt haben, dass er die Farbe auch kombinieren konnte, denn an den frischeren Stellen hatte er die Reste wohl miteinander gleichzeitig an die Wand geworfen. Der Geruch übernahm die Oberhand und hinterließ einen Geschmack auf ihrer Zunge, als wäre dieses Haus gerade renoviert und nicht seit Wochen nicht geputzt worden. Immerhin etwas. So würde es von Außen nicht mehr den Eindruck vermitteln, dass jemand im Inneren vegetierte.
»Ich bringe etwas Farbe in dein Leben!«
»Urkomisch, wirklich.«
»Wie dem auch sei, du lenkst vom eigentlichen Thema ab.«
»Ach, so? Und das wäre?«
»Deine Gastunfreundlichkeit«, wiederholte er und öffnete demonstrativ den leeren Kühlschrank. Irritiert zog sie eine Augenbraue hoch, wie sie es sonst tat, wenn in ihrem Unternehmen eine Kollegin oder Praktikantin eine äußerst dumme Frage stellte.
»So leer war der aber vor ein paar Minuten noch nicht.«
»Du meinst wohl die abgelaufenen und vor sich hin schimmelnden Lebensmittel? Ja, die habe ich alle entsorgt. Puh, das war vielleicht ein Gestank. Na, dann wollen wir mal aufbrechen!«
»Moment, was?«, fragte sie, als er sich bereits auf dem Weg zur Haustür befand.
»Wir fahren, los, komm!«
»Und wohin, bitte?«
»Na, einkaufen, um deine Gastunfreundlichkeit auszugleichen. Dort gehören Lebensmittel in den Kühlschrank, wie soll denn hier ein Mensch leben können?« Na, gar nicht, dachte Amelie, verkniff sich allerdings den Kommentar und sog stattdessen einmal tief Luft ein, um ihrer Geduld den nötigen langen Atemzug zu gönnen.
»Ich brauche keine Lebensmittel.«
»Ja, das habe ich deinen etlichen Pizzakartons angesehen.«
»Dann wäre das geklärt.«
»Nein, das denke ich nicht. Du brauchst außerdem noch unterschiedliche andere Dinge.«
»Und das wäre?«
»Das wirst du dann schon sehen.«
»Pass auf, das hier ist ja alles wirklich sehr nett gemeint, aber genug ist genug. Ich werde das Haus nicht verlassen und schon einmal gar nicht darin.« Mit einer ausschwenkenden Bewegung deutete sie auf ihr Zahnpasta-Kostüm.
»So sehr wirst du schon nicht auffallen, immerhin würdest du mit einem Clown vor die Tür gehen.« Amelie seufzte lautstark.
»Ich will trotzdem nicht.«
»Ich warte dann im Auto.«
»Was? Nein!« Doch der Clown winkte ihr nur hinterher, während er durch die Vordertür verschwand und auf ihre Worte nur noch, »Lass mich nicht zu lange warten, das würde nur unnötig die Umwelt belasten«, erwiderte.
Amelie dachte im ersten Moment darüber nach, einfach die Haustür zu versperren, wenn es sein müsste mit den Regalen und der Couch aus dem Wohnzimmer. Darüber hinaus vielleicht noch alle weiteren möglichen Einbruchsmöglichkeiten zu beseitigen, um endlich wieder zu ihrer Ruhe zu finden. Zu ihrer Stille, der Fülle aus Nichts.
Drei Monate. Seit drei Monaten verkroch sie sich in ihre kleine Höhle, taumelte durch die Albtraumwelt von Maths Tod und verschloss sich gänzlich vor der Außenwelt. Ihr einziger Versuch die Welt dort draußen zu grüßen, hatte im Amtsgericht stattgefunden. Nachdem sie wieder durch die Haustür ihr Wohnzimmer betreten hatte und all die Ereignisse erbarmungslos auf sie niederprasselten, sie zurückbeförderten an genau jenen Tag, dieser Fall war derart schmerzhaft gewesen, dass sie es nicht noch einmal gewagt hatte hinauszugehen. Amelie wunderte sich gar, wenn sie jetzt so die Welt dort draußen durch die Haustür betrachtete, wie sie es damals eigentlich alleine vollbracht hatte das Haus zu verlassen.
Gewiss, es hatte diesen Brief gegeben, geklebt an das Küchenfenster, wie ein Mahnmal. Vermutlich wird es die Erinnerung gewesen sein, der Gedanke, dass diese Geschichte noch ein Teil von Math in ihrem Leben zurückließe, bis auch dieser abgeschlossen und beiseitegelegt war.
Beendet.
Als wäre Math nur ein Kapitel ihres Lebens, unterteilt in Unterkapitel, die ihre gemeinsamen Erlebnisse horteten. Und dieser Gerichtsprozess, ihre Anklage, dieser Teil gehörte noch zu ihm, zu ihrem gemeinsamen Leben. Ja, vermutlich wird es das gewesen sein, weshalb sie es gewagt hatte, tatsächlich vor die Tür getreten war, alleine, hinaus in die Welt.
Allerdings hatte sie das Zurückkehren gelehrt, dass sie diesen Schmerz nicht noch einmal ertragen wollte, es nicht konnte. Nicht noch einmal durch diese Tür treten und nichts vorfinden. Diese Leere. Diese unendliche Schweigsamkeit.
Dann zogen sie ihre Gedanken wieder zu Maths Brief. Seine zweiten letzten Worte an sie. Dabei hatte er sich ziemlich präzise ausgedrückt, was diesen Clown anbelangte. Ihr Mund verzog sich, ein Wimmern durchzog ihre Lippen und sie musste einige Male tief durchatmen, um den Tränen einen Aufschub zu gewähren. Innerlich verfluchte sie sich dafür, dass der Clown gewinnen würde, auch wenn sie wusste, dass es sich nicht um einen Wettbewerb handelte, so fühlte sie sich dennoch wie die Niete, die das Rennen verlor.
»Du solltest dir einen Friseurtermin machen«, war das Erste, was er ihr sagte, als sie in das Auto auf den Beifahrersitz einstieg. Der Clown fuhr einen kleinen, in die Jahre gekommenen Transporter.
»Können wir nicht einfach etwas zu Essen bestellen? Ich zahle, in Ordnung? Ich habe wirklich keine Lust einzukaufen. Heute nicht.«
»Ich nehme an, dass du morgen auch nicht einkaufen willst und den Tag darauf auch nicht?« Amelie verdrehte die Augen, erwiderte allerdings nichts. »Wir fahren jetzt. Wir können Dinge kaufen, die man nicht kochen muss. Das mit dem Essen bestellen klingt berauschend, in dem Punkt würde ich nicht widersprechen.«
»Schön, von mir aus«, seufzte Amelie, denn anscheinend war mit diesem Mann nicht zu verhandeln.
»Ein bisschen mehr von der guten Laune, bitte.«
Amelie atmete einmal tief durch. Sie sollte ihre Manieren nicht vergessen. Doch dann dachte sie: Wozu eigentlich? Warum sollte sie nett zu diesem Fremden sein? Dann wanderten ihre Gedanken zu dem Brief zurück und sie knickte ein.
»Das kann ich nicht versprechen. Ich werde jedoch mit dir mitkommen, in diesem albernen Kostüm. Ich denke das ist freundlich genug.«
»Du hast ein ziemliches Glück, dass wir Frühling haben. Andernfalls könnte es für dich wirklich kalt draußen werden.« Das mit dem Frühling war ihr in den letzten Wochen gänzlich entgangen. Als Math nämlich beerdigt worden war, hatte ein kalter Nieselregen gerade mal den Winter durchzogen. Sie war froh um den tristen, wolkenverhangenen Tag gewesen. Eine prächtig strahlende Sonne wäre ihr zu makaber erschienen. Zu grausam für ihr Gemüt. Obwohl sie sehr gut wusste, dass das Wetter nun wirklich nichts mit dem Tod zu tun hatte, so wäre es ihr taktlos vorgekommen.
Dass der Frühling in der Zwischenzeit eingezogen war, überraschte sie ein wenig, obwohl ihr dies bereits bei ihrem Gerichtstermin aufgefallen war. Damals hatte sie den Tag in einem Wintermantel begonnen, den sie dann getrost im Auto zurückgelassen hatte, als die Schweißperlen sie in den Wahnsinn getrieben hatten. Danach hatte sie sich weiterhin in ihrem Heim verkrochen, wo ihr die Temperaturen gar nicht wirklich aufgefallen waren. Wofür auch? Zu welchem Zweck? Weshalb sollte sie sich nett einkleiden und sich Gedanken über solche Belanglosigkeiten, wie dem richtigen Outfit machen, wenn sie es Math gar nicht mehr präsentieren, vor ihm tanzen und lachen konnte? All das ergab keinen Sinn mehr.
»AUFWACHEN!«, brüllte plötzlich unverwandt der Clown und jagte ihr einen gewaltigen Schrecken ein. »Du solltest damit aufhören.«
»Wie — Was?«, keuchte sie und starrte ihn entgeistert an. Sie standen an einer roten Ampel und er wagte es ihr ein hämisches Grinsen zuzuwerfen.
»Dieses Abdriften in deine Gedankenwelt. Man sieht es dir an. Du solltest dich dabei mal filmen. Sieht echt niederschmetternd aus. Hör auf damit. Das macht einen ja total fertig, dich überhaupt anzusehen.«
»Oh, vielen dank aber auch«, erwiderte sie schnippischer, als sie es beabsichtigt hatte. Dabei fühlte sie sich nur ertappt. Entlarvt in ihrer eigentlich doch sehr offensichtlichen Trauer. Dennoch hatte sie das Gefühl, sich dadurch zu entblößen, als hätte er sie nun nicht nur körperlich, sondern auch seelisch nackt gesehen. Wunderbar und das innerhalb weniger Stunden.
»Ich sage dir nur, was alle anderen denken werden, wenn wir gleich einkaufen gehen. Wo wir auch beim Thema wären, was möchtest du denn heute so essen?«
»Ich dachte wir kaufen nur Kleinigkeiten ein«, knurrte sie fast, wie ein Hund, der sein Revier in Gefahr witterte und überraschte sich mit dieser eigenartigen Haltung selbst. Doch andererseits: Wie sollte sie einen Eindringling, der sie in jeglicher Hinsicht aus ihren Verstecken trieb, auch anders behandeln?
»Natürlich. Ich meine danach. Oder weißt du was, ich bin eigentlich dein Gast. Das suche ich später selbst aus, ich habe da auch schon eine Idee.«
»Wenn du meinst. Es wird aber nicht gekocht.«
»Versprochen.«
Danach schwiegen sie erst, was auch durch sein weiteres Fahrverhalten nicht anders möglich war, ohne dabei einen Unfall zu verursachen: Der Clown raste in einer unnormal morbiden Geschwindigkeit durch die Innenstadt und forderte es geradezu heraus, gegen einen Baum oder eine Straßenlaterne zu preschen, so wie er die Kurven erfasste und das Bremsen fast komplett außer Acht ließ. Mal abgesehen von allen anderen Straßenverkehrsordnungen. Für gewöhnlich trieben Amelie solche Rowdies in den Wahnsinn. Heute scherte sie dies keineswegs, obwohl sie merkte, dass der Clown es eher darauf abgesehen hatte, sie zu provozieren.
Er gewann sich ein freches Grinsen ab, als Amelie erleichtert ausatmete, sobald sie am nächsten Supermarkt zum Stehen kamen.
»Ganz schön wilde Fahrt, was?«, kommentiert er seinen Fahrstil, doch davon ließ sie sich gewiss nicht aus der Reserve locken.
»Kommt darauf an, womit man es vergleicht. Jede Achterbahnfahrt wäre spannender gewesen, falls du mir damit irgendetwas demonstrieren wolltest.« Darauf reagierte er nicht, dafür allerdings ihre Umgebung, was Amelie für einen Moment schwer schlucken ließ: Sie starrten sie an. Sämtliche Passanten glotzten auf den verrückten Clown und der Frau im Zahnpasta-Kostüm. Kinder lachten und zeigten auf sie, Erwachsene schmunzelten und der ein oder andere rief ihnen Sprüche hinterher, welcher Karnevalsveranstaltung sie denn entkommen wären.
Ja, es war kaum abzustreiten: Amelie und der Clown waren die Sensation schlechthin für jeden Alltagsmenschen, der um diese Uhrzeit das Verlangen hatte den Supermarkt aufzusuchen. Amelie beschlich sogar das Gefühl, dass sie zusammen den Supermarkt erst so richtig füllten und wunderte sich, ob sie an der Kasse für den Ansturm wohl Rabatte einheimsen könnten.
»Dann kauf, was du möchtest und wir können endlich wieder zurück.«
»Nicht so schnell, Schätzchen. So ein Einkauf muss bedacht sein, sonst muss man am Ende noch einmal los. Ich denke allerdings, dass wir die langweiligen Lebensmittel getrost ignorieren können. Wer braucht schon Obst und Gemüse.«
Wie nicht anders zu erwarten, steuerte der Clown die Süßigkeitenabteilung an und belud den Einkaufswagen, den Amelie eher widerwillig vor sich herumschubste, fast bis zum Rand mit allen möglichen und erdenkbaren Bonbons und Schabernack. Danach bepackte er den unteren Teil des Wagens mit Limonaden, nicht, dass sie bereits genug Zuckerhaltiges bei sich hätten.
Nachdem schließlich einige Jugendliche Fotos von ihnen geschossen hatten, die Kassiererin einen Kommentar á la Ooh Sie sind ja ein niedliches Pärchen abließ und der Clown für einige Kinder tatsächlich noch Luftballons zu Hunden verformte, durfte Amelie endlich in das Auto steigen und den Heimweg antreten.
Dann begann der Part, der ihr Angst einjagte.
Natürlich bereitete es Amelie eine gewisse Überwindung hinauszugehen, allerdings fühlte sie sich in der Gegenwart des Clowns eher wie eine Gefangene eines sehr merkwürdig verlaufenden Traums, so dass sie ihre Umgebung und die Menschen um sie herum eigentlich nur verschwommen wahrgenommen hatte, unbedeutend abgestempelt. Sie, die Frau in dem Zahnpasta-Kostüm. Als hätte ihr diese Garderobe das Mittel gegeben, sich hinter ihrer Trauer und ihrem eigentlichen Ich und dem Leben dahinter zu verstecken. Wie eine tatsächliche Maske, die ihr Ich verschloss, vor ihr selbst und der Welt.
Dieser Seifenblasenmoment hörte allerdings auf, als sie die bekannte Auffahrt zu ihrem Heim befuhren. Dieses Mal würde sie die Haustür nicht alleine öffnen. Dennoch: Panik überkam sie. Amelie bemerkte, wie ihr Atem schneller anschlug und kalter Schweiß ihre Stirn in Anspruch nahm. In ihr rebellierte es. Nein, schrien ihre Gedanken, ihr Körper, der sich langsam dagegen wehrte, diesen Weg noch einmal zu gehen. Amelie schluckte schwer, fühlte, wie sich ihre Kehle verschloss und ihr Herz mächtig gegen ihre Rippen klopfte, als wäre nun der Moment gekommen, Amelie für immer zu verlassen. Als wäre nun der Zeitpunkt, in dem das Leben zu viel von ihr verlangte.
Plötzlich umfasste etwas ihre Hand und riss sie mit dieser Berührung zurück in den Lastwagen. Amelie saß noch auf dem Beifahrersitz. Geparkt vor ihrer Garage.
»Ich kenne deinen Garten noch nicht, wäre es nicht witzig, wenn wir durch die Terrassentür ins Haus gehen? Wir könnten auch ein Fenster nehmen, ich glaube im Wohnzimmer habe ich es zum Lüften aufgelassen, wegen der Farbe.«
Ein Fenster.
Amelie blinzelte mehrfach und starrte den Clown fassungslos an. So recht verstand sie seine Worte noch nicht, also schwieg sie und hörte auf ihr polterndes Herz. Doch ihr Herz schien besser zu verstehen, was der Clown damit andeutete, denn es zog sich ganz zaghaft wieder zusammen.
»Das Fenster also, eine vortreffliche Wahl«, sagte er, obwohl Amelie rein gar nichts erwidert hatte.
Der Clown schaltete den Motor aus, öffnete seine Fahrertür und begann die Einkaufstaschen um das Haus herum zu tragen. Immer noch saß Amelie im Wagen, beobachtete den Clown, wie er ging und nach ein paar Minuten zurückkehrte. Er schenkte ihr zunächst keine weitere Aufmerksamkeit und entlud in aller Ruhe die Taschen, schaffte jede einzelne hinter das Haus, kam wieder und nahm die nächsten in Angriff. Als er dann die letzten beiden in den Händen hielt, öffnete er ihre Beifahrertür. Derweilen ging Amelies Atem deutlich langsamer, ruhiger, als verstünde ihr Körper, dass es dieses Mal besser sein würde.
Wortlos hielt er ihr eine Einkaufstasche entgegen. Amelie nahm sie an. Schweigend gingen sie in den Garten, dessen Unkrautüberwucherung sie kaum zur Kenntnis nahm. Dann sah sie das Fenster, wie es sperrangelweit in ihr Haus einlud. Der Clown kletterte zuerst hindurch, ging durch das Wohnzimmer, Richtung Küche und rumorte dort herum. Er wandte ihr den Rücken zu, so, als wüsste er ganz genau, dass Amelie nicht beobachtetet werden wollte. Als gäbe er ihr, sehr bewusst, die Privatsphäre diesen Moment zu durchleben, auszutesten, ob sie dafür bereit war und flüchten zu können, wenn dem nicht so wäre.
Ihr Herz schlug sanft gegen ihren Brustkorb, als sie die Einkaufstüte zuerst hinüberlegte und schließlich selbst in ihr Haus einstieg. Durch das Fenster. Durch das Fenster im Wohnzimmer. Nicht durch die Haustür. Amelie wartete auf den Moment, in dem die Panik ruckartig zurückschießen, die Trauer wie ein Donnerwetter auf sie hinabprasseln würde. Doch es passierte nichts.
***
Die Ware verfrachteten sie einfach in die Küche, stopften sie in alle möglichen Schränke. Durch den Mangel an sonstigen Lebensmitteln hatte sie dafür auch reichlich Platz.
»Wunderbar, dann können wir jetzt das Essen bestellen«, verkündete der Clown, zufrieden mit seinem Schaffenswerk in der Küche, in der nicht gekocht werden durfte.
»Sehr gut, ich sterbe vor Hunger.«
»Das trifft sich gut«, sagte er, griff nach einem Prospekt und wählte auffällig auf seinem Telefon herum. »Guten Tag, ja ich würde einmal bitte die gesamte Karte bestellen.«
Amelie fiel die Kinnlade runter, doch sie sagte nichts. Immerhin würden sie dann satt werden. Den Rest konnte sie immer noch im Kühlschrank aufbewahren. Eigentlich keine mal so schlechte Idee. So müsste sie die Tür seltener öffnen. Das musste sie sich merken.
Der Pizzabote staunte nicht schlecht, als er einem Clown und einer Zahnpasta die Lieferung überbrachte. Die Rechnung durfte natürlich Amelie begleichen, doch das sollte ihr nur recht sein. Solange sie danach ihre Ruhe hatte, tat sie einfach das, was dem Clown gerade durch den Kopf schoss. Dazu gehörte auch, dass sie im Wohnzimmer, neben dem schon vorhandenen Fernseher, außerdem noch ihren Laptop und den Fernseher aus dem Schlafzimmer aufbauten und gleichzeitig unterschiedliche Filme laufen ließen.
»So kriegt man viel mehr mit, verstehe gar nicht, warum das nicht jeder macht.«
»Ja, total eigenartig.« Dabei musste Amelie zugeben, dass sie es etwas belustigend empfand. Allerdings war ihr Stolz, so winzig er mittlerweile sein durfte, dennoch ausreichend genug, um sich nicht noch weiter dem Clown gegenüber zu öffnen. Schlimm genug, was sowieso bereits an diesem Tag geschehen war.
Sie verbrachten den Abend zusammen, sahen sich neun Filme in drei Stunden an und aßen so viel, wie sie verdrücken konnten.
Als Amelie langsam in den Schlaf abdriftete, vermeldete sie, dass es Zeit war, ins Bett zu gehen. Sie betrat, trunken vor Überfütterung, ihr Schlafzimmer und fiel geradewegs auf ihr Bett. Für einen Moment war sie dankbar dafür, dass dieser Clown erschienen war. Von diesem ereignisreichen Tag war sie derart erschöpft, dass sie sich wohl zum ersten Mal seit Maths Tod nicht in den Schlaf weinen würde.
Tatsächlich glaubte sie bereits in einen Dämmerschlaf zu gleiten, als sie dieses eigenartige Geräusch vernahm. Sie lauschte etwas abwesend, in der Hoffnung, dass es nur der Clown war, der wohl seinen Weg selbst hinausfand. Dabei kräuselte sie verärgert über sich selbst die Stirn. Sie sollte wohl besser die Haustür abschließen, auch wenn ihr dies als lächerlich erschien. Was sollte ihr jetzt noch im Leben passieren, was sie noch weiter hinunterreißen konnte? Und wer sollte ihr noch mehr rauben, als sie bereits verloren hatte? Den Fernseher und alles, was transportabel war, konnten Einbrecher getrost mitnehmen. Sie würde nichts missen.
Amelie lauschte für eine Weile den eigenartigen Geräuschen aus dem Erdgeschoss. Ja, was genau tat der Clown dort eigentlich? Zuerst ein Rauschen, als würde er etwas... über den Fußboden zerren. Unwillkürlich musste sie an Leichensäcke und Gruselfilme mit Clowns denken. Was hatte er jetzt noch vor? Amelie grunzte unzufrieden, ihre Faulheit überwog für einige Minuten, bis—
KAWUUUUUUUUHMMMMMMMM.
Mit einem Schwung saß sie kerzengerade im Bett.
»CLOWN?!« Zu Schreien stellte sich als zwecklos heraus, dieser tosende Lärm war schlichtweg zu überwältigend. Es brummte und polterte, das Vibrieren dieser Quelle durchzog die Wände des gesamten Hauses.
»Was tust du da?« Eigentlich dachte Amelie, dass sie kreischen würde, doch die Worte entkamen ihr mehr wie ein Krächzen einer Krähe. Sie stand im Wohnzimmer und musste mehrfach hinsehen, um zu realisieren, was sie dort vorfand.
»Was glaubst du denn, wo Clowns schlafen?«
»Schlafen?! GEH BITTE! Der Tag war supertoll, mein Haus gleicht einer einzigen Farbparty, du hast deinen Job wunderbar gemeistert, doch jetzt hört der Spaß auf.«
»Ich glaube eher nicht. Es hat gerade erst angefangen. Und jetzt geh schlafen, wir haben morgen viel vor«, sagte er bestens gelaunt, während er seelenruhig mit einem Kompressor in einer tosenden Lautstärke eine Hüpfburg mitten im Wohnzimmer aufbaute.
Eine Hüpfburg.
Amelie wehrte sich gar nicht dagegen. Fassungslos schüttelte sie den Kopf und hoffte, dass der Clown einfach von selbst die Sachen am nächsten Morgen packen und gehen würde. Immerhin musste er auch arbeiten und sein Geld verdienen. Und irgendwann wurde so einem Menschen auch langweilig, selbst einem Clown.