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Kapitel 3

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Das unendliche Schweigen

In einer Idylle, Nahe London, Ende April 2017

Stille.

Es war merkwürdig, geradezu befremdlich. Sie fühlte sich, als sei dies nicht ihr Leben, sondern das einer gänzlich Anderen. Nicht sie starrte einsam ihre Schlafzimmerwand an. Sondern eine Fremde. Eine Andere eben. Doch ganz bestimmt nicht sie.

Eine Andere, Fremde. Nicht sie.

Schweigsamkeit drückte sich beengend in die Wände, presste die Luft aus ihrem Heim raus und hinterließ Leere. Absolute, unwiderrufliche Leere.

Besuch empfing sie nicht. Mehrfach schon hatten es Freunde und Familie versucht, doch sie öffnete die Tür nicht. Als sie zu Beginn noch beharrlich waren, schrie sie ihnen aus vollem Leib entgegen, dass sie in Ruhe gelassen werden wolle. Dann, als ihr schließlich die Kraft aus dem Körper glitt, wie die Luft eines noch frisch belebten Luftballons, da hängte sie ein Schild an die Tür: Bitte, nie wieder stören. Als sie es dennoch taten, malte sie ein gewaltiges Plakat:

VERSCHWINDET! LASST MICH ALLEIN!

Amelie konnte sich nur zu gut vorstellen, wie sie über sie redeten. Dass sie durchgedreht sei. Eine Verrückte. Vollkommen wahnsinnig geworden. Gerade sie, würden sie sagen. Sie, die alles plant. Alles durchdenkt. Zerdenkt.

Ja, und Amelie wusste, was die meisten hinter vorgehaltener Hand lästerten, es nicht wagten laut auszusprechen, die Worte nur flüsterten:

Wieso hatte sie es nicht verhindern können?

Gewiss, diese Frage würden sie aussprechen, oh ja. Und sie würden über Amelie Red reden. Sie würden sich wundern, weshalb ihr Mann, Mathiew Red, sich umgebracht hatte, in ihrem Ehebett und sie, die Ehefrau, es nicht hatte verhindern können. Ja, das redeten sie, da musste sich Amelie nichts vormachen.

Immerhin wurde sie mittlerweile alleine gelassen. Jeder hatte den Versuch aufgegeben, sich abschrecken und fortjagen lassen von ihr, der Verrückten. Die, die nicht hatte verhindern können, dass sich ihr Mann das Leben nahm.

Amelie Red stellte sich diese Frage immer und immer wieder: War es ihre Schuld?

Die Frage nach der Schuld schien eine ganz und gar normale zu sein. So war es zwar makaber und zermürbend gewesen, doch nicht wirklich überraschend, als an dem Tag, als er fortging, auch die Polizei das Schlafzimmer aufsuchte. Ihn untersuchte. Eine Fallakte erstellte. Und sie schließlich nach eingehender Untersuchung, Begutachtung des Abschiedsbriefs und Gesprächen mit seinem Psychologen, die Akte mit der Lösung Selbstmord schließen konnten.

Welch ein Begriff. So furchtbar brutal und zerreißend.

Selbstmord.

Amelie empfand es komisch dieses Wort auszusprechen. Sie konnte nicht sagen, wie sie dabei fühlte, denn es war schlichtweg zu merkwürdig. Eigenartig. Befremdlich. Alles schien irgendwie befremdlich zu sein. Doch, wie könnte es auch vertraut sein, schließlich hatte sie dies noch nie durchleben müssen.

Selbstmord.

Sich selbst zu ermorden. Umzubringen. War es das? Konnte es wirklich so bezeichnet werden? Mit Gewalt aus dem Leben geschieden. Mit eigener Gewalt?

Amelie hatte es nachgeschlagen. Definitionen durchwälzt. Weshalb sie derlei tat? Weil sie Antworten suchte. Antworten auf die Frage Warum. Die Frage nach der Schuld. Der erstickende Gedanke, dass sie es hätte kommen sehen müssen. Dass er noch da wäre, hätte sie mehr Acht gegeben.

Doch in der Stille des Hauses, ihres Zuhauses, ihres einst gemeinsamen Heimes, da hallte keine Antwort zurück. Es würde für immer still sein.

Als sie ihn fand, war es das Erste, was ihr bitterkalt ins Herz stach: Sie würde es ihm nicht erzählen können, denn es kämen keine Worte zurück. Er würde sie nicht mit tröstenden Witzen erheitern können, denn nie wieder könnte sie seine Stimme hören.

Für immer verschollen, nie wieder abrufbar. Unendlich tot.

Sie wünschte sie könnte ihm davon erzählen. Von diesem Moment. Oh, nein. Von allen Momenten. Von allen Momenten ihrer Trauer. Wie er sie auch jetzt noch in den Wahnsinn trieb und sie sich nichts sehnlicher wünschte, als ihn dafür anschreien zu können und sein schelmisches Grinsen zu erleben, wie er sie auslachte, weil sie sich über Nichtigkeiten aufregte. Was gäbe sie dafür, seine Stimme zu hören, hell und klar, so vergangen.

Die einsame Stille zermarterte ihre Gedanken. Sie konnte kaum einen rechten Satz bilden, fühlte sich nutzlos und vergessen.

Am ersten Morgen, als der Wecker zum ersten Mal schellte, musste Amelie sich in Erinnerung rufen, dass es nur sie selbst sein würde, die sie wecken musste. Math war es gewesen, der der alleinige Morgenmuffel in ihrem Leben gewesen war. Ein Morgenmuffel erster Klasse, wie er es formulieren würde. Von alleine würde er niemals aufstehen. Er hatte ihr oft gesagt, dass er sich nicht daran erinnern konnte, wie er eigentlich wach geworden war, bevor sie in sein Leben getreten war. Hauptsächlich, so hatte er ihr mit ausladenden Geschichten erzählt, war er zu jeder Zeit überall hin zu spät gekommen. Vor allem in den Morgenstunden.

Jetzt weckte sie lediglich sich alleine. Der Wecker klingelte und neben ihr maulte niemand. Kein Stöhnen zu hören, dass die Welt noch schlief und sie die einzigen sein würden, die es um diese Stunde wagten aufzustehen, um sich auf dem Weg zur Arbeit zu machen. Math musste zudem immer eine Stunde vor ihr aufstehen, doch Amelie war stets gemeinsam mit ihm wachgeworden, denn ihr machten die Morgenstunden nichts aus. Im Gegenteil. Sie genoss die Ruhe, die es mit sich brachte, wenn sie die Zeit hatte, sich um den Morgen zu kümmern. Math dabei zu beobachten, wie er sein Frühstück mit geschlossenen Augen zu sich nahm und gegen so ziemlich jede Kante mit dem Fuß stieß, um gleich darauf jedes mal halb schlaftrunken zu fluchen.

Doch jetzt war die Seite im Bett neben ihr kalt.

Sie würde nicht eine Stunde eher aufstehen.

Den Wecker hatte sie entsorgt, nach dem ersten Klingeln, der Erkenntnis, dass sie alleine aus dem Bett aufstehen müsste. Daraufhin hatte sie ihn im hohen Bogen aus dem Fenster geworfen. Dort lag er immer noch, irgendwo im Wald vor dem Haus.

Denn Amelie Red wusste, dass sie sich nie wieder einen Wecker stellen konnte. Sie konnte sich nicht vorstellen das Geräusch zu hören, das sie ausschließlich mit ihm in Verbindung brachte. Denn wozu sollte sie aufstehen, aufwachen aus ihrem tiefen Schlaf? Welchen Grund sollte es geben, der sie dazu bewegen könnte, ihren Tag anzutreten? Wofür arbeiten, all die Stunden, all die Tage, ihr ganzes Leben, wenn sie es mit niemandem teilen konnte?

Es durfte nicht irgendjemand sein, ausschließlich Math. Kein anderer. Nur er. Er war die Antwort auf alles. Doch dort draußen war es still. Ein unendliches Schweigen aus Nichts.

POM.

POOOM.

POOOOOOMMMMM.

Mit diesem Moment endete es. Denn jemand klopfte an Amelies Tür, der sich so schnell nicht abwimmeln lassen würde. Und dieser jemand hatte alles andere als Ruhe und Schweigsamkeit im Sinn.

Einmal im Jahr für immer

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