Читать книгу Einmal im Jahr für immer - Sarah Ricchizzi - Страница 7
Kapitel 2
ОглавлениеScherbenland & Weltuntergang
London, erste Märzwoche 2017
Die Welt starb langsam dahin. Der Himmel zerbarst in gewaltigen Bruchstücken entlang des Horizonts und schlug pulsierende Wolkengebirge in die Luft. Bäume wirbelten in der Atmosphäre, Donner schlug auf die Erde nieder. Wirbelwinde durchsiedelten die Wäldereien, entrissen alles ihrem Anker, fegten über die Felder, als handle es sich lediglich um Kerzen eines Geburtstagskuchens, die gerade ausgepustet wurden.
Alles fand sein Ende.
Derlei Vorstellungen umspielten Amelies Gedanken den gesamten Tag über. Ihre grasgrünen müden Augen beobachteten über die letzten Wochen hinweg bereits diese Welt, wie sie fortschritt, sich der Sonnenaufgang mit dem Sonnenuntergang die Hand reichte, die Mittagssonne fröhlich auf die blühenden Wiesen hinab schien und nichts stehen geblieben war. Alles lebte noch, alles war wie gewohnt, alles war so normal. Sie genoss es für einige Momente des Tages in diese Albtraum-Weltuntergangs-Szenarien zu verfallen und sich einzubilden, alles würde den Bach runtergehen. Alles wäre verloren.
Fort.
Kaputt.
Für immer.
Warum lebte die Welt noch, während sie selbst das Gefühl hatte, dass alles in Fetzen gerissen wurde?
Das Kissen neben ihrem eigenen würde für immer leer bleiben. Der Tisch deckte sich nur für sie selbst.
Einsamkeit lebte in diesem Zuhause, der Tod löste das Leben selbstverständlich ab. Gespräche über das Wetter wurden weitergeführt. Niemand interessierte sich für das Schwinden eines Menschenlebens. Immerhin starben überall zu jeder Zeit, gerade jetzt in diesem Augenblick, Menschen auf der ganzen Welt. Es war schlichtweg normal.
Sterben war normal.
Wieso war das nicht eigenartig?
Der Tod kündigte sich manchmal an, doch häufig schlich er sich, ungeachtet von Zeugen und Zeichen, an seine Opfer heran und nahm sie erbarmungslos mit sich. Der Tod scherte sich nicht um die Hinterbliebenen. Der Tod fragte nicht, ob man mehr Zeit benötigte, um noch zu klären, zu reden und letzte Worte zu tauschen.
Noch schlimmer jedoch als der Tod war es die Gesellschaft, die erwartete, dass das Leben voranging. Trauern war erlaubt, doch nicht zu lange. Wer zu lange trauerte, der wurde als Spinner abgestempelt, jemand, der übertreibe oder nach Aufmerksamkeit lechzte. Wieso maßte sich die Welt an zu wissen, wann es richtig wäre jemanden vergessen zu müssen? Weshalb musste man dies überhaupt? Weiterleben?
Wozu?
Amelie Red zählte derweilen zu der Kategorie von Menschen, die all das nicht akzeptierte. Nicht weiterlebte. Nicht aufhörte sich zu erinnern. Immer und immer wieder.
Allerdings musste sie an dem heutigen Tag normal sein. Für einen winzigen Augenblick. Dies schien auch die Frau zu
erwarten, die vor Amelie saß und auf eine Antwort wartete.
»Wie bitte?«, fragte Amelie und wunderte sich wie seltsam fremd ihre Stimme klang. Dabei konnte sie nicht genau sagen, wann sie zuletzt mit jemanden gesprochen hatte. Sie fühlte sich nicht wie sie selbst, wunderte sich, wer sie einst gewesen war. Amelie konnte sich nicht erinnern.
»Mrs—«
»Miss«, unterbrach Amelie ihr Gegenüber und erschrak selbst für einen Moment. Was hatte sie gerade gesagt? Hatte sie das tatsächlich laut gesagt? Sie wusste nicht einmal, dass sie es gedacht hatte.
»Verzeihung, in den Unterlagen steht Sie seien verheiratet?« Die Frau runzelte verwirrt die Stirn und warf Amelie einen fragenden Blick zu. Amelie hatte das Gefühl an ihrem Atem zu ersticken, wenn sie ihre Augen nicht von der Dame lösen würde.
Damals. Damals, es war so lange her. Als sie den Brief hatte ausfüllen müssen, da waren die Angaben schließlich noch korrekt gewesen. Sie hätte ja nicht ahnen können… oder etwa doch?
Jetzt nicht mehr, nie wieder, niemals.
Ja, woher sollte diese Fremde, die gegenüber von ihr hinter einem viel zu klein geratenen Schreibtisch geklemmt saß, ihre Unterlagen durchblätterte und nur ihren Job tat, das auch wissen.
Viel mehr stellte sich die Frage, wieso Amelie sich überhaupt so geäußert hatte. Warum hatte sie die Frau korrigiert? Wieso überhaupt etwas gesagt, hatte sie sich schließlich eigentlich vorgenommen so wenig wie möglich zu sprechen, um eben nicht in eine ungewollte Situation zu geraten. Und dann das.
In dem Moment bereute es Amelie Red, dass sie diesen Weg allein gegangen war. Andererseits hätte sie niemandem erklären wollen, weshalb sie das Amtsgericht aufsuchen musste.
Amelie schluckte den bitteren Geschmack hinunter und hoffte darauf keine Antwort geben zu müssen. Schweigen war schließlich Antwort genug, abgesehen davon schien die Frau ohnehin nicht gesprächig oder interessiert zu sein, um überhaupt eine Form von Small Talk auf die Beine zu stellen. Wofür Amelie dankbar war, hätte sie noch früher mit scharfer Zunge und gerissenen Worten geantwortet, zog sie nun den Kopf ein. Ging in Deckung. Versteckte sich vor dieser Frau, der Welt.
Jetzt war es anders. Jetzt war sie anders. Jetzt war Amelie Red nicht mehr ihrer selbst.
Zu früh war dieses Gespräch aufgetaucht, harmlos erscheinend, gleichzeitig erdrückend finster und schmerzhaft. Woher war dieser Gedanke aufgeplatzt, diese Frau um ihr Alleinsein aufzuklären? Wieso hatte Amelie sie korrigiert? Wieso? Hatte sie sich etwa derart schnell an ihr Alleinsein gewöhnt? Ja, war es denn überhaupt schnell? Sie konnte niemanden fragen, denn mit jemandem gesprochen hatte sie seit sieben Wochen nicht mehr, schon gar nicht mit Menschen, die ihr nahestanden. Ihr liebster Gesprächspartner war bislang treu und zuverlässig der Pizzalieferant gewesen. Wie würde ein Psychologe Amelie Red wohl einschätzen, wenn er erführe, dass ihre einzigen Unterhaltungen innerhalb der letzten sieben Wochen nur mit Essenslieferanten und dem Postboten stattgefunden hatten? Wobei — mit dem Postboten hatte sie nicht wirklich gesprochen, wie etwa in einem Dialog. Es war vielmehr eine bildhafte Art sich zu unterhalten. Etwa so, dass er den mahnenden gelben Brief mit ihrer Vorladung an diesem Morgen an ihr Küchenfenster im Untergeschoss mit Panzertape geklebt hatte, um auf sich aufmerksam zu machen.
»Ich bezahle die Mahnung, in Ordnung? Ich begleiche sie«, sagte Amelie mit hastig überstolpernder Stimme, wandte den Blick schließlich als Erste ab und starrte auf den Boden, während sie mit ihr sprach. Früher hätte sie niemals zuerst nachgegeben. Amelies Stolz war stets ihre größte Schwäche und Stärke zugleich gewesen. Der Stolz, der sie so weit geführt hatte, lag nun zerschmettert zu ihren Füßen.
Sie wandte den Blick ab. Nicht nur dieser Frau gegenüber, sondern von der ganzen Welt. Ihrem Leben. Amelie hielt nicht mehr stand. Ihr Widerstand hatte nie begonnen. Es war ein Kampf, dem sie nie gegenübertreten wollte. Diesen Termin im Amtsgericht, den konnte sie allerdings nicht ignorieren. Denn es war eine Geschichte, die noch offenstand. Etwas, dass sie noch mit ihm verband. Für diesen Augenblick lebte er einen Moment weiter in ihrer Gedankenwelt, während sie dort saß, vor dieser Frau, den Blick abgewandt.
Dass sie ihr nicht direkt in die Augen blicken konnte, hatte allerdings noch einen weiteren Grund. Zum einen wollte Amelie der Frage ihres Alleinseins aus dem Wege gehen, zum anderen wusste diese Frau ganz genau, weshalb sie überhaupt an diesem Tag an ihren Schreibtisch geladen worden war. Weshalb dieser Mahnbrief an ihrem Fenster geklebt hatte. Was sie getan hatte. Wobei die Frau gewiss schon vorher in Kenntnis darüber gewesen war. Schließlich hatte Amelie über Wochen hinweg die Schlagzeilen in Anspruch genommen. Kaum einer wusste es nicht. Ihr Auftreten war schlichtweg zu skandalös gewesen. Entgegen allem, wofür Amelie eigentlich stand.
Diese Frau warf ihr einen ebenso befremdeten Blick zu, wie es bereits etliche zuvorgetan hatten. Nun, bis auf einen. Ein einziger hatte anders reagiert: Mathiew Red, ihr Ehemann.
Math war von einem so intensiven Lachanfall überwältigt worden, dass Amelie daraufhin satte drei Tage nicht mehr mit ihm gesprochen hatte. Sein Gesichtsausdruck, als er sie von der Polizeiwache abgeholt hatte. Ihr beschämter Blick zu Boden, als sie ihm erzählte, weshalb eine Kaution auf sie ausgestellt war. Mitten in der Nacht. Amelie hatte in dieser Nacht nicht einmal rausgehen wollen, als hätte sie geahnt, dass es nicht hätte gut enden können.
Bei dieser Erinnerung schossen ihr unangekündigt Tränen in die Augen und sie musste plötzlich nach Luft schnappen, um vor dieser Büroangestellten nicht loszuheulen.
Alles, nur das nicht.
Eine öffentliche Demütigung brauchte sie nicht. Es genügte bereits das, was sie ohnehin verbrochen hatte und dass sie tatsächlich angeklagt worden war.
Angeklagt.
Amelie Red.
In ihren Ohren schallte weiterhin das Lachen von Math wieder, während die Fremde die Papiere sortierte. Amelie schaute nicht einmal mehr auf, um nachzusehen, wie die Frau eigentlich hieß. Es war einfach eine Fremde, gänzlich unbedeutende Person. Früher hatte Amelie alles zur Kenntnis genommen, ihr gesamtes Umfeld in sich aufgesogen, das Leben geatmet.
Jetzt nicht mehr.
Amelie presste die Lippen aufeinander, um gegen die Tränen anzukämpfen. Damals hatte Math es nicht unterlassen sich in einer Tirade von Witzen und bildhaften Erzählungen über ihre Verhaftung lustig zu machen, um sie noch weiter in den Wahnsinn zu treiben. Nebenbei hatte er sich noch über ihre Ignoranz ausgelassen und sie pantomimisch nachgeahmt.
Sie verfluchte sich für die Zeit, die sie verloren hatte, verschwendet, vergeudet. Wie oft hatte sie ihn angeschwiegen, wenn sie anstelle dessen hätte etwas sagen sollen?
Wie oft?
»Es bleibt nicht dabei. Das ist nur der Betrag für die Mahnung, weil Sie die Vorladung nicht wahrgenommen haben. Die Gerichtsverhandlung folgt noch... — Miss Red. Wir haben Ihnen zwei Mahnungen zugesandt. Bei der nächsten wären Ihre Konten gesperrt worden.« Amelie spürte den scharfen Blick, den sie ihr zuwarf. Nicht einmal den Anschein von Mitleid, selbst wenn ihr die Tränen in Amelies Augen aufgefallen wären.
»Verzeihung«, murmelte Amelie unbeholfen und sog erneut einen tiefen Atemzug ein, blinzelte gegen die Tränen an, die noch an ihrer Erinnerung klebten, setzte ihre Unterschrift auf die Unterlagen und ging, ohne Abschied, ohne einen letzten Blick oder der Frage, wann denn dieser Gerichtstermin sein würde.
Bei dem Schriftzug ihres Nachnamens stahlen sich weitere Erinnerungen in ihre Gedanken und Amelie wunderte sich, ob sie es aushalten würde, bis sie Zuhause ankam. Oder ob sie eher zusammenbrach. Dort vor allen Menschen. So vielen Menschen, die das mitansehen würden. Sie fragte sich, wie diese wohl reagieren würden, wenn sie einfach so zusammenklappte, einem Heulkrampf verfallen, am Boden liegend. Was würden all diese Menschen tun? Würde einer aufsehen, ihr helfen? Vermutlich würden sie einen Arzt rufen und sie würde eingeliefert werden. Probleme abwälzen, beseitigen, ignorieren.
Doch ein Funken ihres Stolzes war irgendwo in ihrem Inneren zurückgeblieben. Denn für den Fall, dass sie weinen musste, es nicht umgehen konnte, hatte sie vorgesorgt. Amelie war nicht mit dem naiven Gedanken hinausgegangen, sie wäre stark genug für diesen einsamen Tagesausflug, in die große weite rücksichtslose Welt dort draußen. Sie hatte sich selbst versprochen, dass sie einen Rest Würde zusammenkratzen würde. Warum, das konnte sie sich selbst kaum beantworten. Vermutlich knabberte ihr Unterbewusstsein noch an der Hoffnung, dass es irgendwann weitergehen würde. Irgendwie und irgendwann.
Amelies Bewusstsein konnte sich das ganz und gar nicht vorstellen. Trotzdem hielt sie stand. Sah zu Boden, lief schnell durch die spärlich beleuchteten Flure des Amtes und stieg hastig in den Fahrstuhl. Etwas Glück sollte wohl mit ihr sein, als sie erkannte, dass dieser leer war. Sofort drückte sie Not Aus. Ohne groß nachzudenken. Ja, das war vielleicht nicht die klügste Idee, es war jedoch immer noch besser, als gar nichts zu tun. Und kaum, dass der Fahrstuhl abrupt stehen blieb, bebten simultan ihre Lippen, ihre Kehle zog sich bitterlich zusammen und sie spürte, wie ein Zittern durch ihren ganzen Körper fuhr, als das erste Schluchzen aus ihrem Herzen entkam.
Sie weinte bitterlich, gönnte sich diesen einen Augenblick. Ließ die Angst raus, die Einsamkeit raushängen und den Schnodder laufen, als wäre dies der erste Tag und nicht der neunundvierzigste. Ganz recht. So lange war er bereits fort. Neunundvierzig Tage.
Ihr Herz schlotterte, als wolle es aus ihrer Brust raus, jetzt sofort und am besten für immer. Sie hatte das Gefühl die Schwere ihres Leids nicht länger tragen zu können, wollte es fortschaffen, beiseitelegen, vergraben. Doch das würde bedeuten auch Erinnerungen zu vergessen. Und das konnte sie nicht. Nein, niemals.
Auch wenn sich schlechte Erinnerungen mit guten paarten. An richtig miesen Tagen dachte sie an die Streitigkeiten zurück, was sie ihm für Worte an den Kopf geworfen hatte, welch Vorwürfe sie sich ausgedacht hatte, nur um die Oberhand zu gewinnen, um Recht zu behalten, bei was auch immer für einem Unsinn. Wie dumm Streitereien doch waren. Wozu taten Menschen das eigentlich? Es war doch viel schöner, wenn man sich liebte, oder etwa nicht? Reue und ein Gewissen, das sie nicht begleichen konnte, überwältigte sie in solchen Momenten und ließ sie denken, sie sei der grausamste Mensch, der diese Welt betreten hatte. Wie konnte sie überhaupt jemals daran gedacht haben zu streiten? Wenn doch sonnenklar war, dass einer von ihnen irgendwann sterben konnte? Allerdings hatte ihre Vorstellung vom Tod stets etwas anders ausgesehen: Gemeinsam mit schrumpeligen hundert Jahren im Schaukelstuhl aufgrund von Langeweile für immer einschlafen und nie wieder aufwachen.
Weshalb wurde nicht jedem Menschen dieses Schicksal vergönnt? Warum durften die einen hundert Jahre gemeinsam verbringen und andere wiederum nur zehn? Oder nur ein paar Tage?
Math war vor ihr gegangen. Viel zu früh.
Dann schellte ihr Smartphone.
Der Alarm.
Tief einatmen. Noch tiefer ausatmen. Wiederholen. Das Beben ihrer Lippen ließ nach. Taschentuch raus. Nase putzen. Luft zu fächern. Gesicht von den verbliebenen Tränen lösen.
Dann zog sie den Not Aus wieder raus und der Fahrstuhl nahm den Betrieb erneut auf.
Zwei Minuten Panik. Das war die Zeit, die sie sich verschaffte, um alles rauszulassen. Mehr durfte es nicht sein, damit sie nicht in einer Endlosschleife landete. In der Unendlichkeit ihrer eigenen Trauer. Doch das wollte sie nicht. Nicht an diesem Ort. Amelie verschloss sich vor der Welt, sie würde sich ihr nicht in einem Aufzug offenbaren.
Gleichzeitig möchte ein kleiner Teil von ihr diese Aufmerksamkeit bekommen. Wie schön es wäre, wenn sie jemand einfach für eine sehr lange Zeit in die Arme schloss und sie bedingungslos gernhatte. Sie liebte. Ihr zuhörte und all ihre Trauer und ihren Schmerz ertrug, ganz gleich, wie lange dieser anhalten würde.
Der einzige, der dazu bereit gewesen wäre, war jedoch der Grund, weshalb sie sich derart zerstört fühlte.
Mathiew Red war tot.
Die Fahrstuhltür öffnete sich und sie stieg aus, preschte Richtung Ausgang. Die frische Luft berauschte ihren Kreislauf und drehte ihren Puls wieder auf eine einigermaßen angenehme Spur.
Immerhin blieb ihr die Erinnerung an Maths Lachen den gesamten übrigen Vormittag im Ohr hängen, wie ein Ohrwurm ihres Lieblingslieds.
»Das hast du nicht wirklich getan!«, hatte er gesagt, in dem Moment sah sie seine betörend himmelblauen Augen so deutlich vor sich, als sehe sie ihn tatsächlich wirklich an. »Bluebird, wer hätte gedacht, dass du mich nach all den Jahren noch so überraschen kannst.« Bluebird.
Sie ging weiter. Zum Auto, mit ruhigen Schritten und ausdrucksloser Miene. So als wäre sie eben nicht innerlich ein kleines Stück weiter an dem Gedanken zerbrochen, dass sie Math nicht von diesem Amtstermin erzählen konnte. Sie konnte ihm nicht sagen, wie gemein diese Dame am Schalter gewesen war, die sie aufgenommen hatte. Ja, sie hätte ihm selbst von ihrer Zwei-Minuten-Nummer im Aufzug erzählen wollen, wie sie auf die Sekunde genau geheult und sich dann wieder aufgefrischt hatte. Er hätte sie ausgelacht, wie er es immer tat, wenn sie ihr Leben akribisch und nach einem Muster plante, das er nur zu genüsslich durcheinanderbrachte. Denn so war sie: Eine Planerin. Eine, die das Unvorbereitete verabscheute. Eine Perfektionistin. Eine, die nicht das Haus verlassen würde, bevor sie nicht mehrfach ihre Checklisten durchgegangen war. Eine mit drei Terminkalendern. Eine, die Überraschungspartys hasste und dennoch so tat, als hätte sie die größte Freude daran. Eine, die Pickel bekam, wenn Termine durcheinandergerieten. Eine, die nicht allein leben wollte und nicht einmal wusste, ob sie es konnte.
Die Autofahrt verlief ruhig. Schweigend, wie alles andere in ihrem Leben auch. Sie hörte keine Musik. Schloss alles an Geräuschen aus, schreckte dadurch allzu schnell vor jedem Laut zurück. Doch das war ihr egal. Sie konnte es nicht. Hören, wie das Leben fortschritt, weiterging.
Das Haus kam in Sichtweite. Ihr Haus. Ihr Zuhause. Einst gemeinsam, nun einsam, ganz für sie allein.
Die Haustür ließ sie vorsichtig hinter sich zufallen und trat in das finstre menschenleere Heim hinein. Sie zog ihre Schuhe im Laufen aus, ließ sie einfach irgendwo im Wege liegen und blieb stehen. Und in dem Moment wurde Amelie bewusst, dass sie es nie vergessen würde. Den Moment, als sie damals vor neunundvierzig Tagen nach Hause kam und von einer erschreckenden Stille begrüßt wurde. Wie sie nach seinem Namen rief und keine Antwort erhielt. Ihre Augen füllten sich wieder mit großen Brocken von Tränen, so schwer, wie die Welt es nicht sein konnte. Sie sah zu der Stelle hinüber. Dort, wo der Brief gelegen hatte. Die Angst hatte sie stets beschlichen. Immerzu und überall hin, doch sie war der festen Überzeugung gewesen jedes Problem richten zu können. Auf dem Kaminsims hatten sie gelegen. Die letzten Worte. Mittlerweile lagen sie auf ihrem Nachttisch, überströmt mit ihren Tränen.
Es tut mir leid, waren die ersten Buchstaben gewesen, die er zu Papier gebracht hatte.
Darunter: Ich liebe dich.
Sie spürte noch genau, wie ihr eiskalt geworden war, ihre Knie zu schlottern begonnen hatten, ihre Beine derart heftig zitterten, dass sie beinahe nicht imstande gewesen wäre weiterzugehen.
Doch sie schrie.
Sie schrie seinen Namen immer und immer wieder, bis sie ihn fand. Ihre Kehle krächzte und ätzte nach ihrem Wimmern und Schreien, ihrer puren ausweglosen Verzweiflung, als sie Math schließlich in ihrem Bett entdeckte.
Ja, das war es gewesen.
Math hatte sich das Leben genommen und sie mit einem Abschiedsbrief zurückgelassen.