Читать книгу Ja, Mr. Blue Eyes - Sarah Veronica Lovling - Страница 4
1. Kapitel
Оглавление„Sandy? Hörst du mich?“ Nur mit äußerster Willensanstrengung schaffte es Sandra, die Augen zu öffnen und ihren Boss Hank anzusehen, der sich über den Tisch neigte und sie mit hochgezogenen Augenbrauen ansah. Offensichtlich hatte sie mal wieder etwas ach so wichtiges nicht mitbekommen, müde wie sie war. Gott, wie sie es hasste… seine Überheblichkeit, und dass er sie ständig Sandy nannte. Und diese – wie nannte er es gleich? – Frühbesprechungen. Und diesen Job, sagte der fiese, gemeine und zynische Teil ihres Gehirns, noch bevor sie den Gedanken stoppen konnte. Doch mit einer weiteren Willensanstrengung gelang es ihr, zu lächeln; zumindest war sie sich relativ sicher, dass es ihr gelang, die Mundwinkel zumindest ein wenig hochzuziehen. Hoffentlich sah es zumindest wie ein Lächeln aus. Sie war schließlich auf diesen Job angewiesen. „Sicher, Hank, entschuldige. Was sagtest du gleich?“ – Sandra versuchte, die Müdigkeit zurückzudrängen und sich zu konzentrieren. Die Nacht war kurz gewesen. Sammy, ihr zweijähriger Sohn, hatte sich um exakt 3:27 Uhr übergeben – auf sich selbst, sein Bett und schließlich auch auf Sandra, um das Ganze perfekt zu machen. Das Ergebnis war ein Bettwäschewechsel, Kind duschen und selbst duschen gewesen, und das Ganze zu einer Zeit, zu der andere Leute süß träumend schliefen. Sandra hatte dann nach der kräftezehrenden Aktion den Rest der Nacht wachgelegen und überlegt, was sie nun tun sollte… Sie konnte nicht schon wieder auf der Arbeit fehlen. Sammy ging es, so schien es zumindest, wieder soweit gut. Er war nach dem Desaster ganz fröhlich gewesen, hatte sich geduldig duschen lassen (wohl aber auf seinem grünen Dinosaurierduschgel beharrt) und war innerhalb von Augenblicken wieder eingeschlafen. Noch fünfmal war Sandra bei ihm am Bettchen gewesen, hatte ihm die seidigen Haare aus der Stirn gestrichen und gefühlt, ob er wohl Fieber bekam. Nichts. Er schlief selig und traumlos, war morgens munter wie eh und je, im Gegensatz zu seiner übermüdeten Mutter, die sich fühlte, als habe sie zehn Runden Achterbahn mit Loopings hinter sich. So hatte Sandra ihn schließlich in den Kindergarten gebracht, hatte das Erbrechen wohlweislich bei seiner zuständigen Erzieherin unerwähnt gelassen und war selbst arbeiten gegangen, müde hin oder her.
„Ich sagte, du könntest dich gleich um das Obst kümmern“, wiederholte Hank etwas freundlicher und schaute sie über den mit einer billigen Plastikfolie beklebten alten Tisch, an dem alle Mitarbeiter sich zur Frühbesprechung versammelt hatten, an. Na klar. Das Obst. „Sicher“, antwortete Sandra, darum bemüht, ihr so mühsam gespieltes Lächeln aufrechtzuerhalten. Einen Moment lang gelang es ihr noch, Hank dabei in die Augen zu sehen, bis sie den Blick abwandte und das Muster der Tischdecke fixierte (bedruckt mit Erdbeeren, ausgerechnet, die durch tausendfaches Abwischen ekelhaft blassrosa geworden waren), um nicht laut loszuschreien oder in Tränen auszubrechen - wahlweise. Jeden Montagmorgen „kümmerte“ sich Sandra um das Obst. Ihre mit Abstand verhassteste Tätigkeit. Hank, ihr Geizkragen-Chef, warf nämlich kaum mal etwas weg. Zum Beispiel diesen Schrotthaufen von Tisch mit der ihr so verhassten Erdbeerfolie. Sandras Aufgabe nach dem Wochenende war stets, das Obst zu sortieren, in die Kategorien „noch gut und zum vollen Preis zu verkaufen“ (Hanks bevorzugte Einstufung) oder „matschig, aber noch zum halben Preis zu verkaufen“ oder „nichts zu machen“. Seit Sandra das Obst sortierte, es gewissenhaft auf braune und weiche Stellen untersuchte (übrigens galt das auch für das Gemüse), gab es keine Kundenbeanstandungen mehr. Sandra schien ein Talent im Obst-und-Gemüse-sortieren zu haben. Wenigstens etwas, befand Sandra missmutig. Wenn ich schon sonst keine Talente habe. Immerhin schien es, wie hieß es noch so schön… ihr „Alleinstellungsmerkmal“ zu sein. Wie gesagt, sie brauchte diesen Job. Leise seufzend trank sie einen letzten Schluck Kaffee, stand auf und machte sich an die Arbeit.
Drei Stunden später hatte sie sich durch Äpfel, Birnen, Bananen, Erdbeeren (sehr verderblich, sogar auf Plastiktischdecken…), Aprikosen, Kiwis, Litschis (wer brauchte denn so was?) und Trauben gearbeitet und nahm einen tiefen Atemzug, um sich nun schicksalsergeben dem Gemüse zuzuwenden. „Meine Liebe, wie läuft es?“, sagte da ihr Chef plötzlich an ihrem Ohr. Sandra erschrak und ließ fast die Trauben fallen, die sie zuletzt sortiert hatte; sie hatte ihn gar nicht kommen hören. Trauben sortieren war anscheinend meditativ oder schlug ihr aufs Hirn. Oder sie hatte einfach ihre Müdigkeit trotz dreier Tassen Kaffee noch nicht überwunden. „Ich bin nicht „deine“ und schon gar nicht lieb“, fauchte Sandra ohne Nachzudenken, „und ich komme bestens klar mit dieser anspruchsvollen Aufgabe! Danke!“ Hank suchte beleidigt das Weite, nicht ohne ihr einen bösen Blick zuzuwerfen. Mist. Mal wieder hatte sie gesagt, was sie dachte, und erst danach ihr Hirn eingeschaltet… „Aber, aber“, erklang da eine belustigte Stimme hinter ihr, „was ist dir denn über die Leber gelaufen?“ Sandra drehte sich um. Es war Caroline, ihre Freundin. Klein, kurvig (Caroline nannte es dick, aber Sandra fand sie einfach perfekt so) und mit wilden roten Locken, die sich jedem Glätteisen widersetzten, konnten die beiden Freundinnen äußerlich unterschiedlicher nicht sein. Sandra war mittelblond (glatt, lang, nichts Besonderes), mittelgroß und mittelschlank – wie sie fand, total langweilig und durchschnittlich. Und während Sandra frech, schnippisch und manchmal jähzornig war, schien Caroline fast immer in sich zu ruhen und strahlte diese Ruhe auch nach außen aus. Mit Caro zusammen zu sein, tat Sandra immer gut. Auch heute - gleich ging es ihr besser. „Ach Caro…“, seufzte Sandra, „Sammy hat die ganze Nacht gekotzt, ich möchte nur schlafen und stattdessen sortiere ich faule Litschis“, brachte sie die Lage in einem Satz auf den Punkt und schloss Caroline in die Arme. „Du Arme“, tröstete Caro sie, „geht es Sammy denn besser?“ Caroline war die Patentante ihres Sohnes und liebte den Kleinen heiß und innig. „Ja, scheint wieder alles okay zu sein… Was machst du hier? Willst du halbfaule Bananen? Handverlesen!“ Caro kicherte. Sandra hatte die schärfste Zunge nördlich des Äquators. Das ein oder andere Mal hatte sie sich mit ihren frechen Sprüchen schon Ärger eingehandelt. „Ich will tatsächlich Bananen, du Irre“, grinste Caroline, „aber die frischen. Und, Bella will wissen, ob wir am Freitag mitkommen zu so einer Modelparty. Du weißt schon, dünne Frauen, falsche Wimpern, Champagner und heiße Jungs“. Sie verdrehte gespielt genervt die Augen. Annabell war ihre gemeinsame Freundin und war als Model immer wieder zu „angesagten“ Partys eingeladen. Manchmal gingen Sandra und Caroline mit, aber beide mochten es eigentlich nicht besonders. Caro war zu schüchtern und fühlte sich zu rundlich unter all den Bohnenstangen, und Sandra eckte an mit ihrer direkten Art. Zudem brauchte Sandra zur Zeit nichts weniger als einen Mann und sei er auch noch so ein heißes Model. „Weißt du, Caro, es ist erst Montag“, antwortete Sandra, „Freitag ist noch Lichtjahre entfernt. Wahrscheinlich werde ich den Freitag gar nicht erleben. Ich werde als erster dokumentierter Fall zwischen faulem und halbfaulem Obst aufgrund von chronischer Genervtheit und akuter Müdigkeit verenden. Schreib deine Doktorarbeit darüber.“ Caro lachte. Sie war der klügste Kopf unter den drei Freundinnen, studierte Medizin und hatte gerade ganz andere Sorgen als eine etwaige Doktorarbeit, sagte aber nichts weiter. „Lass uns die Tage nochmal texten“, schlug sie ihrer Freundin vor. Zu dritt schrieben sich Sandra, Caroline und Annabell, um im Alltag in Kontakt zu bleiben, regelmäßig kurze Textnachrichten. Zu Schulzeiten war es so einfach gewesen… sie hatten sich tagtäglich gesehen und überdies am Nachmittag alle Zeit der Welt gehabt. Jetzt nutzten sie die Gruppenfunktion ihrer Handys und schrieben sich beinahe täglich hin und her, um weiterhin Anteil am Leben der beiden anderen zu haben. So oft wie früher sahen sie sich nicht mehr, obwohl sie noch in der gleichen Stadt lebten – Sandra war beschäftigt mit ihrem Supermarktjob und vor allem mit Sammy, Caro studierte und kümmerte sich um ihre Mutter, und Annabell, das Model, jettete in der Welt herum, immer auf der Suche nach einem lukrativen Auftrag, gestresst vom Jet-Set-Leben. „Und halt die Ohren steif!“, fügte Caroline hinzu. „Mach ich, versprochen“, gab Sandra zurück, „was bleibt mir anderes übrig? War schön, dich zu sehen!“ Sandra und Caro umarmten sich kurz. Caroline ging mit ihrem Beutel der makellosesten Bananen zur Kasse, und Sandra wandte sich schicksalsergeben den Gurken zu.
CARO: Noch lebendig? Oder zwischen halbfaulem Obst verendet?
ANNABELL: Verendet? Wer? Wenn ich noch einen einzigen Scheißchampagner trinken muss, verende ich auch… grrrr!
SANDRA: Hab überlebt. Knapp. Hab euch lieb.