Читать книгу Ja, Mr. Blue Eyes - Sarah Veronica Lovling - Страница 6

3. Kapitel

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Rüberziehen. Bing. Rüberziehen. Bing. Rüberziehen. Bing… Beim Einscannen der Barcodes der Waren fielen Sandra trotz des grellen Lichts der Neonröhren fast die Augen zu. Es war schon wieder Montag. Oder immer noch? Nach Sandras Gefühl bestand die Woche aus fünf Montagen und zwei Putztagen am Wochenende. Nach fünf Stunden beim Obst und Gemüse (fünf Stunden!) hatte Hank Sandra schließlich an die Kasse geschickt. Mittlerweile war etwas mehr los, und es hatte sich gelohnt, eine zweite Kasse zu öffnen. Auch nicht Sandras Lieblingstätigkeit, aber immerhin konnte sie sitzen und beschmutzte sich nicht ständig mit halbfaulem Obst. Sie mochte den Supermarktjob nicht besonders, nichts davon. Am liebsten half sie noch Kunden, die etwas suchten, oder die Hilfe brauchten. Aber sie war auf den Job angewiesen. Sie hatte Sam, und Sam brauchte sie. Sie musste die Miete aufbringen, die Strom-, Wasser- und Telefonrechnungen bezahlen, und Sam brauchte Essen und Kleidung. Sie selbst verzichtete auf vieles, aber ihrem kleinen Sohn sollte es so gut wie möglich gehen. Daher hatte sie auch nach seiner Geburt den Traum von einem Studium abgehakt – es musste schnell Geld ins Haus kommen. Von Anfang an hatte sie mit Sam alleine dagestanden – und das hatte sie hart gemacht.

Als sie vor vier Jahren Tyler kennengelernt hatte, war sie Feuer und Flamme gewesen. Sie war jung, hübsch und voller Vorfreude auf die Zukunft gewesen. Die Schule lag fast hinter ihr, das Studium vor ihr. In einer Bar, in der sie mit Caro und Annabell feiern war, hatte er plötzlich, wie aus dem Nichts, vor ihr gestanden, so nah, dass ihr kurz der Atem stockte und sie den Kopf weit nach oben recken musste, um zu sehen, wer ihr da so dreist die Sicht nahm. Dann stockte ihr ein weiteres Mal der Atem. Sie blickte in ein lächelndes Gesicht mit warmen braunen Augen, und hörte die Worte „Entschuldige… aber ich muss einfach wissen, wie die schönste Frau in dieser Bar heißt!“ Heute fand sie es abgeschmackt und kitschig, damals war sie dahingeschmolzen. „Sandra“, hatte sie mehr gekrächzt als gesagt, „aber ich bin nicht die schönste…“ – „Für mich schon“, unterbrach er sofort und stellte sich ihr vor. Tyler, der Supertyp. Gutaussehend, groß, braungebrannt. In der Schule im Footballteam, zuhause der umschwärmte einzige Sohn, studierte er Jura, um später in die erfolgreiche Kanzlei seines Vaters einzusteigen. Ein Traummann, das hatte sie gedacht. Als er ihr einen Drink ausgeben wollte, stieß sie mit ihm an. Als er mit ihr tanzen wollte, tanzte sie mit ihm und ließ sich führen. Sie war im Himmel. Er hatte sie in seinem schicken Auto nach Hause gebracht, ihr wie ein vollendeter Gentleman nur einen Kuss auf die Wange gehaucht und war erst gefahren, als sie sicher durch die Tür gegangen war. Nachts träumte sie von ihm, seinen braunen Augen, seinem Duft… sie hatte sich Hals über Kopf verliebt. Als er dann schon am nächsten Tag anrief, um sie ins Kino einzuladen, sagte sie sofort zu, fühlte sich geschmeichelt und umworben. Von dem Film bekamen sie dann nicht viel mit – sie konnten die Finger nicht voneinander lassen, knutschten und fummelten im Dunkeln. Und als er nur drei Wochen später mit ihr schlafen wollte, ließ sie ihn, obwohl sie eigentlich noch gar nicht dazu bereit gewesen war. Sie erinnerte sich noch genau. Sie waren mal wieder mit seiner Clique unterwegs gewesen, in einer kleinen Bar im Nachbarort. Harte Drinks, laute Musik, gute Stimmung. Als sie eigentlich schon nach Hause wollte, bat Tyler sie, noch zu bleiben. „Bitte, Sandy“, hatte er gesagt und ihr einen Dackelblick zu geworfen. Sie blieb – natürlich. Und als er ein paar Stunden später versuchte, sie zu überreden, mit ihm in ein Motel zu gehen, ging sie mit. Es musste ja nichts weiter passieren, außer ein bisschen schmusen, sagte sie sich. Sie war noch Jungfrau, machte gerade ihre allerersten Erfahrungen mit Tyler. In Gedanken hatte sie sich ihr „erstes Mal“ aber bereits mindestens ein Dutzend Mal ausgemalt. Wunderschön würde es werden, im Kerzenschein, Tyler würde vorsichtig und zärtlich sein, seine eigenen Wünsche ihren unterordnen. Doch es kam ganz anders. Kaum war die Zimmertür hinter ihnen ins Schloss gefallen, war er schon über sie hergefallen. Leidenschaftlich hatten sie sich geküsst und waren gemeinsam auf das durchgelegene Bett gesunken. Tyler, deutlich betrunkener als Sandra, war ihr gierig unters T-Shirt gefahren und hatte es ihr in Windeseile, zusammen mit ihrem BH, ausgezogen. Sofort danach hatte er sich an ihren Jeansknöpfen zu schaffen gemacht. Sandra hatte vor lauter Schreck kaum reagieren können. Als sie schließlich den Mut aufgebracht hatte, Tyler zu sagen, dass es ihr zu schnell gehe, hatte dieser nur gelacht. „Sandy“, hatte er gesagt, „ich halte mich jetzt schon so lange zurück. Willst du, dass ich irre werde? Das ist doch lächerlich. Draußen laufen lauter Mädchen rum, die nicht nein sagen würden“. Sandra war entsetzt, aber sie wusste, dass das stimmte – und so hatte sie ihn gelassen. Er hatte ihren Hals geküsst, ihre Brüste und war schließlich hastig mit seinen Fingern in sie eingedrungen. Sie war noch nicht richtig feucht gewesen und hatte unwillkürlich aufgeschrien. „Verdammt“, hatte Tyler gemurmelt, denn es war ihm nicht schnell genug gegangen. Ein wenig Speichel als Gleitmittel benutzend, hatte er es noch mal versucht und hatte dann seine Finger in sie schieben können. „Ja, Baby“, keuchte er, zog seine Finger aus ihr und brachte sich, sie küssend, in Position. Sofort stieß er zu. Sandra schrie auf, als ein brennender Schmerz sie durchzuckte, und versuchte, sich ihm zu entziehen, doch er hielt sie fest in seinen Armen und begann, sich in ihr zu bewegen. Bereits nach Augenblicken war es vorbei gewesen. Er hatte sich aus ihr zurückgezogen, und ihr war nur ein klebriges, wundes Gefühl geblieben. Im Bad hatte sie sich gesäubert, und als sie zurück ins Zimmer kam, hatte Tyler bereits schnarchend seinen Rausch ausgeschlafen. Enttäuscht, tieftraurig und all ihrer romantischen Vorstellungen beraubt war Sandra bis nach Hause durch die Nacht gelaufen und hatte die Nacht einsam in ihrem Mädchenzimmer verbracht, an die Decke starrend. So hatte sie sich ihr erstes Mal nicht vorgestellt. Es hatte doch so schön, so romantisch und zärtlich sein sollen… und jetzt das. Sie fühlte sich wund und benutzt. Und das von ihrem Tyler, der doch sonst immer so lieb, so zuvorkommend war. Sie weinte sich in den Schlaf, träumte unruhig, erwachte traurig. Am nächsten Tag dann hatte er vor ihrer Tür gestanden, verkatert und süß, ganz zerknirscht und reumütig, mit einem Strauß Blumen in der Hand. „Sandy… es tut mir leid“, hatte er gestammelt, „verzeihst du mir?“. Sie hatte ihm nicht mehr böse sein können. Sie hatte ihn nach oben gelassen, in ihr Zimmer, in ihr Bett. Dieses Mal war er zärtlicher gewesen, hatte sie gestreichelt und stimuliert, bevor er in sie eingedrungen war, und es hatte ihr ein wenig gefallen. So war es weitergegangen. Ein halbes Jahr lief alles gut, ein weiteres halbes Jahr lang ging es langsam bergab. Sie sahen sich immer seltener, unternahmen immer weniger, entfernten sich voneinander. Seine Clique wurde ihm wichtiger als sie. Manchmal sprachen sie kein Wort, saßen vor dem Fernseher, in dem mal wieder Football lief, und schliefen danach miteinander – mechanisch, gefühllos. Tyler wollte immer nur Sex, sie wollte mehr, wollte nicht wahrhaben, dass es eigentlich aus war, dass sie beide sich in unterschiedliche Richtungen entwickelten. Und dann war Sandy auf einmal schwanger geworden… und Tyler, das Arschloch, haute ab.

In ihre trübseligen Gedanken versunken reichte Sandra der Kundin ihr Wechselgeld. „Sieben Dollar dreißig zurück, vielen Dank, und noch einen schönen Tag“, leierte sie ihren Spruch herunter. Dann erneut, „Guten Tag, willkommen bei Hank’s Superstore“, rüberziehen. Bing. Rüberziehen. Bing… Nur am Rande registrierte sie den typisch männlichen Single-Wocheneinkauf, den sie da gerade einscannte: Mehrere Fertigpizzen, Mikrowellenburger, Toastbrot, Erdnussbutter, ein Glas Hot-Dog-Würstchen, fünf Äpfel, ein Pfund starker Kaffee und eine Flasche Whiskey, dazu Toilettenpapier, das günstigste natürlich. Wohingegen der Whiskey zu den teuren zählte. Typisch männliche Prioritäten, dachte sie. „Zweiunddreißig Dollar fünfundvierzig, bitte“, sagte sie und blickte erstmals auf, um ihren Kunden anzusehen. „Wollen Sie…“, setzte sie an, und dann… stockte ihr der Atem. Ihr Kopf schien wie leergefegt. Oh – mein – Gott… Sie schluckte. Der Mann war groß und schlank, hatte braunes, kurzes Haar und die faszinierendsten Augen, die sie je gesehen hatte. Sie waren blau, dunkelblau, um genau zu sein, und erinnerten sie… woran nochmal? Karibik, fiel ihr spontan ein. Sie war als Teenager mit ihren Eltern einmal auf einer karibischen Insel gewesen, und am meisten hatte sie dort das Meer fasziniert. Türkisblau-transparent am feinsandigen weißen Strand, dann dunkelblau-unergründlich, dort, wo es tiefer wurde. Wo es kühler war und Gefahren lauerten, die man nicht sehen konnte. Geheimnisvoll und zugleich wunderschön. So wie die Augen ihres Gegenübers. Verdammt! Sie starrte ihn immer noch an. Wie lange schon? „Ja, ich will“, sagte da der Mann mit tiefer Stimme und zog lasziv lächelnd eine Augenbraue hoch. „Ich weiß zwar noch nicht, was, aber ich könnte mir da so einiges vorstellen…!“ Er war also nicht nur gutaussehend, sondern auch ein freches, sexistisches Arschloch? Sandra nahm all ihre Willenskraft zusammen, räusperte sich und setzte neu an. „Möchten Sie eine Tüte?“, fragte sie erneut. „Ach, eine Tüte…!“ – „Ja, eine Tüte!!! Wollen Sie nun eine, oder nicht? Das war doch keine schwere Frage, oder?“ - „Natürlich“, erwiderte der Mann, mittlerweile grinsend, „was glauben Sie denn, wie ich das alles transportieren will?“ – „Macht zwanzig Cent extra“, blaffte Sandra zurück. So gut er aussah, so unsympathisch schien er zu sein. Wenn er motzen wollte, gerne. Sie war in der richtigen Stimmung dafür. „Zwanzig Cent extra? Wofür?“ – „Für die Tüte, Schlaukopf!“, entgegnete Sandra frech. Hoffentlich war Hank nicht in der Nähe. Höflichkeit gegenüber Kunden, auch den widerlichen, ging ihm über alles. Sandra schaffte das nicht immer. Wie jetzt. „Seit wann?“, fragte Mr Blue Eyes stirnrunzelnd. „Seit Montag. Schauen Sie!“, Sandra zeigte auf das Schild an der Kasse, auf dem stand „AN DIE UMWELT DENKEN – TÜTE SELBST MITBRINGEN – PLASTIKTÜTE 20 ct“ und konnte sich nicht verkneifen, schnippisch hinzuzufügen, „Wer lesen kann, ist klar im Vorteil!“. Der Mann schnaubte und reichte ihr fünfunddreißig Dollar. „Behalten Sie den Rest, für die Kaffeekasse oder so. Der Laden scheint es ja nötig zu haben“, brummte er, packte seine Einkäufe in die frisch erworbene Tüte und sah Sandra noch mal an. Seine dunkelblauen Augen funkelten angriffslustig, als er nachsetzte „Weiß der Himmel, ob ich hier noch mal zum Einkaufen herkomme. Aber falls…“, er zwinkerte ihr zu, „dann nur wegen des ausgesucht freundlichen und höflichen Personals.“ Damit drehte er sich um und ging lässig zum Ausgang. Sandra starrte ihm hinterher. Bei solchen Kunden hatte normalerweise sie das letzte Wort. Und hatte er tatsächlich die Frechheit besessen, ihr zuzuzwinkern? Unfassbar! Was für ein Arsch. Da halfen auch die meerblauen Augen und die –zugegeben- knackige Kehrseite nichts.

SANDRA: Mädels, wie läuft euer Tag? Ich habe gerade den Kotzbrocken des Jahres an der Kasse gehabt.

CARO: Vorlesung… Anatomie… gähn. Du Arme… Kotzbrocken gehören verboten, genau wie langweilige Professoren!

ANNABELL: Attraktiv?

CARO: Unsinn… alt und potthässlich!

ANNABELL: Nein, der Kotzbrocken!

SANDRA: Ganz hübsch, schöne Augen…

CARO: ???????

SANDRA: …aber Kotzbrocken bleibt Kotzbrocken. Würg!

ANNABELL: Glückwunsch. Schöne Kotzbrocken sind immerhin was fürs Auge.

Ja, Mr. Blue Eyes

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