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Kapitel 4 Ein Kommissar verschwindet
ОглавлениеUm uns ist die Stadt der kleinen Sünden, voller Hintergäßchen und Schlupfwinkel.
– Gilbert K. Chesterton –
Was hätte Sunja jetzt für eine Zigarette gegeben! Drei der Mieter hatte sie zusammen mit René befragt. Zu Frau Freyer war HP gegangen, weil die alte Dame schlecht zu Fuß war und sie ihr die Treppen nicht zumuten wollten. Es war frustrierend. Je länger sie sich mit den Hausbewohnern unterhielt, desto stärker wurde ihr Gefühl, diese hätten sich untereinander abgesprochen. Natürlich kannten sich alle gut. Und natürlich mussten sie Leibrecht gehasst haben, er bedrohte sie mit dem Verlust ihrer Wohnungen. Aber verheimlichten sie nicht etwas?
Caro Leisebrinck, die junge Frau in Leder, war ein besonders harter Brocken gewesen. Beim Eintreten hatte sie ihren Personalausweis wie einen nassen Lappen auf den Schreibtisch geknallt. Mit Bullen rede sie grundsätzlich nicht.
Auch sie ging nicht weiter auf das Ambiente ein. Schweigend saß sie da, mit verschränkten Armen und funkelndem Blick. Sunja hatte es Mühe gekostet, Ruhe zu bewahren. Nach einer Weile hatten die Fragen über ihren Vermieter Frau Leisebrinck aber doch in Rage gebracht.
„Glauben Sie, der Typ tut mir leid? Leute wie der, die aus dem Elend anderer Kapital schlagen? Solche müssen sich nicht wundern, wenn ihnen was passiert! So ein elender, stinkreicher Schwächling. Von uns war das aber keiner, wir sind schließlich nicht bescheuert … Wir haben die Hosen voll, klar! Wie der Großkotz Kaminski! Schmiedet Pläne mit Ratko! Die sind ja ganz dicke.“
„Mit wem?“, fragte Sunja.
„Dem Ältesten von der Zjenkovitch. Die beiden besetzen das hier alles und verteidigen uns. Angeblich! Und wenn sie voll sind, kannst du wegen denen die Bullen rufen! Weil sie bis früh um vier mit ihren Posaunen Krach machen. Ausgerechnet Gerd! Erst Feuer und Flamme, und plötzlich ist Schluss! So kennt man den deutschen Spießer! Und dann kommt der nächste Investor und kauft das Haus. Kann man ja nicht alle umbringen!“
„Interessant, Sie gehen also nicht von einem Unglücksfall aus?“
„Mir doch egal.“
„Ganz so egal wohl nicht. Sie sagten doch zu Herrn Lürssen, dass Ihr Vermieter verunglückt sei.“
„Wer behauptet das?“
„Herr Lürssen.“
„Wann soll ich ihm das denn erzählt haben?“
„Sagen Sie es mir.“
Das Mienenspiel der jungen Frau wechselte in Sekundenbruchteilen von Misstrauen zu Entschlossenheit. „Ich weiß, auf welcher Seite Sie stehen“, sagte sie. „Ich sag gar nichts.“
Während des Gesprächs hatte Caro Leisebrinck fortwährend an ihren Fingernägeln geknabbert. Vielleicht war sie doch nicht so cool, wie sie vorgab? Warum war sie so nervös? Jedenfalls hatten sie nichts Wesentliches zum Fall aus ihr herausbekommen. Die Frau, die laut Lürssen Leibrecht aufgesucht hatte, war ihr auch nicht aufgefallen.
Es war halb sieben. Eigentlich mussten sie jetzt mit Frau Zjenkovitch und ihren Söhnen weitermachen. Aber Sunja fühlte sich wie gerädert. Sie bat René, etwas zu essen zu besorgen und vor allem neuen Kaffee.
„Kannst du bei der Gelegenheit gleich Matthias anrufen, ob der schon was über diese Anisa herausgefunden hat? Hätte sich auch mal melden können.“
„Mach ich, Sunja. Meinst du, es gibt Verbrechen, die man auch als eine Art höhere Gerechtigkeit empfinden könnte?“
„Was?“
„Ach, ich mein nur, natürlich gibt es uns und die Justiz. Aber es mag doch eine Art Naturrecht geben. Ich meine, Leibrecht, dieser Typ … Ach, vergiss es.“
René ging hinaus und Sunja schüttelte irritiert den Kopf. Sie überflog die Notizen und überlegte sich die nächsten Fragen. Bei Familie Zjenkovitch würde es garantiert temperamentvoll zugehen. Bei dem Gedanken spürte sie sofort die Schmerzen im Knöchel. Vielleicht war doch etwas gebrochen?
Ihr Handy klingelte. Es war René.
„Du, Matthias ist verschwunden!“, rief er.
„Wie, verschwunden?“
„Ich erreich ihn weder auf dem Handy noch auf dem Diensttelefon. Der Pförtner sagt, er ist vor einer Stunde gegangen. Hab bei ihm zu Hause angerufen, seine Frau ist völlig aufgelöst. Sie versucht ihn seit dem Nachmittag anzurufen. Er sollte den großen Sohn aus der Kita abholen. Hat er auch, so halb sechs, sie hat mit der Erzieherin telefoniert. Aber die beiden sind bis jetzt nicht zu Hause! Und gemeldet hat er sich nicht bei ihr. Sie sagt, so was ist noch nie vorgekommen!“
„Scheiße.“
„Das kannst du laut sagen. Ines wollte gleich eine Vermisstenmeldung bei mir aufgeben, ich habe erst mal versucht, sie zu beruhigen, sie ist völlig fertig. Was mach ich denn jetzt? Soll ich das weiterleiten?“
„Warte mal. Vielleicht klärt sich das gleich auf. Ich spreche mit ihr und versuche, Matthias auf dem Diensthandy zu kriegen.“
Nachdenklich ging Sunja zum Fenster. Sie kannte Matthias lange genug, um zu wissen, dass er weder einfach verschwinden noch seinen Sohn jemals gefährden würde.
Verschwinden … Wie auf Knopfdruck tauchte das Bild vor ihr auf: die Hände ihres Vaters, der große Karton, den er ihr überreicht, die schöne rote Schleife. Er streicht ihr übers Haar, gratuliert ihr zum achten Geburtstag und gibt ihr einen Kuss. Er riecht nach Papa, sie mag, wie er riecht. Sie hört die Schritte im Flur, das Klappen der Wohnungstür …
Die Erinnerung hatte sich eingebrannt, sie konnte sie nicht loswerden.
Und was hieß das schon, dass sie Matthias kannte? Kannte man überhaupt jemanden? Ihre Mutter hatte damals auch nicht geahnt, dass der Vater von einem Tag auf den anderen abhauen würde. Und sie selbst schon gar nicht. Menschen taten mitunter die verrücktesten Dinge, wenn sie unter Druck gerieten.
War Matthias denn unter Druck? Garantiert. Seine Doppelrolle machte ihn fertig, jeder sah das. Er war ein ruhiger Typ, gab nicht an, und doch war er ein guter Ermittler. Wenn er an einem Fall dran war, wurde er zum Spürhund. In seiner Vaterrolle ging er aber ebenfalls auf. Er musste völlig zerrissen sein, das Gefühl haben, beiden Rollen nicht gerecht zu werden.
Sie biss sich auf die Lippen. Wie oft hatte sie in Matthias nur den Kollegen gesehen, der sich drücken wollte. Hatte sich geärgert, wenn er an seine Teilzeit erinnerte, auf seinen Feierabend pochte. Ein Vater, der sich kümmerte, dem seine Familie wichtig war …
Ihr Vater war weg, seit jenem Geburtstag. Wie lange suchte sie eigentlich schon nach ihm? Inzwischen war das Sammeln von Zeitungsausschnitten über Zirkusse und Zauberer eine Marotte von ihr geworden. Vor längerer Zeit hatte sie ein Bild in einer Zeitschrift gefunden und geglaubt, es sei ihr Vater. Da hatte die Erinnerung sie wohl genarrt, denn eine Fotografie von ihm besaß sie erst seit zwei Jahren. Eine einzige. Die Mutter hatte sie nach längeren Diskussionen herausgerückt. Sie zeigte einen schlanken jungen Mann mit Frack und Zylinder. Dunkle Augen, ein gezwirbeltes Bärtchen und ein verschmitztes Lächeln. Das Foto stand auf ihrem Nachttisch. Neben den vergilbten Briefen, die sie mittlerweile auswendig kannte. „Mein liebes, kleines Mädchen … Bald bin ich wieder zu Hause … Dein Papa …“
Warum verschwand jemand spurlos? Ließ seine Familie im Stich? Rasch nahm sie den Block mit ihren Notizen zur Stasiakte aus dem Rucksack. Die Kollegen ihres Vaters … Krahnsdorf und Pische. Sie loggte sich in die Polizeidatenbank ein und gab den ersten Namen ein.
Noch im Tippen hielt sie inne. Private Ermittlungen über die Datenbank waren unzulässig, außerdem war es jetzt wichtiger, herauszubekommen, wo Matthias war!
Sie steckte den Notizblock weg und wählte die Nummer seiner Frau. Ines Müller war nach einer Sekunde am Apparat, begann sofort zu weinen und hörte während des gesamten Gespräches nicht damit auf. Sie war schrecklich besorgt um Matthias. Im Hintergrund schrie der Einjährige.
Sunja versuchte sie zu beruhigen, merkte aber selbst, dass ihre Trostworte nichtssagend klangen.
Nein, Matthias würde seine Familie niemals verlassen, so wie ihr Vater es getan hatte. Da war Sunja sich sicher.
Sie habe gar keine Zeit, mit der Polizei zu sprechen, verkündete Biljanka Zjenkovitch. Um diese Uhrzeit, am Abend. Sie müsse sich schließlich um ihre Kinder kümmern. Die Polizei verhöre immer die Falschen in Deutschland. Als Ausländer sei man ja immer sofort dran, das kenne sie schon. Und überhaupt …
Sunja blätterte zerstreut in ihren Unterlagen, in Gedanken immer noch bei Matthias. Steckte etwas Größeres dahinter?
Frau Zjenkovitchs kräftiger Alt holte sie in die Gegenwart zurück.
„Manchmal wir haben keinen Strom oder kein Wasser! Oder die Fensterscheiben werden kaputtgeschlagen! Und er schickt Handwerker auf den Hof, wenn die Wäsche da hängt. Sie haben das gesehen. Der Dreck zieht in die Garten! Er macht Leben zu Hölle. Dabei haben wir viel Geld bezahlt für Vertrag! Ich hasse ihn! Nur Geld, Geld, Geld! Alle Deutschen sind so. Vorige Woche er hat Feuer gezündet, gegenüber, bestimmt. Gerd sollte sterben. Er will uns alle umbringen!“
„Kleinen Moment, Frau Zjenkovitch, Sie reden von Herrn Leibrecht?“
„Er ist schlechter Mensch!“
„Von dem Brand in Herrn Kaminskis Wohnung wurde uns schon berichtet. Und Sie behaupten nun, Herr Leibrecht hat dieses Feuer gelegt? Haben Sie das gesehen? Ihn dabei beobachtet?“
„Nicht gesehen. Er ist klug, passt auf. Aber ich weiß, er war es.“
„Woher wissen Sie das?“
„Er will, dass wir alle weg sind. Er macht alles, damit wir weg sind. Er braucht leeres Haus.“
Sunja atmete tief ein. „Wissen Sie genau, dass Herr Leibrecht das Feuer verursacht hat?“
„Ich weiß. Ich habe es gesehen.“
„Ich denke, Sie haben es nicht gesehen?“
„Doch.“
„Wann und wo?“
„In den Karten natürlich.“ Frau Zjenkovitch sah Sunja mit starrem Blick an. „Das denken Sie doch, oder? Wenn eine Roma vor Ihnen sitzt? Ich lege Karten oder werfe Bohnen und sehe, was die Menschen tun. Ich sehe ihnen ins Herz.“ Sie lachte bitter auf. „Erzählen Sie mir nicht, dass Sie keine Vorurteile haben.“
Sunja lächelte. Die Frau gefiel ihr.
„Also handelt es sich bei dem Vorwurf der Brandstiftung um eine Vermutung Ihrerseits?“, fragte sie.
„Ja. Aber ich traue es ihm zu. Dem traue ich noch ganz andere Sachen zu.“
„Und für welchen Vertrag haben Sie Geld bezahlt?“
„Nein, nein. Ich meinte nur: Alle wollen Geld. Für alles. Nicht für Vertrag.“
„Moment, Frau Zjenkovitch, Sie sagten, Sie hätten viel Geld bezahlt für einen Vertrag. Welchen Vertrag meinten Sie?“
„Mein Deutsch nicht gut, ich meine kein Vertrag. Ich habe nicht richtig gesprochen.“
Sunja betrachtete ihr Gegenüber. Innerlich zollte sie der Frau Respekt. Das war eine, die gelernt hatte, sich durchzuschlagen, so viel war klar. Und es war wie verhext. Auch Frau Zjenkovitch sah sich nicht ein einziges Mal in diesem Büro um, obwohl das Ambiente sie doch ohne Zweifel beeindrucken musste.
„Sind Sie schon einmal hier gewesen? In dem Raum?“, fragte sie.
„Nein.“
„Hier sieht es doch viel nobler aus als im Rest des Hauses. Das scheint Sie nicht zu wundern, oder?“
„Das ist doch die Wohnung zum Vorzeigen hier. Damit reiche Leute sie kaufen. Musterwohnung. Ist doch klar, dass die so aussieht.“
„Aha. Kommen wir zum Eigentlichen, Frau Zjenkovitch. Wir versuchen herauszufinden, wie Herr Leibrecht gestorben ist. Wo waren Sie zwischen elf und vierzehn Uhr dreißig?“
Die Serbin überlegte kurz. „Habe die Wohnung geputzt, Wäsche gewaschen, eingekauft … gebacken und gekocht für Mittag und Abendbrot. Die ganze Tag ich habe gearbeitet. Ich weiß aber nicht, wann genau ich was gemacht hab.“ Es folgte eine ausführliche Beschreibung ihrer mütterlichen Verpflichtungen, wobei sie betonte, dass sie auch Leander mit dem Kind helfe. Seine Babysachen waschen, zum Beispiel.
„War jemand bei Ihnen, als Sie sich heute um Ihren Haushalt gekümmert haben?“
Ihre sechs Söhne seien da gewesen, gab die Mieterin an. Immerzu.
Sunja notierte sich Namen und Alter der Söhne. „Müssen die jüngeren nicht zur Schule?“, fragte sie.
„Heute sie waren krank.“
„Alle vier?
„Zuerst war Mirko krank und noch Goran und Ivica und Moran. Hatten eine Erkältung. Alles angesteckt aus der Schule. Haben Sie Kinder?“
Sunja schüttelte den Kopf und erntete einen mitleidigen Blick. „Und Ihre beiden Ältesten, Ratko und Dragon? Waren die auch in der Wohnung?“
„Ja. Bis die Polizei kam. Meine großen Kinder kommen gerne zum Essen zu mir, ich kann gut kochen.“
„Haben Ihre Söhne Ratko oder Dragon das Haus in der Mittagszeit vielleicht verlassen?“
„Nein. Sie waren immer bei mir. Sie helfen mir viel. Spielen mit ihren Brüdern. Sind wirklich gute Kinder.“
Sunja spürte ihren schmerzenden Knöchel und verkniff sich einen Kommentar. „Frau Zjenkovitch, ist Ihnen in letzter Zeit oder heute irgendetwas aufgefallen, was mit dem Tod von Herrn Leibrecht in Verbindung stehen könnte? Haben Sie etwas Ungewöhnliches bemerkt? Jemanden auf seiner Terrasse gesehen, heute Mittag zum Beispiel? Oder gesehen, ob jemand in das linke Quergebäude ging?“
„Nein, aber ich muss jetzt gehen. Zu meine Kinder. Sie haben gesagt, eine halbe Stunde werde ich befragt, dann ich kann wieder gehen. – Ach, doch! Ich erinnere mich! Da war eine Frau. Gestern, nachmittags, war ich an der Mülltonne. Sie ist über den Hof zum anderen Haus gegangen.“
„Zum Aufgang zu Leibrechts Wohnung?“
„Ja.“
„Wann war das?“
„Ich weiß nicht genau. Nachmittags.“
„Da haben Sie sehr gut aufgepasst. Wie sah die Frau denn aus?“
„Dünn. Wie ein Stock. Bisschen alt. Hatte ein Kleid an, aber kein schönes Kleid, keine Blumen drauf. Und dunkle Haare. Ich habe mich nicht interessiert.“
Sunja war zufrieden. Sie würde ein Phantombild anfertigen lassen. Die jeweiligen Beschreibungen dieser ominösen Frau klangen nicht abgesprochen.
„Gut“, sagte sie. „Haben Sie Herrn Leibrecht heute vielleicht gesehen?“
„Ich? Nein.“
„Wann haben Sie ihn denn das letzte Mal gesehen?“
Die rundliche Frau kratzte sich am Kopf. „Weiß nicht genau. Vor einer Woche? Oder zwei? Ich habe mir nicht den Tag gemerkt.“
Auf die Frage, ob Professor Leibrecht Feinde gehabt habe, versicherte Frau Zjenkovitch nur, er habe so gelebt, dass er viele Feinde haben musste. Einer, der Menschen aus ihren Wohnungen wirft, mache sich keine Freunde. Aber einen konkreten Verdacht äußerte sie nicht. Auch zum Rollstuhl konnte sie keine Angaben machen, den habe sie hier noch nie gesehen und Herr Leibrecht habe keinen gebraucht.
Sunja bedankte sich für die Hilfe.
Sie wollte sich eben von der Hausbewohnerin verabschieden, als diese sich plötzlich zu ihr vorbeugte und raunte: „Na, Frau Kommissarin, soll ich nicht für Sie in die Karten gucken? Ich könnte den Mörder finden. Sie mir geben etwas vom Toten, Haare oder Fingernagel, und ich gucke in die Vergangenheit, was ist passiert. Und sage Ihnen, wie er gestorben ist.“ Sie lächelte geheimnisvoll. „Soll ich?“
Sunja lachte auf.
„Oh, vielen Dank, Frau Zjenkovitch. Ich habe verstanden. Nett von Ihnen, aber wir haben da so Vorschriften, wissen Sie? Eine Weissagung würde kein Staatsanwalt anerkennen, leider. Ich denke, wir unterhalten uns morgen noch einmal. Ist Ihnen vormittags recht? Gut. Und nun würde ich gern Ihre beiden Ältesten Ratko und Dragon sprechen. Könnten Sie die bitte zu uns heraufschicken?“
Ihr Gegenüber schaute bestürzt, um gleich darauf mit zuckersüßer Freundlichkeit auszurufen: „Meine Söhne haben nichts gemacht! Sie müssen mir glauben! Sie haben …“
„Ich möchte Ihre Söhne lediglich etwas fragen, Frau Zjenkovitch, und ich werde ganz freundlich zu ihnen sein. Ich befrage alle Mieter, machen Sie sich also keine Sorgen. Auf Wiedersehen.“
„Mir reicht’s für heute“, sagte Sunja zerknirscht zu René, als eine Stunde später der älteste der Zjenkovitch-Söhne den Raum verlassen hatte. Beide waren erstaunlich kooperativ gewesen. „Immer noch nichts von Matthias?“, fragte sie.
„Nichts.“ René biss sich auf die Lippen. „Das passt doch nicht zu dem, der haut doch nicht einfach ab! Ich hoffe, sie finden ihn bald!“
„Das hoffe ich auch. Der Chef weiß es noch nicht. Wann kommt er von der Konferenz zurück?“
Ihr Dienststellenleiter Heinz Böttcher war ein Ermittler der alten Schule, penibel, höflich, gewissenhaft. Er hatte Sunja seit dem ersten Tag im LKA zur Seite gestanden, vor sechzehn Jahren war das gewesen. Und später hatte er dafür gesorgt, dass die Stelle als Hauptkommissarin an sie ging. Auch sonst hatte er ihr immer den Rücken gestärkt. In einer Woche wurde er fünfundsechzig. Sie mochte gar nicht daran denken, wen sie dann wohl vor die Nase gesetzt bekam.
„Ich werde mit Matthias’ Frau in Verbindung bleiben. Außerdem müssen wir das Umfeld des Opfers recherchieren, bevor wir morgen am Fall weitermachen“, sagte Sunja. „Dann fahre ich also erst mal ins Büro. Obwohl man nachts in diesem Haus hier mal Mäuschen spielen müsste. Die stecken doch alle unter einer Decke, verdammt! Vielleicht haben sie es alle zusammen gemacht. Aber warum der Rollstuhl?“
„Wolln wir nicht doch das Angebot von Frau Zjenkovitch annehmen?“ René grinste. „Für einen Zwanni könnten wir schnell fertig sein. Wär doch mal was. Ich frag mich eh, was unsere komplizierte Vernehmungstechnik immer soll. Frau Zjenkovitch nennt uns den Mörder und – zack! Fall aufgeklärt. Wär ein tolles Geburtstagsgeschenk für den Chef!“
Sunja lächelte.
Zum fünften Mal wählte sie Matthias’ Handynummer. Er nahm nicht ab. Sie rief bei ihm zu Hause an. Ines Müller weinte und verfluchte den gesamten Polizeiapparat.
HP trat ein und sie berichtete ihm von Matthias’ Verschwinden. „Ich verstehe es nicht“, sagte sie. „Aber ich bleib dran. René, kannst du heute Abend bitte noch bei seiner Frau vorbeifahren? Sie ein bisschen beruhigen? Vielleicht hat sie irgendeine Idee, wo er stecken könnte. Vielleicht hatten sie Krach oder so. Frag sie auch nach Freunden, irgendwo muss er doch sein! Und du, HP, mailst mir bitte gleich das Protokoll der Befragung von Frau Freyer aus dem Parterre. Ich fahr ins Büro. Morgen um acht sehen wir uns zum Rapport. Ich hoffe nur, Matthias taucht vorher wieder auf! Kann mich einer von euch beiden ein Stück mitnehmen?“
„Selbstverständlich, ich warte unten auf dich!“, sagte HP. Er begutachtete etwas an seinem Ärmel.
Heute trug er ein lindgrünes Seidenhemd mit weißer Fliege, dazu eine weiße Jeans. In feinster Qualität, wie immer. Sunja sah ihm nach. Er musste Unsummen für seine Klamotten ausgeben. Sogar ein Fach mit Wechselhemden hatte er im Büroschrank, für den Fall, dass sich mal ein Fleck auf sein Hemd verirrte. Selten hatte sie einen so eitlen Menschen erlebt.
Sie verschloss Leibrechts Büro, versiegelte die Tür, humpelte die Treppe hinab und vorbei an den Mülltonnen in Richtung Auto.
Es war kurz vor halb neun, die Dämmerung senkte sich über Berlin.
Auf dem Hof hatte Sunja plötzlich das Gefühl, als würde sie beobachtet. Sie blieb stehen und drehte sich um.
Aber da war niemand.
Sie ließ ihren Blick über die Fenster des Hauses gleiten. Nichts.
Langsam öffnete sie HPs Autotür und schob sich auf den Rücksitz.