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Kapitel 5 Salto mortale

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Zum Reichtum führen viele Wege, die meisten von ihnen sind schmutzig.

– Peter Rosegger –

Die Altenpflegerin erschien wie gewöhnlich um halb sechs, schaltete das Neondeckenlicht ein und zog mit einem Ruck die Übergardinen beiseite. Der Tag begann früh für Rosel Marthaler.

„Morgen, Rosel! Zeit zum Aufstehen!“, dröhnte die Stimme der Pflegerin durch den Raum. „Wir müssen uns waschen und fertig machen. Das Frühstück steht vor der Tür!“

Rosel umklammerte die Zipfel des Federbetts, aber wie jeden Morgen gewann die Schwester und zog ihr die Decke weg.

„Kalt!“, beschwerte sich Rosel.

„Immer das gleiche Theater!“, schimpfte die Schwester. „Von mir aus können wir morgen das Waschen auch lassen, aber heute kommt Besuch. Da brauchen Sie gar nicht den Kopf zu schütteln. Ihr Vormund ist so ein netter Herr. Der bringt Ihnen doch jeden Monat Pralinen. Weinbrandbohnen, die mögen Sie doch so gern.“

Die Schwester tätschelte ihr die Wange.

Fünfzehn Minuten später saß die alte Dame an ihrem kleinen Tischchen beim Frühstück.

„Guten Morgen, Rosel“, hörte sie eine männliche Stimme. Neben ihr stand ein pausbäckiger Mann um die vierzig. „Na, wieder gut zu Fuß inzwischen? Kennen Sie mich noch? Ich bin der Herr Berger.“

Sie schluckte.

„Aber, aber“, schalt der Mann, „nun schauen Sie nicht so! Sie haben es doch gut, nicht wahr? Man kümmert sich um Sie, Sie haben ein schönes Zimmer, ganz für sich. Das haben nicht alle hier im Haus, obwohl dies das beste Pflegeheim in Brandenburg ist. Ich musste mich da ganz schön für Sie einsetzen.“

Rosel stierte auf ihren Teller.

Herr Berger setzte sich auf ihr Bett. „Und den schönen Rollstuhl hab ich Ihnen doch auch geschenkt. Na? Erinnern Sie sich nicht? Natürlich erinnern Sie sich! Na, sehen Sie. So, und nun können Sie auch etwas für mich tun. Ich tu etwas für Sie und Sie tun etwas für mich. So einfach läuft das bei uns beiden, nicht wahr?“

Er holte einen Stapel Papiere aus seiner Aktentasche und breitete ihn auf dem Tisch aus. Dann nahm er ihr das Frühstücksmesser aus der Hand und schob ihr einen Kugelschreiber zwischen Daumen und Zeigefinger.

„Hier müssen Sie Ihren Namen schreiben, sehen Sie? Da, wo ich das Kreuzchen gemacht hab … M-a-r-t-h-a-l-e-r … ja, genau so … na geht doch … haben wir doch oft genug geübt … und jetzt noch da … sehr schön.“

Berger blätterte die Seiten um.

Rosel begann zu schwitzen.

Auf der letzten Seite führte er ihr die Hand. Er packte fest zu.

„Au“, hauchte sie.

Endlich ließ er los.

Sie rieb sich die roten Finger.

„Das war’s.“ Er lächelte wieder. „Und hier die Belohnung, schöne Pralinen.“

Er legte eine Schachtel mit Weinbrandbohnen neben den Frühstücksteller.

„Na dann, bis zum nächsten Monat. Auf Wiedersehen.“ Er kniff sie in die Wange.

Rosel Marthaler versuchte, den Kopf wegzuziehen, was ihr nur teilweise gelang.

Dann fiel die Tür hinter ihm ins Schloss. Sie atmete auf.

Eine zweite Laufrunde hatte Sunja sich noch vorgenommen. Der Knöchel hatte sich glücklicherweise wieder beruhigt. Gab es Menschen, denen so etwas Spaß machte? Zu dieser frühen Stunde? Dort saß jemand auf der Bank und rauchte. Geradezu eine Provokation. Aber sie hatte sich überwunden, sie brauchte das nicht mehr, jedenfalls wollte sie ganz fest daran glauben …

Sunjas Gedanken rissen ab, jäher Schmerz jagte durch ihren Fuß. Sie schlug lang hin und konnte sich gerade noch mit den Händen abfangen. „Verdammt!“ Die Handflächen brannten, sie befühlte den schmerzenden Knöchel. Wieder der gleiche!

Langsam kam sie hoch, ihr war schlecht. Aber wie war sie gestolpert, hier war doch alles eben? Vorsichtig rutschte sie ein Stück zurück und untersuchte den Weg.

Die Angelsehne war etwa zehn Zentimeter über dem Boden gespannt, sie war kräftig und gleichzeitig unscheinbar genug, um im schnellen Laufen übersehen zu werden. Welche Idioten ließen sich so was einfallen?

Sunja zog das Smartphone hervor. Wie ging das mit dem Fotografieren? Suchend tippte sie umher, irgendwann ertönte das Verschlussgeräusch einer alten Kamera. Sie hoffte, dass das Bild nun im Kasten war.

Im Anschluss daran versuchte sie, die Gefahrenquelle zu entfernen. Es dauerte eine Weile, bis sie die Knoten der Sehne an den beiden Bäumen aufbekam. Endlich hatte sie das Corpus Delicti in ihrer Jackentasche verstaut und humpelte schimpfend in Richtung Parkausgang.

Acht Uhr. Ihr Fuß pochte. Warum musste die Besprechung auch so früh sein! Und sie selbst hatte sie angesetzt.

„Idioten“, stöhnte Sunja.

„Hey, hey, wie wär’s erst mal mit ‚Guten Morgen‘?“ HP stürmte ins Büro, in hautengen blauen Cordhosen und blitzblank geputzten Schuhen. Er warf ein Bäckertütchen vor ihr auf den Schreibtisch, aus dem es verführerisch nach frischen Croissants duftete.

„HP. Wieso beziehst du eigentlich immer alles auf dich? Also: Matthias und Sohn waren die ganze Nacht nicht zu Hause, keine Spur von ihnen. Seine Frau dreht bald durch. Das hat uns gerade noch gefehlt, dass ihm was zugestoßen ist.“

„Gestern Abend bei Ines“, sagte René, „das hat nichts gebracht. Die hat absolut keine Ahnung, wo er stecken könnte. Hatte schon alle gefragt, Freunde, Bekannte, Familie, nichts. Gemeinsam haben wir dann noch die Krankenhäuser gecheckt. Es war auch nichts zwischen ihnen, kein Streit, sagt sie. Sie meint, er ist manchmal genervt wegen der vielen Dienste, leidet darunter, dass er zu wenig Zeit mit seiner Familie verbringen kann, aber sonst …“

„Ich mach mir jetzt wirklich Sorgen. Er ist seit mehr als zwölf Stunden verschwunden. Wo ist er bloß? Und dann noch mit dem Jungen, der muss doch nach Hause … Also Fahndung. Gibst du die raus, René?“

Ihr Kollege nickte und verließ das Büro.

Sie wandte sich an HP. „Und, hast du den Bericht?“

HP klappte seinen Laptop auf. „Befragung Gerda Freyer. Zweiundachtzig, Witwe. Der Ehemann war Diplomat beim Berliner Auswärtigen Amt. Frau Freyer wohnt seit 1972 in der Köpenicker Straße. Als der Mann starb, zog sie vom dritten Stock ins Parterre. Vor zehn Jahren. Die Wohnung ist ziemlich dunkel, meterweise Bücherregale an den Wänden. Die alte Dame sieht allerdings selbst bei strahlendem Sonnenschein so gut wie nichts mehr. Hat eine dicke Brille zum Lesen, das macht sie praktisch auch den ganzen Tag. Sie leiht auch den anderen Mietern Bücher aus. Frau Freyer war nicht bei der Mieterversammlung und hat auch nichts gesehen. Hat in der Zeit ihren Mittagsschlaf gehalten. Sagt sie. Erst durch das Geschrei im Garten hat sie gemerkt, dass etwas passiert ist.“

„Wie lange hat sie denn geschlafen? Der Rollstuhl ist aus großer Höhe auf den Boden geprallt. Das muss doch laut gewesen sein.“

HP zuckte mit den Schultern. „Anscheinend schläft sie tief. Außerdem darfst du die Bauarbeiter mit ihrem Krach nicht vergessen. Die sind seit Wochen zugange, Lärm ist inzwischen normal in diesem Haus. Frau Freyer kann sich kaum noch daran erinnern, wie das früher ohne war.“

Sunja seufzte. So kamen sie nicht weiter. Hoffentlich kam bald die Auswertung der Kriminaltechniker.

„Ich hole erst mal die Ergebnisse der Obduktion aus der Gerichtsmedizin“, sagte sie.

René kam zurück. Er war blass. „Ines war schon unten“, begann er. „Hat gerade eine Vermisstenanzeige aufgegeben. Die Kollegen haben die Daten also. Ich hab jetzt noch sein Bild und das von Felix an alle Streifen geschickt. Fahndung läuft. Ines tut mir furchtbar leid … Warum passiert das gerade denen? Gibt es so was wie Schicksal?“

Sunja nickte irritiert. In letzter Zeit schien jedes größere Ereignis bei René eine Sinnfrage auszulösen. „Vielleicht …“, sagte sie zögernd. „Mir tun die zwei auch leid, aber wir müssen versuchen, unseren Job zu machen. Das Wichtigste ist jetzt, dass wir Matthias und Felix finden.“

In der Köpenicker Straße stand Gabriele Stadlmayer vor der ehemaligen Heeresbäckerei des Königlich Preußischen Proviantamtes und strahlte. Ein wunderschönes Gebäude, genau wie sie es gehofft hatte. Der Kampf hatte sich gelohnt. Vorerst brauchte man nur die Klinkerfassade zu reinigen, die Fenster zu renovieren und einige Pflanzungen anzulegen. Besonders gefiel ihr das Ensemble von Speicher, großem und kleinem Beamtenwohnhaus und Wirtschaftshaus.

Das roch nach Geld. Noch war das hier eine hässliche Durchfahrtstraße mit viel Industrie, kleinen Betrieben und meist alten Wohnhäusern. Laut und ein bisschen heruntergekommen. Aber das würde sich bald ändern. Die ersten Häuser waren bereits saniert. Dann würden die Cafés kommen, ein paar edle Klamottenläden, ein Biomarkt. In zehn Jahren würde das hier eine attraktive Touristenmeile sein. Das Wichtigste bei einer Immobilie war immer die Lage, und die war hier erstklassig. Wenige Fahrminuten bis in die City, an der Spree, unverbaubarer Blick auf die neue, alte Mitte der Hauptstadt. Dieses Objekt würde nach den Umbaumaßnahmen eine passable Rendite abwerfen.

Sie ging durch die Einfahrt. In der Mitte des Hofes gammelte ein ehemaliges Pförtnerhäuschen mit zugenagelten Fenstern vor sich hin. Das musste natürlich weg. Am größten Gebäude direkt am Wasser prangte die Aufschrift Behala-Viktoriaspeicher. Dort war sogar noch die verrostete Abfüllanlage samt einem gigantischen Drehkran für die Schiffe zu sehen.

Vor ihrem inneren Auge tauchten bereits die Fahrzeuge der Abrissfirmen auf. Da drüben musste man Tabula rasa machen, klar. Und auf dem Gelände die ganzen Zwischennutzer rauskriegen, die sich eingenistet hatten, Betriebe, Kleinunternehmer und Künstler. Aber das war nur eine Frage der Organisation.

Genau wie das Problem mit der Tiefgarage. Die alten Keller standen unter Denkmalschutz. Gewölbe hatten die, wie in Berliner Altbauten aus dem vorletzten Jahrhundert üblich. Aber nichts, was sich nicht „unter Freunden“ regeln ließe, hatte der Makler erklärt. Sie würde also ihr Budget für Sonderausgaben noch mal aufstocken müssen. Egal.

Gabriele Stadlmayer ging die hohe Betonkante an der Spree entlang und schaute hinüber. Auf der anderen Uferseite hatte jemand ein rotes Riesengraffiti auf die Mauerreste gesprüht: Kiez statt Profitwahn! Spreeufer für alle!

Sie lächelte, ihre Laune war blendend. Vielleicht sollte sie eins der Apartments für sich selbst reservieren? Leibrecht hatte das gemacht, dessen Loft war ganz in der Nähe. Herrlicher Blick von dort über die Spree. Offiziell war der Depp ihr Geschäftspartner, das glaubte er wahrscheinlich auch. Sie hatte ihm ein paar kleinere Sachen zugeschustert, um ihn sich gewogen zu machen. Schließlich wusste sie, wie man das Vertrauen einflussreicher Leute gewann. Aber vor allem nutzte sie ihn als Informationsquelle. Und als solche war er Gold wert. Gestern hatte sie ihn besucht und sich seine Musterwohnung angesehen. Geschmack hatte er ja. Dass es allerdings immer noch Ärger mit den Altmietern gab, zeigte seine Unfähigkeit. Kein Wunder, dass sie bei der Heeresbäckerei Siegerin geblieben war. Was sie wollte, bekam sie auch. Immer.

Sie streichelte ihre Hasenpfote. Leibrecht, der war abgehängt und fertig.

Das Klingeln des Smartphones unterbrach ihre Gedanken.

„Stadlmayer.“

„Berger. Ich hab die Unterschrift.“

„Sind Sie deppert? Sie sollen mich doch nicht anrufen! Und schon gar nicht auf meinem privaten Telefon. Da können wir es gleich an die Zeitung geben.“

„’tschuldigung. Aber wollten Sie nicht hören, ob es geklappt hat?“

Frau Stadlmayer holte tief Luft. „Wissen’s was, ich geh davon aus, dass so was klappt! Eine Unterschrift von einem alten Weiberl, das eh nicht mehr weiß, ob Tag ist oder Nacht, das kann doch nicht so schwer sein! Noch dazu, wenn man ihr Vormund ist.“

„Jetzt regen Sie sich doch nicht so auf, Frau Stadlmayer. Ich dachte, Sie freuen sich, weil Sie die Immobilie …“

„Ich reg mich aber auf! Sie Lackel, Sie!“ Wutentbrannt versenkte sie das Smartphone in ihrer Wattejacke. Wenn man nicht alles selber machte! Sie nahm die Sonnenbrille vom Kopf, mit der sie die braunen Locken zurückgehalten hatte, und setzte sie sich auf die Nase. Vor sich hin schimpfend, stapfte sie zum Mietwagen. Berger war ein blöder Socken, aber sie brauchte ihn. Ihn und das alte Weib. Noch.

Am Ende des Ganges zur Gerichtsmedizin erklang Ole Hansens tiefer Bass. So wie es sich anhörte, stritt er mit jemandem – der Staatsanwältin? War die jetzt schon hier? Sunja hatte Sybille März erst am späten Nachmittag über die Ermittlungen unterrichten wollen. Sie hatte gehofft, bis dahin etwas weiter zu sein.

Ihr Verhältnis zu Frau März war schwierig, obwohl sie nun schon über ein Jahr zusammenarbeiteten. Zwei Alphatiere, hatte HP gesagt, zwei Dickköpfe, hatte René ergänzt. Quatsch, war Sunjas Antwort gewesen, sie vertraut mir einfach nicht. Die vertraut niemandem, nicht mal sich selbst.

Hoffentlich würde die März sie nicht gleich mit einer Frage nach Matthias überfallen.

Sunja betrat den Sektionsraum.

„Und, wo ist er?“

Die Lippen der Staatsanwältin verengten sich zu einem Strich. Ihr kirschrotes Kostüm und die weiße Spitzenbluse ließen Sunja an einen Empfang beim Polizeipräsidenten denken. Dabei musste die Frau mit ihren Anfang dreißig vor ein paar Jahren noch für das Staatsexamen gebüffelt haben.

„Wir suchen mit Hochdruck“, sagte sie knapp. „Zusammen mit der Vermisstenabteilung.“

„Soso, mit Hochdruck. Wenn das mal reicht. Sie wissen genau, dass ernsthafte Gefährdungen bei Entführungen mit jeder Stunde wahrscheinlicher werden. Und der Fall? Leibrecht war kein Unbekannter. Der Senator für Stadtentwicklung hat sich schon erkundigt.“

Sunja nickte. „Das ist mir klar. Wenn ein Immobilieninvestor unter mysteriösen Umständen ums Leben kommt, ist in Berlin natürlich Großalarm.“

Sybille März zog zischend die Luft ein. „Sparen Sie sich den Zynismus, Frau Löwel. Das ist äußerst unprofessionell. Machen Sie einfach Ihren Job. Ich bin schon sehr gespannt auf Ihren Bericht heute Nachmittag.“ Damit drehte sie sich um und stöckelte hinaus.

Ole Hansen furchte die Stirn und schnupperte dem leichten Parfümduft hinterher. „Hab ich noch nie hier gesehen, die Dame. Nun denn. Wie genau willst du es wissen, Sunja? Ich will dich nicht langweilen.“

Sunja seufzte. Sie kannte und mochte Ole schon lange, er war ein Freund ihres Exmannes gewesen. Der langjährige Leiter der forensischen Pathologie war eine Koryphäe auf seinem Gebiet. Doch wenn in dem Siebenundvierzigjährigen der Wissenschaftler durchkam und er am Sektionstisch dozierte, wurde sie schnell nervös. Geduld war ohnehin nicht ihre Stärke.

„Gib mir eine Kurzfassung plus deiner Einschätzungen. Und alles, was nicht im Bericht steht. Ich frag dann schon.“

„Also der Schnelldurchlauf, wie immer“, sagte Ole lakonisch. „Komm, wir gehen nach nebenan.“ Er nahm den Mundschutz ab und strich langsam über seine verstrubbelten blonden Haare.

Wenig später saßen beide über ein Blatt gebeugt, auf dem der Pathologe die Flugkurve des fallenden Rollstuhls aufgezeichnet hatte.

„Der Rollstuhl hat sich beim Sturz einmal in der Luft gedreht“, erläuterte Hansen. „Das Opfer ist dann schräg auf dem Rücken gelandet, nach hinten gekippt und hat einen Genickbruch erlitten. Natürlich sind durch den Aufprall noch eine Vielzahl anderer Knochenbrüche entstanden, Beckenbruch zum Beispiel, aber die Todesursache war Genickbruch.“

„Er hat also noch gelebt, als er hinabgestürzt wurde?“

„Wahrscheinlich. Ich hab mehrere Strommarken an seinem Hals gefunden, wahrscheinlich von einem Elektroschocker. Muss ich mir noch genauer ansehen. Daran ist er aber nicht gestorben. Nach dem Schock konnte ihn eine kräftige Person vermutlich in den Rollstuhl hieven.“

„Auch eine durchtrainierte Frau?“

„Schon möglich, die hatte dann aber zu tun. Das Opfer wog um die neunzig Kilo. Wahrscheinlich wurde er in seinem Büro überwältigt, dann da reingesetzt und fixiert.“

„Was noch?“

Hansen zögerte. „Sunja, warum mach ich das nur immer? Morgen kannst du den Bericht lesen und …“

„Bitte, Ole. Wir brauchen einen Ansatz.“

„Also, die toxikologische Untersuchung war negativ. Für die üblichen Betäubungsmittel, Nikotin und Alkohol. Drogen auch keine. Der Mann nahm aber regelmäßig ein Mittel gegen Bluthochdruck. Keine hohe Dosierung, höchstens achtzig Milligramm pro Tag. Und er hatte ein Magengeschwür. Zuletzt hat er offenbar Sushi gegessen, durch den Verlauf des Verdauungsprozesses lässt sich der Todeszeitpunkt daher gut eingrenzen, auf die Zeit zwischen zwölf und dreizehn Uhr. Hilft dir das weiter?“

„In jedem Fall. Damit haben zwei Leute aus der Mietergemeinschaft ein Alibi, weil sie genau um die Zeit ein Treffen hatten. Ein dritter teilweise … Hast du sonst noch was?“

„Eine Auffälligkeit. Die Unterarme des Toten waren mit Klebeband auf den Armlehnen des Rollstuhls fixiert. Genau wie die Füße an den Fußrasten. Und zwar mit Gaffer Tape. Das wird eher von Filmtechnikern oder Musikern verwendet. Stabil, stark klebend, von Hand reißbar, besteht aus faserverstärktem Kunststoff. Kann man rückstandslos entfernen. Fünf Zentimeter breit.“

„Gaffer Tape heißt das?“

„Ich will den Kollegen im Labor nicht vorgreifen, aber das kenn ich aus meiner Studienzeit. Hab da in einer Band gespielt.“ Auf Oles Gesicht tauchte ein kleines Lächeln auf.

„Du? Donnerwetter.“ Sunja stellte sich Ole vor, wie er als langhaariger Jugendlicher auf ein Schlagzeug eindrosch.

„Grüß mal deine Frau von mir. Und die Mädels“, sagte sie.

„Komm einfach vorbei, wir freuen uns“, gab Ole zurück.

Sunja stieß die schwere Eingangstür des gerichtsmedizinischen Instituts auf. Gaffer Tape, wenn das keine Spur war. In der Köpenicker Straße gab es jemanden, der dieses Klebeband mit größter Wahrscheinlichkeit verwendete: den Musiker Gerd Kaminski.

Im Haifischbecken

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