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Kapitel 1 Absturz

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Wohnraum ist umbauter Raum, der tatsächlich und rechtlich zur dauernden Wohnnutzung geeignet und bestimmt ist.

– § 17 Wohnraumförderungsgesetz –

Hauptkommissarin Sunja Löwel lief auf der Stelle, ihre braunen Locken federten im Rhythmus der Schritte. Zwei Meter entfernt rauschte die Autolawine um den Bersarinplatz. Ein Nieselregen hatte eingesetzt und Sunja fluchte. Kein Wetter für sportliche Aktivitäten. Viel zu kalt, dabei war Mai!

Vor vierzehn Tagen hatte sie mit dem Rauchen aufgehört und dafür zu joggen begonnen. Fit genug war sie und für ihre Einssechzig ziemlich schlank. Dann würde sie auch nicht dauernd an eine Zigarette denken. Hatte sie gehofft. Aber von wegen. Die Gedanken kreisten unaufhörlich. Um eine Camel ohne Filter. Und um gestern. Den Albtraum in dieser Stasi-Unterlagenbehörde. Der dazu geführt hatte, dass nun eine Flasche Merlot weniger in der Speisekammer stand.

Immer wieder ihr Vater! Wie konnte man sein Kind so im Stich lassen! Seit Jahren suchte sie ihn. Die Zeit lief ihr davon. Er musste sechsundsiebzig sein, falls er noch lebte.

Eine Lücke tat sich in der Autoschlange auf, Sunja wechselte auf die andere Seite der Petersburger Straße. Und weiter. Vorbei an den Blocks mit den Eidechsen an den Fassaden, am Bio-Supermarkt, dann links, durch die Mühsamstraße. Die letzten beiden Baulücken waren nun geschlossen. Häuser ohne Gesicht, aus Stahl und Glas … Sunja war froh, dass sie in einem Altbau aus dem 19. Jahrhundert wohnte.

Hier in den Nebenstraßen war die Luft besser. Die Richard-Sorge-Straße mit dem Namen eines sowjetischen Spions. Alles saniert, Altbauten wie aus einer Hochglanzbroschüre: rosa, hellgrün, zitronengelb. Das Areal der alten Aktienbrauerei Friedrichshöhe, bis 1990 Teil des VEB-Getränkekombinats Berlin. Zwei Drittel des Gebäudes waren abgerissen worden, jetzt gab es hier großzügige, lichtdurchflutete Wohnungen. Aber Mieten von bis zu zweitausend Euro im Monat. Wer die wohl bezahlen konnte?

Die Ampel an der Landsberger Allee schaltete auf Rot. Sunja stoppte. Eine Straßenbahn rauschte knapp vor ihr vorbei. Da drüben lag schon der Park. Eine junge Frau überholte sie mit elastischen Schritten. Pulsuhr, Schweißband und Laufschuhe in Pink. Immer langsam, mit sechsundvierzig durfte man es schonender angehen.

Hier im Stadtbezirk Friedrichshain war Sunja zu DDR-Zeiten aufgewachsen. Doch die Gegend hatte sich verändert. Vom verschlafenen Ostberliner Künstlerbezirk zur schrägen Punk- und Hausbesetzergegend der Nachwendezeit. Und dann zur hippen Kneipen- und Bioszene, die Leute mit Geld von überallher anlockte.

Sie hechelte am Vivantes-Klinikum vorüber, dessen Fassade in knalligen Tönen leuchtete. Sanierungsmäßig war dieser Stadtbezirk so gut wie abgegrast. Die Investoren schlugen sich nun woanders die Bäuche voll.

Genüsslich strich die Maklerin Gabriele Stadlmayer über das Deckblatt aus Hochglanzpapier, öffnete das dünne Heft, schnupperte kurz am frisch bedruckten Papier und begann wahllos zu lesen:

Köpenicker Straße 16/17 : Ehemalige Heeresbäckerei des Königlich Preußischen Proviantamtes. Erbaut 1805, umbaute Fläche 9300 m². Sechs Stockwerke, Sichtmauerwerk aus gelblichem Klinker. Innen gusseiserne Stützen und preußische Kappendecken. Office- und Gewerbelofts möglich. Kaufpreis 14.000.000 €

Schlesische Straße 174–180 : Neuer Spreespeicher. Erbaut 1900. Grundstück rund 10.000 m². Zuletzt als Flohmarkt genutzt. Nutzung für Officelofts, kleinteiligen Einzelhandel und Gastronomie. Baurecht vorhanden. Kaufpreis 16.000.000 €

Köpenicker Straße 20a–29 : Viktoria-Speicher, erbaut 1910, moderne Industriearchitektur. Umbaute Fläche ca. 15.000 m². Grundstück von rund 4,2 Hektar. Wird von der Schillingbrücke im Westen, der Spree im Norden, der ehem. Velvet-Fabrik im Osten und der Köpenicker Straße im Süden begrenzt. Denkmalschutz. Nutzung für Geschäfte und Kultureinrichtungen. Kaufpreis 25.000.000 €

Gabriele Stadlmayer legte das Exposé beiseite und schaute auf das Hochzeitsbild neben dem Bildschirm. Sanft streichelte sie sich mit der Hasenpfote über ihren Unterarm. Irgendwann in vergangenen Jugendtagen hatte Alois ihr dieses Andenken als Erinnerung an seinen ersten erlegten Hasen im Lechgrießer Wald mitgebracht. Damals, als sie noch eine fesche Maid im Dirndl gewesen war, der Schwarm manches Buben in Garmisch-Partenkirchen. Wobei – wenn sie es genau überlegte, hatte sie nur zweimal ein Dirndl getragen, bei der Einschulung und bei ihrer Hochzeit. Und die Burschen … na ja. Eigentlich gab es da nur den Vojtek, und das hatte der Vater schnell unterbunden. Einen Polacken bringst du mir nicht nach Haus, Mädel.

Sie blickte ihre Hand an. Faltig. An den Händen einer Frau erkennt man das Alter, hatte die Mutter immer gesagt.

Wann war sie überhaupt jung gewesen? Sicher 1988, bei der Trauung mit dem zehn Jahre älteren Alois, Sohn des Bürgermeisters und Kugellagerfabrikanten. Aber auch noch bei der Geburt von Alexander oder bei der von Sabine? Bestimmt nicht mehr, als sie das Kindermädchen engagierten und sie täglich zwölf Stunden am Stück arbeitete.

So ein Familienbetrieb ist kein Zuckerschlecken. Wenn du als Weib einem Baubetrieb vorstehen willst, musst du Haare auf den Zähnen haben. Auf Bayerisch rumschreien, auf Hochdeutsch verhandeln können und auch mal einen heben mit den Kerlen. Lernen, die Drähte zu ziehen. Sie hatte es gelernt. Wie froh war sie, dass sie nicht mehr das dumme Ding von damals war. Mitglied im bayerischen Unternehmerverband, dem Rotary-Club und dem Vorstand der örtlichen Bauunternehmer, das wurde man nicht, weil man Hasen streichelte. Dennoch, diese weiche Pfote rührte sie immer wieder. Sie würde ihr weiterhin Glück bringen.

Gabriele riss sich von den Erinnerungen los und rief nach ihrem Sohn, der sofort aus dem Nachbarzimmer herbeikam.

„Alex, der Termin mit doam Immobilien-Professor, diesem Leibrecht, moang um zehne. Do gehst hi, gell? I hob ma de Objekte gestern olle ogschaut, der hod mi rumgfahrn …“

Hier im Büro sprach sie Mundart. Wer das nicht verstand, sollte sich einen Dolmetscher holen!

Sie würden am Spreeufer im großen Maßstab investieren, bei den Grundstückspreisen konnte man nichts verkehrt machen. Zum Beispiel das Gebäude der Heeresbäckerei, ein wundervoller alter Industriebau. Büros und Wohnungen da einzubauen, bedeutete einen vergleichsweise geringen Aufwand. Und in ein paar Jahren gingen die Mieten durch die Decke. Gerade für Bürohengste und Sesselfurzer war das Umfeld reizvoll. Zur Oberbaumbrücke ein Katzensprung, nach Feierabend lag die Partymeile vor der Haustür.

Eine Nase für Geschäfte hatte sie immer noch! Hauptsache, der Bausenat machte mit, Bürgerinitiativen und Mieterverbände sollten protestieren, solange sie wollten. So was lief sich irgendwann tot. Ein bisschen Geduld musste man freilich haben. Berlin. Der Zukunftsmarkt, im internationalen Vergleich, und die Firma Stadlmayer spielte bald ganz vorn mit! Gut, dass es nun auch im Senat einen Verbündeten gab, ab übermorgen konnten sie …

„Geh, Alex, schau da des Exposé o. Moang is ja a scho der Dreizehnte. I schreib da mei Frogn auf, mia bleim telefonisch in Kontakt und dann steing ma ins Bietn ei! Du muasst da ois dazua drauf schaffa bis dahin, und dann schlong ma zua.“

Gabriele hing am Gesicht ihres Ältesten. Der überflog die Unterlagen, lächelte und ging davon. Jammerschade, dachte sie, der Junge wäre der geborene Geschäftsmann. Aber wenn er sein Jurastudium fertig hätte, wäre er fürs Unternehmen genauso viel wert. Wo unter diesem Aktenberg war nur das Smartphone? In den nächsten Monaten würden die Arbeitsstunden explodieren, dann mussten sie schnell sein. Das Beste war, dass durch die vorgeschobenen Kaufinteressenten und unterschiedlichen Konten der Name der Firma nirgends auftauchen würde, sie konnten riesige Flächen zu guten Preisen erwerben. Sie mussten bald mehr Büros anmieten, die kleine Wohnung hier im Lindencorso in Berlin-Mitte war ja nur ein Behelf. Sie fröstelte und wünschte sich nach Garmisch, da war jetzt richtig hochsommerliches Wetter. Nicht solcher Nieselregen wie hier. Sie mochte Berlin nicht, aber es war gut zum Geschäftemachen.

Caro Leisebrinck zog an einer Selbstgedrehten, die Mundwinkel angewidert nach unten verzerrt. „Glaubt hier immer noch jemand, dass wir mit Verhandlungen weiterkommen? Leidet ihr unter Alzheimer, oder was? Hä? War da was? Das abgedrehte Wasser in Gerds Wohnung, der ungeklärte Brand? Reicht das nicht? Diese Immobilienschweine stecken doch mit dem Senat unter einer Decke, und die Bullen gucken zu! Frau Freyer haben sie die Scheiben demoliert, drei Mal hat die schon von ihrem bisschen Rente den Glaser kommen lassen. Ganz zu schweigen von dem Dreck seit einem halben Jahr!“

In der leeren Parterrewohnung hatten die Mieter einen ausgedienten Tisch und ein Sammelsurium alter Stühle zusammengetragen. Wie von einem Kommandoposten aus blickte Caro auf ihre beiden Nachbarn herab. „Die Harte“ nannten die anderen Mieter sie heimlich. In Caros Augen verursachten Männer das meiste Elend auf der Welt, sie regierten mit Geld, Gewalt und Gesetzen und blieben dennoch verweichlichte Machos. Wenn sie mal einen Vertreter dieses Geschlechts abschleppte, achtete sie streng darauf, dass er am nächsten Morgen wieder verschwunden war. Ohnehin war sie selten zu Hause, seit sie ihr Studium der Politikwissenschaft an den Nagel gehängt und eine Anstellung im Frauenzentrum Rosa gefunden hatte. Caro drückte die Kippe aus, zog die Beine vom Stuhl und katapultierte sich in die Senkrechte.

Die Blicke der zwei Männer verfolgten die große, drahtige Frau in schwarzer Ledermontur, die unruhig vor ihnen auf und ab lief. Dann schaute Gerd wieder aus dem Fenster und Leander Lürssen auf das Baby vor sich im Tragetuch.

Lürssen war alleinerziehender Vater seiner vier Monate alten Tochter Isabella. Die Kleine schlief zwar gerade, aber er befürchtete, bei dem Krach könne sie jeden Moment aufwachen. Ängstlich schielte er zu der Wütenden hinüber und sagte leise: „Caro, ich versteh dich. Du bist enttäuscht, weil scheinbar alle klein beigeben. Das kann doch aber nicht heißen, dass wir jetzt zu ungesetzlichen Mitteln greifen. Wir haben viele Leute hinter uns. Die Zwangsräumung ist immerhin gescheitert, wegen der Sitzblockade. Das ist doch was. Und dieser Senatstyp, Hoegedorn, hat uns Unterstützung zugesagt.“

„Senat, Senat! Ich könnte kotzen! Willst du etwa auch den Leibrecht einladen, das fette Arschloch, oder ein paar nette Investoren? Du hast ein Kind! Wo willst du denn hin, wenn hier alles dichtgemacht wird?“ Caro knallte sich ihren Schlüsselbund auf den Oberschenkel. „Und du, Gerd? Meine Fresse, hast du dich endlich wieder eingekriegt? Ich hab übrigens neues Material für deine CD. Wollen wir das heut Abend machen?“ Sie starrte auf Kaminski, als brenne sie ein Loch in ihn. Der schwieg und blickte aus dem Fenster.

Seit zwei Jahren befand sich die Köpenicker Straße 9/10 in einer Art Kriegszustand. Der Vermieter hatte die Miete drastisch erhöht, woraufhin einige Bewohner sofort ausgezogen waren. Bei anderen hatte er wegen angeblichem Zahlungsverzug in kürzester Zeit eine Zwangsräumung durchgesetzt. Darauf hatte sich der Rest der Gemeinschaft zusammengeschlossen und einen Anwalt hinzugezogen. Von ihm erfuhren sie, dass das Haus schon an einen Investor verkauft worden war, einen gewissen Professor Leibrecht. Wenige Wochen später, bei einer ihrer ersten Versammlungen in der leeren Erdgeschosswohnung, war der neue Eigentümer bei ihnen erschienen. Hatte von sozialverträglichen Lösungen und einem moderaten Vorgehen gesprochen. Niemand hätte etwas zu befürchten, die Wohnqualität solle gesteigert werden. Zwei Männer mussten Caro damals zurückhalten, sonst hätte sie sich auf ihn gestürzt.

Allen war klar gewesen, dass man sie rausekeln wollte, und in der Folgezeit hatten sich diese Befürchtungen bestätigt. Leibrechts Verwalter machte ihnen das Leben zur Hölle, indem er die Fassade mit Gerüsten und dunklen Planen versah, das Wasser abstellte und mit Baumaschinen Dauerlärm erzeugte. Der Typ war kriminell, darin waren sie sich einig. Ob er sogar für den Wohnungsbrand damals verantwortlich war, darüber gingen die Meinungen auseinander. Gerd Kaminski achtete wenig darauf, wohin er seine Kippen schmiss, gerade wenn er im Biertrichter einen getankt hatte.

Auch jetzt war die Zigarette in seiner Hand fast erloschen, er warf sie auf den Fußboden. Aus den Taschen der abgenutzten Lederjacke förderte er eine neue Schachtel zutage und drehte sie unschlüssig hin und her.

Als er sprach, klang seine Stimme rauchig und matt: „Wer weiß denn, ob das alles was nützt, Caro. Manchmal bin ich so runter, weißt du?“

„Klar! Vor allem, wenn Susi dich Schluffi nicht rangelassen hat. Revolution macht man doch nicht, indem man seine Wohnungstür auflässt, Gitarre spielt und Jerry-Cotton-Hefte liest! Und abends seine Biere zischt. Meine Fresse! Was hab ich eigentlich für Nachbarn?“

„Caro, jetzt lass Gerd in Ruhe!“, ließ sich Leander vernehmen, nun doch etwas lauter. Wie immer, wenn der zartgliedrige Mann erregt war, zerrte er an seinen Fingern. „Du weißt genau, dass wir dich unterstützen. Auch wenn wir selber grad so über die Runden kommen. Du hast noch deinen Kellnerinnen-Job und das Frauenzentrum. Aber versuch mal, mit dem bisschen Elterngeld zu leben und ein Kind davon großzuziehen. Und dann dauernd diese Ungewissheit hier und der Krach …“

Wie aufs Stichwort begann im Geschoss über ihnen eine elektrische Maschine zu kreischen. Das Baby schnaufte kurz und zuckte mit den Ärmchen. Dann schlief es wieder ein und Lürssen ging hinaus, um es in den Kinderwagen zu legen.

Nach einer Weile war die Diskussion an einem toten Punkt angelangt.

„Na, prima, ihr Helden! Eure Beiträge bauen einen so richtig auf“, hörte man Caro bellen. „Schon viertel nach zwei, von den anderen Nachtjacken niemand in Sicht. Ich mach den Abgang! Bin doch nicht …“

Sie brach jäh ab und blickte zur Tür, die mit einem dumpfen Knall aufgesprungen war.

Ein dunkelhäutiges Mädchen trat ein. Es hatte einen kleinen Jungen auf dem Arm und gestikulierte heftig. „Schnell, schnell! Ist jemand gefallen! Mit Fahrstuhl!“

Einen Moment herrschte Schweigen.

Caro löste sich als Erste aus der Erstarrung und fragte in einem veränderten, sanften Tonfall: „Fahrstuhl, Anisa? Welcher Fahrstuhl?“

„Stuhl mit Rädern! Mit Mann drin! Liegt unten!“

„Ein Rollstuhl?“

„Ja!“

„Wo denn, Anisa? Hier im Haus?“

Doch die Kleine machte nur ein Zeichen, ihr zu folgen. Sie gab Caro das Kind auf den Arm und hastete allen voran hinaus.

Hauptkommissarin Löwel atmete heftig. Den Volkspark Friedrichshain hatte sie erreicht. Erst mal würde sie bis zum Café Schönbrunn laufen. Joggen sollte angeblich entspannen, bisher merkte sie nichts davon. Jetzt ein Espresso im Cafégarten. Eine Zigarette dazu … Nein, Schluss! Sie setzte sich in Bewegung. Der Kies unter ihren Füßen knirschte rhythmisch.

Ihre Mutter fiel ihr ein, sofort bekam sie schlechte Laune. Sie sahen sich selten. Angesichts eines so depressiven Gegenübers hatte Sunja das Gefühl zu implodieren. Vor zwei Jahren, mitten in einem Streit, hatte die Mutter plötzlich Post vom Vater aus dem Schrank geholt. Ein Bündel von Briefen, das sie Sunja vorenthalten hatte. Seit fast vierzig Jahren lagen die da. Und sie hatte keine Ahnung gehabt! Das war der Gipfel. Türen knallend hatte sie die Wohnung ihrer Mutter verlassen.

Das vergilbte Briefpapier lieferte ihr nur schwache Hinweise. Er hatte damals als Elektriker gearbeitet, weil ihre Mutter das so gewollt hatte. Vorher war er Zauberer im Zirkus gewesen, sein Traumberuf. Er war immer noch oft bei seinen ehemaligen Zirkuskollegen gewesen, oft hatte er Sunja auch dahin mitgenommen, die sich gern daran erinnerte. Und als dann der Zauberer dort plötzlich erkrankte, 1977, kurz vor einer großen Tournee mit Gastspielen in Paris, war er unter falschem Namen eingesprungen. War gefahren am Tag ihres achten Geburtstags, zu dem er ihren Freundinnen eigentlich etwas hatte vorzaubern wollen. Er würde das nachholen, wenn er zurückkäme, so stand es in den Briefen. Aber er war nicht zurückgekommen. Warum nur, warum war er nicht gekommen? Sie hatte Datenbanken durchforstet, Meldeämter in Frankreich und Deutschland angefragt. Sogar im Sterberegister des Standesamtes nachgesehen. Ohne Ergebnis.

Zum dritten Mal lief Sunja an der Bank in der Sonne vorbei. Eine Alte mit einem kurzatmigen Mops. Wie sie lächelte und unablässig Stücke eines Brötchens in das Tier stopfte. Sunja spürte Mitleid mit beiden.

Ihre Mutter war wegen der Flucht des Vaters jahrelang unter Druck gesetzt worden und auf Stasi und Co. nicht gut zu sprechen. Schließlich hatte sie Sunjas Drängen aber nachgegeben und ihr erlaubt, die Akten in der Stasibehörde einzusehen. Sunja hatte den Antrag gestellt. Zwei Jahre Wartezeit. Gestern war sie da gewesen. Ekelhafte Spitzelprotokolle, nach der „Republikflucht“ des Vaters hatte man die Familie systematisch überwacht. Zwei Namen tauchten öfter auf: Krahnsdorf und Pische. Pische? War das nicht der Clown gewesen? Er war auch nach der Flucht des Vaters öfters bei ihnen gewesen, hatte sich nach ihm erkundigt. Auf jeden Fall waren die beiden Kollegen ihres Vaters, daran erinnerte sie sich, … Gesichter … Pferdegeruch. Als Kind war sie oft im Zirkus gewesen. Sie hatten viel gelacht und … Sie musste diese Männer ausfindig machen! Vielleicht wussten die, wo ihr Vater war.

Zum vierten Mal die Bank. Das Brötchen war vertilgt. Die alte Frau saß mit geschlossenen Augen da und hielt das Gesicht in die Sonne. Der Mops sah aus wie ein Denkmal. Gleich platzt er, dachte Sunja.

In der Stasibehörde fanden sich auch Briefe ihres Vaters an die Mutter. Acht Stück. Sie hatte sie mitgenommen, um sie der Mutter zu geben. Wie die gebrüllt hatte, Sunja solle sie endlich in Ruhe lassen damit! Sunja lächelte bei der Erinnerung daran. Schreiend war die Frau ihr tausendmal lieber.

Jetzt war die Bank leer. Eine Amsel jubilierte im Baum.

Sunja verzog das Gesicht. Seitenstiche. Die Gier nach einer Zigarette nahm ihr fast die Sinne. Bis zur Skaterbahn wollte sie noch. Sie hielt auf die nächste Parkbank zu und ließ sich darauf fallen. Das neue Smartphone war ihr immer noch ein Rätsel, sie holte es aus der Tasche und probierte einige Funktionen.

Das plötzliche Vibrieren versetzte ihr einen Adrenalinstoß. Um ein Haar hätte sie das Gerät fallen gelassen.

„Sunja, wo steckst du?“ Die erregte Stimme ihres Kollegen Hans-Peter Große, genannt HP, hallte über die Wiese. „Ein Toter! Köpenicker Straße 9, Kreuzberg. Scheinbar von einer Dachterrasse gestürzt. Kommst du?“

„Alles klar. Ich bin im Volkspark Friedrichshain, Ausgang Danziger. Schickst du mir einen Wagen?“

Mit zitternden Beinen ging Sunja zum Rand des Parks, vorbei an einer älteren Dame mit Rehpinscher, die sie argwöhnisch musterte.

Im Haifischbecken

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