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Kapitel 3 Im Irrenhaus

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Armut ist eben gewiss kein großer Glanz von innen, sondern eine einzige Sauerei.

– Kurt Tucholsky –

Der Lärm des Presslufthammers schien in jede Körperzelle zu dringen. Sunja rief und ruderte mit den Armen, um ihren Kollegen zu begrüßen.

Matthias trug wie immer den blauen Parka, dazu die bunte Wollmütze, die er auch im Hochsommer nicht absetzte. Seine pummelige Erscheinung täuschte darüber hinweg, dass er Karate-Meister war und mehrere Auszeichnungen gewonnen hatte. Etwas hilflos schaute er Sunja an, wieder sah sie die dunklen Ringe um seine Augen. Seit er zweifacher Vater war, litt ihr Mitarbeiter unter permanentem Schlafdefizit. Er kümmerte sich viel um seine Kinder. Sunja hoffte nur, dass nicht bald das dritte nachkäme und er endlich wieder Vollzeit arbeiten konnte. Sie jedenfalls war froh, bei dem Job keine Kinder zu haben.

Ihr Kollege zog die Haustür zum Quergebäude zu, was den Lärm etwas reduzierte.

„Hast du schon mit HP gesprochen?“, fragte Sunja.

„Bin im Bilde. Zerschmetterter Mann, verbeulter Rollstuhl. Abgestürzt aus der obersten Etage. Und wie kommt ein Rollifahrer da hoch? Gibt’s in dem alten Kasten etwa einen Fahrstuhl?“

Das musste man Matthias lassen: So verpeilt er teilweise war, manche Zusammenhänge brachte er erstaunlich schnell auf den Punkt. Sunja klärte ihn darüber auf, dass es noch nicht sicher sei, ob das Opfer einen Rollstuhl gebraucht hatte.

„Du, sprinte doch mal die Treppen hoch und sieh nach, ob sich oben wer rumdrückt, der da nichts zu suchen hat und dringend eine Aussage machen sollte. Erklär ich dir nachher. Wenn du wen findest, bring ihn mit. Ich warte hier.“

Matthias setzte sich in Bewegung.

Die Kommissarin ging auf den Hinterhof. Ein Arbeiter brach den Beton auf, die metallene Spitze seines schweren Gerätes hämmerte, der Boden bebte unter ihren Füßen. Sie baute sich vor dem Mann auf und fuchtelte mit ihrem Dienstausweis. Endlich schaltete er die Maschine aus.

„Löwel, LKA! Sie müssen aufhören! Hat Ihnen das noch keiner gesagt?“ In ihren Ohren hallte der Lärm nach. Wie hielten die Mieter das nur aus?

„Ich muss den Hof fertig machen. Heute. Abgemacht. Sonst Ärger mit Chef.“

„Nein! Sie haben Feierabend. Jetzt, verdammt. Sonst gibt es Ärger mit mir. Hier laufen polizeiliche Ermittlungen.“

Der Mann zuckte mit den Schultern und stellte den Presslufthammer beiseite.

Sie fragte ihn, ob er irgendetwas mitbekommen hatte. Aber er hatte scheinbar nur Augen für seine Arbeit gehabt. Sunja notierte seine Personalien. Dann sah sie ihm dabei zu, wie er den Presslufthammer in Richtung einer Brandmauer schleppte, ihn dort in einen Schuppen schob, abschloss und davonstapfte.

Einen Moment genoss sie die Stille.

Der Hinterhof war eine finstere Angelegenheit. Vorderhaus, Seitenflügel und Quergebäude waren eingerüstet und mit dunkelgrünen Planen verhängt. Mitten auf dem Hof stank ein schwarzer Müllcontainer mit offenem Deckel vor sich hin. Dahinter ein blaues Dixi-Klo.

Angewidert wandte die Kommissarin sich ab und ging durch den Torweg zurück in den kleinen Garten an der Spree. Hinter dem linken Quergebäude gab es eine Wiese und Kräuterbeete, sie erkannte Salbei, Rosmarin und zwei Johannisbeerbüsche.

Auf den Wellen tanzten die Sonnenstrahlen. Am gegenüberliegenden Ufer sah sie die East Side Gallery, ein Touristendampfer schipperte vorbei. Eine Oase am Wasser, mitten in der Stadt, dachte sie. Welch ein Luxus! Wie ruhig es hier war. Sie schaute sich nach ihren Kollegen um. Sicher waren die noch im Haus unterwegs.

Vor den Büschen, direkt auf der Wiese, hatte die Leiche gelegen, nahe der Wasserkante, zwischen dem überdachten Tisch und einem riesigen Salbeibusch. Inzwischen waren sowohl der Tote als auch der Rollstuhl abgeholt worden. Nur das gestreifte Flatterband und die rot gefärbten Grashalme zeugten noch von dem Geschehen.

Sunja balancierte auf der Betonkante hinter dem Holzzaun zum Garten auf der anderen Seite des Hauses. Ihr Blick blieb an der Wäsche hängen, die auf einer kräftigen Schnur im kühlen Maiwind flatterte. Die lange Leine führte von einem Haken in der Hauswand um eine gewaltige Linde in der rechten Ecke des Gartens zurück zum Haus. Gestützt von einigen Dachlatten, hing sie übervoll mit Wäschestücken: rosa Babystrampler, Lätzchen, Baumwollwindeln, klitzekleine Hemden und Höschen, Söckchen und Jäckchen. Daneben eine schier unglaubliche Menge Jeans, angefangen von solchen für einen vielleicht Achtjährigen bis hinauf zur Männergröße.

Gerade überlegte die Kommissarin, wem dermaßen viele Hosen gehören mochten, als die Tür zum Kellereingang aufgerissen wurde. Gleich einer Dampfwalze stampfte eine Frau im geblümten Kleid heraus. Sie hatte kastanienbraun gefärbtes, zum Pferdeschwanz gebundenes Haar und trug einen vollen Wäschekorb in den mächtigen Armen. Ihre circa 130 Kilo steuerten direkt auf Sunja zu. Sie sah aus, als wolle sie sich mit ihr schlagen.

„Was macht Polizei hier?“, schrie sie. „Wir haben nichts Schlechtes gemacht! Und mein Mann ist nicht da!“ Der slawische Akzent war unverkennbar.

Diese Matrone war bestimmt keine Freundin deutscher Behörden. Sunja entdeckte um den Hals der Frau eine Kette mit einem großen silbernen Kreuz samt Jesusfigur.

„Guten Tag“, erwiderte sie. „Hauptkommissarin Löwel, LKA Berlin. Darf ich fragen, wer Sie sind?“

Die kräftige Frau baute sich vor ihr auf, schob die Lippen vor und taxierte sie. Zwischen ihnen hing nur noch ein Lätzchen mit der Aufschrift „Kleckermeister“. Sunja musste ein Lächeln unterdrücken. Sie stand mit dem Rücken zur Spree und hoffte, ihr Gegenüber würde sie nicht dort hineindrängen. Das Wasser war im Mai sicher ziemlich kalt.

„Hauptkommissar. Ah! Was wollen Sie? Uns aus dem Haus werfen? Hetzt der Vermieter jetzt Miliz auf uns? Der ist selbst ein Verbrecher! Ein Teufel, der, ich weiß, was ich sage! Gucken Sie sich doch die Dreck hier an! Die ganze Wäsche wird schmutzig, muss ich alles wieder neu waschen. Lassen Sie uns in Ruhe! Wir sind gute Leute. Ist kein Problem!“

„Ich würde eine Leiche schon als Problem bezeichnen. Aber können Sie mir bitte erst mal Ihren Namen nennen?“

„Leiche?“ Die Frau bekreuzigte sich mehrmals. „Ich habe nichts gemacht! Die Polizei kommt immer zu uns, aber das ist nicht gerecht! Meine Mann haben sie eingesperrt, aber der macht gar nichts! Ist guter Mann, hat nur falsche Freunde! Und das Jugendamt sagt, ich bin keine gute Mutter, aber das stimmt nicht, kannst du glauben, meine Söhne sind gute Kinder! Alle! Sehr gute Kinder!“

Sunjas folgende Worte gingen in einem Schwall von Vorwürfen gegen Polizei, Wohngeldamt und Lehrer unter.

Nur durch geduldiges Nachfragen fand sie heraus, dass sie es mit Biljanka Zjenkovitch, Mieterin der Köpenicker Straße 10, Quergebäude rechts, erste Etage, zu tun hatte. Sechsfache Mutter, Besitzerin des Hühnerstalles samt acht Hühnern hinter der Linde im geheimen Gärtchen, zweiundvierzig Jahre alt, zur Zeit des Kosovo-Konfliktes aus Serbien eingewandert.

„Wollen Sie Aufenthaltserlaubnis sehen?“

„Nein, darum geht es nicht, Frau Zjenkovitch. Ich würde mich gern mit Ihnen über den heutigen Tag unterhalten. Was Sie getan haben, was Sie gesehen haben …“

„Ich habe nichts getan!“

Just in diesem Moment führte ihr Kollege Matthias einen Mann durch den Torweg, der von seiner Größe und Statur her geradezu das Gegenteil von Frau Zjenkovitch darstellte. Er trug eine orangefarbene Latzhose und ein Baby im Tragetuch vor dem Bauch.

Augenblicklich stürzte Frau Zjenkovitch auf den Kommissar zu und zerrte ihn von dem Mann weg.

Matthias schrie auf, eine der auf der Leine flatternden Windeln wehte ihm ins Gesicht. Gleichzeitig rannten aus der Tür des linken Seitenflügels zwei grimmige Burschen in Trägershirts. Sie riefen sich etwas Unverständliches zu, einer von ihnen packte Matthias und schleuderte ihn herum, der andere griff Sunja bei der Schulter und trat ihr gegen den Knöchel. Sie hielt sich an einer Jeans fest, riss diese von der Leine und fiel schmerzhaft zu Boden.

Nun stürmte eine schwarzhaarige junge Frau in Ledermontur aus dem Keller. Sie baute sich vor Sunja auf, fixierte sie mit feurigem Blick, wollte wissen, ob das eine Räumung sei und ob ein Polizistenschwein wie sie nach solchen Aktionen ruhig schlafen könne.

Alle schrien durcheinander. Ein Fenster in der zweiten Etage wurde geöffnet, kurz sah Sunja das Gesicht einer Frau auftauchen, hastig wurde das Fenster wieder geschlossen. Gleich darauf registrierte sie, wie Gerd Kaminski, der musizierende Autoschlosser, aufgeregt auf die Schwarzhaarige einredete, die noch immer vor ihr stand.

Hinter der Linde gackerte ein Huhn.

Mit zusammengebissenen Zähnen kam Sunja auf die Knie. Sie stemmte sich hoch und sackte auf den umgekippten Wäschekorb. „Das reinste Irrenhaus“, murmelte sie.

Nach wenigen Minuten hatten HP und ein Streifenpolizist die Situation im Griff. Die jungen Burschen standen breitbeinig und mit den Händen gegen die Hauswand gestützt. Sie schienen zu Frau Zjenkovitch zu gehören, die serbische Flüche in ihre Richtung abfeuerte.

Sunja rieb sich den schmerzenden Knöchel.

Aus dem Stimmgewirr ein paar Schritte vor ihr hörte sie Renés Bass heraus. Die Locken hatte ihr Kollege, wie meist im Dienst, zum Pferdeschwanz gebunden. Schlaksig und alle anderen überragend, strahlte er trotz seiner Anfang Zwanzig Autorität aus. Sie sah, wie die beiden Muskelprotze sich von der Hauswand lösten, gestikulierten und schließlich ihre Papiere hervorkramten.

„Alles okay?“ Matthias war neben sie getreten.

„Bestens“, knurrte Sunja. „Oh Mann, lass uns endlich arbeiten, bevor die Leute da noch mal durchdrehen. Ich will sofort diesen Mann mit dem Baby befragen. Wo hast du den aufgegabelt? Und gibt’s hier irgendeinen ruhigen Raum für uns?“

„Leander Lürssen heißt der. Hockte auf dem Dachboden.“ Matthias zeigte auf das Hinterhaus mit der Terrasse. „Wollte angeblich einen Karton mit Kindersachen holen, den er da oben untergestellt hatte. Aber da war kein Karton.“

Sunja streckte ihm ihre Hand hin und Matthias zog sie auf die Füße.

„Das Büro von dem Loft oben hat die Spusi gerade freigegeben“, sagte er. „Willst du da rein zur Befragung?“

„Super Idee.“ Sie verkniff sich ein Stöhnen. Ihr Knöchel brannte wie Feuer. „Warte mal, das Loft? Wo der Typ abgestürzt ist? Auf dem Boden darüber war dieser Lürssen? Na, da bin ich gespannt auf seine Begründung.“ Gleichzeitig dachte sie: Seit wann rennen Mörder mit einem Baby vor dem Bauch herum?

„Sunja! Du brauchst einen Arzt!“ HP, der eben telefoniert hatte, wirkte ernsthaft besorgt, als er sah, wie die Kommissarin zu einem Klappstuhl hüpfte und sich dort niedersinken ließ.

Für einen Moment sah es so aus, als wolle er neben seiner Chefin niederknien, um ihren Fuß zu begutachten. Doch die grunzte unwillig. So setzte er sich ihr gegenüber auf einen klapprigen Gartenstuhl, nicht ohne vorher seine weiße Jeans betrachtet und ein Taschentuch auf der Sitzfläche ausgebreitet zu haben.

René kam heran. „Na, das haben wir doch gut aufgelöst, oder? Übrigens, Sunja, die beiden Hünen dort sind die Söhne von Frau Zjenkovitch. Ratko und Dragon heißen sie. Haben die Situation missverstanden, es tut ihnen aufrichtig leid und sie wollen jetzt ganz brav sein. Personalien sind erfasst. Willst du Anzeige erstatten?“

Sunja winkte ab.

HP berichtete, der Vater der beiden, Zoran Zjenkovitch, sei mehrfach vorbestraft. Er habe mehr Lebenszeit im Gefängnis als zu Hause verbracht. „Illegaler Waffenbesitz, Körperverletzung, Diebstahl, die ganze Palette. Hab ich eben gecheckt. Sitzt gerade in Tegel ein. Mit dem Mord kann er aber nichts zu tun haben, hatte keinen Freigang.“

„Okay“, sagte Sunja. „Wir fangen mit den Befragungen an. Machst du das mit mir, René? Und ihr beiden haltet die Leute beisammen und bringt sie einzeln zu uns hoch. Zuerst Lürssen. Ach, Matthias, ich muss alles über eine gewisse Anisa wissen. Die soll die Leiche entdeckt haben, wohnt aber nicht hier. Ihren Nachnamen brauchen wir, eine Beschreibung und so weiter. Kannst du sie auftreiben?“

In diesem Altbau gab es tatsächlich keinen Fahrstuhl. Sunja fluchte, als sie sich am Geländer zum fünften Stock des Hinterhauses hocharbeitete. Hoffentlich erholte sich ihr Knöchel schnell.

In der obersten Etage fehlten die Baugerüste und die Planen. Gleich hinter der Wohnungstür lag das Büro des Maklers. Es war so praktisch wie luxuriös eingerichtet: ein Fußboden aus hell lackierten Dielen, drei komplett mit weißen Holzregalen verkleidete Wände voller Bücher und Schnellhefter.

Mit einem Seufzer ließ Sunja sich in einen weiß gepolsterten Drehstuhl fallen, der vor einem riesigen Schreibtisch stand.

An der Wand gegenüber gab es eine Aussparung in den Regalen, darin war eine Tür, die direkt zu dem Loft mit der Terrasse führte. Den Raum würde sie sich später noch ansehen, wenn die KTU mit der Spurensicherung fertig war.

Bis auf die sparsame Büroausstattung war der circa vierzig Quadratmeter große, lichtdurchflutete Raum leer. Sie bestaunte die zehn bodennahen Fenster zum Hinterhof. „Wenn ich einmal reich wär …“, sang sie vor sich hin und dachte, dass das eine angenehme Seite des Geldes war: ein großer Raum mit Luft und Licht.

René kam herein, lächelte und reichte ihr ein Kühlpad. Sogar Kaffee hatte er dabei.

Er organisierte zwei weitere Stühle aus dem Nebenraum und sie begannen mit der Befragung.

Leander Lürssen wirkte erschöpft. Die langen Haare hingen ihm wie Stricke auf die Schultern. Tochter Isabella baumelte im Tragetuch vor seinem Bauch, sie schaute mit großen Knopfaugen in die Welt.

„Herr Lürssen, richtig?“, fragte die Kommissarin. „Ihre Personalien haben wir. Sie sind dreißig Jahre alt und Mieter hier?“

Er nickte.

„Seit wann?“

„Knapp fünf Jahre.“

„Wo liegt Ihre Wohnung?“

„Nebenan, dritte Etage links. Es gibt ja nur noch vier Mietparteien.“

Sunja notierte sich die Namen der Bewohner: Im rechten Hinterhaus parterre wohnte Gerda Freyer. Dann Frau Zjenkovitch mit Mann und sechs Söhnen in der ersten Etage rechts, Herr Lürssen samt Tochter Isabella in der dritten Etage links und Caro Leisebrinck in der vierten Etage rechts. Die restlichen Wohnungen standen nach Angaben von Herrn Lürssen leer.

„Und im linken Hinterhaus?“, fragte sie.

„Dort wohnen nur noch Adriana und Gerd.“

„Gerd Kaminski, ich weiß. Dritte links. Und wer ist Adriana?“

„Adriana Campi, die ist zurzeit auf Dienstreise in den USA. Sie lebt allein, unter Gerd.“

„Und der Rest der Mieter?“

„Hat die Flucht ergriffen. Was wohl der Sinn dieser Lärm- und Schmutzattacken war. Luxussanierung eben. Geht wohl grad halb Berlin so.“

Alles an Herrn Lürssen drückte eine geradezu erschreckende Schicksalsergebenheit aus, seine dünne Stimme, die hängenden Mundwinkel, die schlaffen Schultern. Zaghaft saß er auf der Stuhlkante, als wäre er nicht berechtigt, einen Stuhl vollständig einzunehmen. Alle paar Minuten legte er die Hand auf den Rücken des Babys, als wolle er sich vergewissern, dass es noch da war.

Die Wehleidigkeit des Mannes machte Sunja ärgerlich. Er war der geborene Prügelknabe, bestimmt hatte er schon einiges eingesteckt in seinem Leben. Aber forderten Menschen, die immer nur andere für ihr Missgeschick verantwortlich machten, so etwas nicht heraus?

Sie wollte von ihm wissen, was er auf dem Dachboden gemacht habe.

„Anziehsachen geholt. Für Isabella. Ich krieg ab und zu mal was geschenkt für mein Kind, weil ich nicht so viel Geld habe, und wollte durchgucken, ob schon was passt. Aber der Karton mit den Sachen war weg.“

„Können Sie mir den Karton bitte beschreiben?“

Lürssen zögerte keinen Moment und beschrieb ein großes gelbes Postpaket. Die Kindersachen bewahre er immer in solchen Kisten auf, erklärte er, zwei davon habe er auch in der Wohnung. Den Dachboden nutze er, weil er in der Wohnung nicht allzu viel Platz habe. Es klang glaubhaft.

„Sind Sie verheiratet?“

„Ja, aber meine Frau hat mich verlassen.“

„Oh, das tut mir leid.“ Sunja wartete, ob er noch etwas dazu sagen wollte. Da dies offensichtlich nicht der Fall war, fuhr sie fort: „Was machen Sie beruflich?“

„Ich bin Diplom-Sozialarbeiter. Arbeite in einer Wohngemeinschaft für minderjährige Flüchtlinge. Aber jetzt bin ich natürlich in Elternzeit, wegen der Kleinen.“

„Wie alt ist Ihr Kind denn?“

„Isabella ist vier Monate alt.“

Sunja schwieg einen Moment und blickte auf die Tür. Durch sie musste der Täter hereingekommen sein. Etwas irritierte sie. Schon zu Beginn des Gespräches hatte sie erwartet, dass Lürssen die luxuriöse Einrichtung hier oben überraschen würde. Dass er sich zumindest einmal umschauen würde. Doch er war direkt zum Schreibtisch gekommen, ohne sich umzusehen. Nun saß er artig auf der Stuhlkante, nur sein Blick war misstrauisch.

„Kennen Sie diese Wohnung, Herr Lürssen?“

„Nein.“

„Sie wussten nicht, wie es hier aussieht?“

„Nein.

„Wissen Sie, wer hier gewohnt hat?“

„Herr Leibrecht, manchmal. Der war aber kaum da. Der hat, äh … hatte doch bestimmt etliche Eigentumswohnungen.“

„War Herr Leibrecht Rollstuhlfahrer?“

„Nein, wieso?“

„Auch nicht gehbehindert?“

„Nein.“

„Mochten Sie ihn?“

„Er hat das Haus gekauft.“

„Das heißt?“

„Das fragen Sie? Er will uns raushaben. Damit hat er sich natürlich nicht beliebt gemacht, wenn Sie das meinen. Ich … ich hab schon gehört, dass er verunglückt ist.“

„Verunglückt?“

„Nicht?“

„Von wem haben Sie das denn gehört?“

„Äh … ich weiß nicht, im Haus halt.“

„Denken Sie nach, es fällt Ihnen bestimmt ein.“

Der Mann guckte mit einem Mal so betroffen, als habe Sunja ihm eine ungehörige Frage gestellt. Auf seinem Hals erschienen rote Flecke. „Äh … jemand hat es mir halt gesagt. Keine Ahnung.“

„Herr Lürssen. Der Mann ist wahrscheinlich vor etwa einer Stunde gestorben. Lange können Sie das noch nicht wissen. Also: von wem?“

Leander Lürssen legte beide Hände auf den Rücken seines schlafenden Kindes. Dann begann er, an seinen Fingern zu zerren. „Äh … also … ich glaube, es war Caro. Auf der Treppe, im Vorbeigehen …“ Plötzlich blickte er Sunja verzweifelt an und stieß hervor: „Ach! Jetzt ist mir klar, warum Sie mich geholt haben! Sie haben es doch eh schon in Ihren Akten nachgelesen. Ich wusste doch, dass ich das nie wieder loswerde. Wenn man einmal mit der Polizei zu tun hat, ist man für den Rest seines Lebens verdächtig.“

„Entschuldigung, wovon reden Sie?“

„Jetzt tun Sie doch nicht so! Die Untersuchung gegen mich, vor drei Jahren, wegen dem Tod meiner ersten Frau. Aber das wurde eingestellt! Ich hab sie nicht umgebracht! Das habe ich schriftlich!“ Die roten Flecken hatten sich bis in sein Gesicht ausgebreitet, er knetete seine Hände und zog an seinen Fingern, dass es knackte. „Was ist überhaupt los? Warum hat Ihr Kollege mich vom Dachboden geholt wie einen Verbrecher? Was soll das hier alles werden? Und warum machen Sie sich über mich lustig?“

„Herr Lürssen, wir ermitteln in einem Todesfall und dazu werden nicht nur Sie, sondern alle Mieter dieses und des anderen Nachbarhauses befragt. So, und jetzt beruhigen Sie sich.“

Sunja nickte René zu, der gleich verstand. Er fragte Lürssen, ob er etwas trinken wolle.

Lürssen nickte.

Ihr Kollege verließ das Büro. Kurz darauf kehrte er mit einer Wasserflasche zurück. Sunja schwieg, beobachtete die schmalen Hände auf dem Rücken des Säuglings und sah, wie Lürssen sich allmählich entspannte.

Nachdem er getrunken hatte, fragte sie: „Wissen Sie, ob Herr Leibrecht Feinde hatte?“

„Alle Mieter.“

„Das leuchtet mir sofort ein. Und haben Sie vielleicht zwischen elf und vierzehn Uhr dreißig irgendetwas Ungewöhnliches im Haus bemerkt?“

„Nein. Nur der übliche Baulärm.“

„Wo waren Sie in dieser Zeit?“

„Bei der Mieterversammlung. Da können Sie alle fragen, die dabei waren.“

René notierte die Namen und schickte Matthias eine SMS.

Lürssen schien langsam aufzutauen.

„Es tut mir leid, Frau Kommissarin, dass das zu solchen … äh … Verwicklungen geführt hat. Vorhin, auf dem Hof, meine ich. Biljanka, also Frau Zjenkovitch, ist manchmal etwas impulsiv, und … wir sind einfach alle gestresst, weil wir um unsere Wohnungen fürchten. Biljanka besonders, sie hat Angst, dass sie als Roma keine neue bekommt, wenn sie hier rausfliegt. Ist ja verständlich. Und sie hängt sehr an uns allen hier und so, vor allem an mir …“ Er verstummte abrupt, als wären ihm die passenden Worte ausgegangen.

Sunja musste sich ein Lächeln verkneifen. Das war nun eine fröhliche Gesellschaft. Sie stellte sich Leander Lürssen als Liebhaber von Frau Zjenkovitch vor, wie er in ihren gewaltigen Armen versank. Das war natürlich absurd. Die temperamentvolle Serbin zog vermutlich kräftiger gebaute Männer vor.

„Ich wollte nur sagen, sie hat das nicht so gemeint, als sie Ihren Kollegen von mir fortriss.“

„Sie wollte nur spielen, sozusagen?“

Lürssen warf ihr einen todernsten Blick zu. Für einen Moment glühten seine Augen irre.

„Entschuldigung“, sagte Sunja.

„Sie hat viel durchgemacht, Frau Kommissarin. Mehr, als wir uns vorstellen können. Da musste sie halt lernen, sich durchzusetzen. Aber sie ist eine herzensgute Frau. Wirklich. Raue Schale, weicher Kern.“

„Schon gut. Ist Ihnen an den vergangenen Tagen sonst etwas aufgefallen? Haben Sie vielleicht jemanden gesehen, der in die Wohnung von Herrn Leibrecht gegangen ist? Oder der sich hier aufhielt und merkwürdig benahm?“

Lürssen überlegte. „Nein. Bis auf die Bauarbeiter, die hier ständig rumrennen, kommt hier keiner her. Doch – warten Sie, da war eine Frau. Die hab ich hier vorher noch nie gesehen.“

„Wann?“

„Gestern. Ja, genau, nachmittags um drei herum. Ich hatte Isabella gerade gefüttert. Ziemlich eigenartige Person. Ging wie ein General über den Hof, so stocksteif. Guckte sich alles an, als ob es ihr gehört. Ich dachte gleich: Das ist doch auch eine von denen.“

„Wie meinen Sie das?“

„Na, von diesen Immobilienhaien. Und dann sah ich sie in die Tür reingehen, zur Treppe hier hoch.“

„Haben Sie mit ihr gesprochen?“

„Nein. Ich kannte die ja gar nicht.“

„Ist sie zu Herrn Leibrecht gegangen?“

„Keine Ahnung. Kann schon sein. Zu wem sonst?“

„Wie sah die Frau aus?“

Lürssen beschrieb sie als nicht allzu groß, schmal, Mitte fünfzig. „Dauerwelle, braune Haare. Und ich glaub, sie hatte ein kariertes Kleid an. Ziemlich altmodisch irgendwie. Aber so genau weiß ich das nicht mehr.“

Sunja machte sich Notizen.

„Kennen Sie eine Anisa?“, fragte sie dann.

Ihr Gegenüber zuckte leicht zusammen und wurde blass. „Ähm, warum fragen Sie? Was hat das … ja, vom Sehen. Flüchtig“, stotterte er.

„Wohnt sie hier?“

„Nein. Die taucht nur manchmal auf. Ist wohl mit der Freundin von Gerd befreundet oder so. Herrn Kaminski.“

„Wissen Sie, wie sie mit vollem Namen heißt?“

„Das weiß ich nicht.“

„Wie alt ist sie? Wo wohnt sie?“

„Ich habe keine Ahnung!“

„Wann haben Sie sie zum letzten Mal gesehen?“

„Also, äh … vielleicht vor zwei, drei Wochen. Sorry, aber ich müsste mich jetzt wirklich um meine Tochter kümmern, sie bekommt gleich ihre Flasche und …“

Dieses Gestotter kannte Sunja. Sie machte ihrem Gegenüber deutlich, dass es unangenehme Auswirkungen haben könne, wenn man im Rahmen einer Mordermittlung log. Und dass sie die Befragung auch gern auf dem LKA fortsetzen konnten, dann würde es länger dauern.

Schließlich bestätigte Lürssen die Aussage von Gerd Kaminski, Anisa habe die Leiche entdeckt. Kreidebleich sei sie in die Mieterversammlung gestürzt und habe ihnen davon erzählt.

„Es ist eine Schande, wie man hier mit den Ärmsten der Armen umgeht“, schob er nach. „Was dieses Mädchen auszustehen hat in diesem Land. So ein zartes Geschöpf.“

Bei den letzten Worten sah Sunja ein kleines Leuchten über Lürssens Augen huschen.

Matthias Müller saß vor dem PC im LKA-Büro und fluchte. Zwei Stunden hatte er die Liste sämtlicher Frauen namens Anisa durchgesehen und mit der Personenbeschreibung verglichen, die seine Kollegen ihm durchgegeben hatten. Ihr Alter schwankte laut Aussagen der befragten Mieter zwischen vierzehn und siebzehn Jahren. Fehlanzeige.

René hatte ihm zusätzlich eine Art Phantombild gegeben, das von den Zeichenkünsten Leander Lürssens zeugte. Der hatte es geholt, nachdem die Kommissarin ihn längere Zeit über das Aussehen des unauffindbaren Mädchens befragt hatte.

Zu sehen war eine mädchenhaft wirkende Schönheit. Schwarze Locken, die ein zierliches Gesicht mit großen, dunklen Augen umrahmten. Matthias schaute dieses Bleistiftporträt nun schon so lange an, dass ihm zumute war, als kenne er Anisa persönlich. Unglaublich jung und zerbrechlich sah sie aus. Er biss sich auf die Lippen. Kaminski hatte gemeint, sie sei aus ihrer WG weggelaufen und quasi ständig unterwegs.

Drei Obdachlosenunterkünfte rief er noch an, dann hatte er alle durch. Nirgendwo war sie bekannt. Wo sollte er sie nur finden? Da fiel ihm ein, dass Sunja etwas von einer Jugend-WG gesagt hatte. Also rief er nacheinander alle betreuten Wohngemeinschaften in Neukölln an. Er hatte schon fast aufgegeben, als er auf eine Mitarbeiterin stieß, die bei dem Namen Anisa ausrief: „Klar, unsere Ausreißerin!“

Sie sei mehr auf der Straße unterwegs als in der WG, erfuhr er. Sie und ihr kleiner Bruder tauchten nur sporadisch dort auf, meist, wenn sie etwas zu essen brauchten. Jetzt hatten die Mitarbeiter die zwei aber schon seit über fünf Wochen nicht mehr gesehen.

„Kennen Sie ihren vollständigen Namen?“, fragte Matthias.

„Anisa Hodzic, ich buchstabiere …“

Erleichtert schrieb er mit. Endlich!

„Würden Sie uns bitte Bescheid geben, wenn Sie sie gefunden haben?“, sagte die Frau. „So lange war sie noch nie verschwunden. Ich hoffe, ihr ist nichts zugestoßen.“ Und als würde ihm das bei der Suche helfen, fügte sie hinzu: „Den Jungen hat sie immer bei sich. Sie lässt ihn nie aus den Augen. Sie liebt ihn abgöttisch. Er heißt Galib und ist gerade mal zwei Jahre alt.“

„Wissen Sie, woher sie stammt? Seit wann sie in Deutschland ist? Oder irgendetwas, was uns helfen könnte, sie zu finden?“

„Nein, sie hat kaum mit uns geredet.“

„Wie alt ist sie eigentlich?“

„Angeblich vierzehn, aber das glaubt niemand von uns. Ich denke, sie ist längst erwachsen. Das geben wir nach außen hin natürlich nicht an. Sie hatte auch keine Papiere bei sich, als wir sie aufnahmen.“

„Haben Sie vielleicht ein Foto von ihr?“

„Nein, leider.“

Er faxte das Phantombild an die Sozialarbeiterin. Diese meldete zurück, das Bild sei genial, fast so gut wie eine Fotografie.

Zehn Minuten später war Matthias erneut in den Anblick von Lürssens Zeichnung vertieft. Was für ein junges Ding, dachte er, und dann war sie allein den Gefahren der Großstadt ausgesetzt. Kaum auszudenken, was ihr alles passieren konnte. Wie sollte sie sich denn zur Wehr setzen? Und dann immer den Jungen dabei, zwei Jahre alt, wie Felix. Sein Sohn hatte so viel im Vergleich: eine Familie, ein eigenes Bett, einen Kitaplatz, Eltern, die ihn mochten … Und dieser Galib hatte nicht einmal einen sicheren Schlafplatz! Wahrscheinlich auch nichts Anständiges zu essen. Und das mitten in Deutschland. Eine Schande.

Sein Magen rumorte. Er zog die Schreibtischschublade auf und fand noch drei Schokoriegel, die er hastig verspeiste. Wie sollte er Ines erklären, dass er schon wieder Überstunden schieben musste? Der Ehekrach war vorprogrammiert.

Sunja war Single, die machte sich über so etwas natürlich niemals Gedanken. Manchmal hatte er sogar den Eindruck, dass sie genau ihm die langwierigsten Aufträge übergab. Aus Neid, wegen der Kinder? Gönnte sie ihm sein Glück nicht? Er liebte seinen Beruf, aber die Familie eben auch. Er wollte beides!

Matthias schaute das Foto seiner Jungs an, das auf dem Schreibtisch stand, und lächelte stolz. Ernesto begann gerade zu sprechen und war zuckersüß. Sein Blick fiel auf die Uhr, er erschrak. Schon vor zehn Minuten hätte er den Großen von der Kita abholen müssen!

Eine halbe Stunde später saß Matthias im Auto, blickte auf die eingegangene SMS und wusste sofort, dass die Nachricht von Ines stammte. Bei ihrem Handy klemmte die Hochstelltaste.

WO BLEIBST DU? HAST DU FELIX ABGEHOLT?

Natürlich hatte er. Der Filius plapperte fröhlich aufgeregt auf dem Rücksitz, während Matthias versuchte, sich innerlich gegen die Vorwürfe seiner Frau zu wappnen. Da ihm keine Entschuldigung für sein späteres Kommen einfiel, rief er sie nicht zurück, er ließ das Handy klingeln, ohne ranzugehen, obwohl er sah, dass es Ines war. Er musste nachher mal in Ruhe mit ihr reden. Er verstand ihren Unmut, es hatte einfach zu viele Überstunden gegeben in letzter Zeit. Nervös kaute er auf der Unterlippe und konzentrierte sich auf den Verkehr.

Und plötzlich sah er sie: Anisa! Mit dem kleinen Galib auf dem Arm. Kein Zweifel, das war sie! Er hatte ihr Bild deutlich vor Augen. Die beiden spazierten links von ihm den Bürgersteig entlang. Er sah Anisas lachendes Gesicht, sah, wie sie Galib absetzte, ihm einen Kuss gab. Jetzt bogen sie um eine Ecke und gingen in die kleine Nebenstraße …

Seine Hände packten das Lenkrad fester. Das war seine Chance. Geistesgegenwärtig riss Matthias das Steuer herum, wendete und bog in die Straße ein, in der die zwei verschwunden waren.

Felix auf dem Rücksitz war plötzlich verstummt.

Im Haifischbecken

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