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Kapitel 2 Adler und Schwert

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… kann es sein, sie hätten das mittel gefunden, sie könnten es finden, sie haben es etwa schon, im menschen was auszulöschen, so dass er am ende lebt und liebt sein leben nicht mehr …?

– Christian Geissler –

Es war bereits kurz vor drei Uhr, als die Kommissarin im Streifenwagen über die Oberbaumbrücke Richtung Kreuzberg fuhr.

Die Straßennamen dieser Gegend erinnerten an die ehemaligen Bewohner aus den Ostgebieten des Deutschen Reiches: Oppelner und Glogauer, Sorauer und Weichselstraße. Schon damals hatte die Hoffnung auf Arbeit und ein besseres Leben die Menschen hierher gezogen, in die entstehende Großstadt. Zu Beginn des neuen Jahrhunderts hatten die Züge am Schlesischen Tor die Zuwanderer in Scharen ausgespuckt. Mietskasernen waren aus dem Boden gewachsen, mit Hinterhöfen, dunkel und eng wie Schornsteinschächte. Nach den damaligen Bauvorschriften musste gerade mal ein Handpumpenwagen der Feuerwehr darin wenden können. Plumpsklo im Innenhof, Schweine und Hühner. Eine Kopie des Landlebens auf grauem Beton.

Seit den wilden Sechzigern wohnte hier ein buntes Gemisch aus türkischen Familien, Studenten, Hausbesetzern und Alternativen. Die Gegend war das alte „SO36“, benannt nach einem ehemaligen Postzustellbezirk. Ein Mythos im Schatten der Berliner Mauer. Sunja kamen Erinnerungen an Bilder von Straßenschlachten, die Anti-Atomkraftbewegung der Achtziger, verrückte Kommunen im Westen. Sie hatte diesen Stadtbezirk erst nach der Wende kennengelernt und war seinem Charme sofort erlegen. Hier sah Kreuzberg auch heute noch aus wie ein anatolisches Dorf: Kinder spielten auf der Straße, Händler hielten Basare ab, vor der Fülle winziger Läden und Kneipen kurvten Fahrradrikschas. Doch am Wasser überwogen schon die Fabrikbauten.

Der Einsatzwagen bog in die Köpenicker Straße ein, stoppte vor einer großen Tordurchfahrt mit der Nummer 9/10 und die Kommissarin sprang aus dem Auto.

Sie überquerte den ersten Hof, dessen Betonboden halb aufgebrochen war, lief durch einen Durchgang zwischen zwei Quergebäuden, hob das Absperrband an und betrat den zweiten Hinterhof.

Gerade kam ein Streifenpolizist mit unwilliger Miene auf sie zu, als sie ihren Kollegen HP entdeckte. Nach mehreren Rufen kam er zu ihr, sichtlich überrascht von einer Kommissarin in Jogginghosen. Er dagegen wirkte wieder wie aus dem Ei gepellt.

„Ist Matthias schon da?“, fragte sie.

„Unterwegs.“

„Und René?“

„Da kommt er.“ HP wies auf den Durchgang.

Ihr jüngster Kollege René Hartmann, der fast zwei Meter groß war, trat auf sie zu und begrüßte sie mit Handschlag.

Während Sunja sich in den weißen Schutzanzug zwängte, erstattete HP hastig Rapport.

„Der Tote heißt Volker Leibrecht. Wir haben seine Brieftasche bei ihm gefunden, er ist Professor für Immobilienwirtschaft und Investor auf dieser Seite des Spreeufers. Wohnte in der obersten Etage, wenn er in Berlin war. Dort ist das Unglück auch passiert. Die Etage ist zusätzlich aufgestockt worden und so gut wie fertig saniert, im Unterschied zum restlichen Haus.

Anwohner haben die Leiche gefunden, hatten wohl grad eine Mieterversammlung im Nebenhaus. Der Arzt meint, die Verletzungen weisen darauf hin, dass er aus großer Höhe runtergestürzt ist. Oder besser: runtergestürzt wurde. Seine Unterarme und Füße waren mit Klebeband an dem Rollstuhl da hinten festgemacht. Am Balkon seines Apartments fehlt das Geländer, dort haben die Kollegen auch Reifenspuren des Rollstuhls entdeckt. Im Treppenhaus gibt es aber keine Spuren, das Ding muss also hochgetragen worden sein. Oder es war schon oben. Todeszeitpunkt ist noch unklar, lange kann es aber nicht her sein. Ach ja, da gab es noch ein zerknicktes Schild aus Pappe neben ihm, mit einem Strick dran. Darauf stand, dass seine Gier ihn getötet hat oder so … Ist schon bei den Asservaten, die Spusi ist fast durch.“

Sunja hörte ihm zu, schloss den Schutzanzug und ging dann auf den Rollstuhl zu, der wenige Schritte von ihnen auf der Wiese lag. Es handelte sich um ein kleines, leichtes Modell, silberfarben, mit schwarzer Rückenlehne und schwarzem Sitz, das sehr modern wirkte. Die beiden großen Räder waren in sich verdreht, eins der zwei kleineren Vorderräder abgebrochen, Fuß- und Armstützen verbogen. An der Rückenlehne und am Gestänge klebte Blut. Man konnte deutlich sehen, wo die Techniker das Gestänge durchtrennt hatten, wahrscheinlich, um den Toten aus dem Gefährt herauszubekommen.

„Vermutlich Genickbruch, sagt der Arzt.“ HPs Stimme klang rau. „Er war richtig da drin eingequetscht, sie mussten ihn rausschneiden. Wär um ein Haar in der Spree gelandet, da hätte ihn wahrscheinlich niemand gefunden … Da gibt es auch eine Modellnummer, darüber könnte man den Besitzer identifizieren. Das wird aber etwas dauern.“

„Warum Besitzer? Gehörte er nicht dem Opfer?“

„Weiß man nicht. Der Arzt zweifelt daran, dass der Mann gehbehindert war. Aber das wird uns die Gerichtsmedizin genauer sagen.“

Der Tote lag einige Meter entfernt. Man hatte ihn bereits in einen Leichensack verpackt.

Die Kommissarin bückte sich, holte tief Luft und zog den Reißverschluss auf.

Ein seltsamer Gleichmut lag auf dem Gesicht des Mannes. Sunja schätzte ihn auf Mitte fünfzig, er war korpulent und gut gekleidet. Sie entdeckte relativ wenig Blut am Körper des Mannes, wusste aber, dass bei Stürzen aus großer Höhe oft zahlreiche Brüche entstanden, die nach innen ausbluteten. An den Fingern der Leiche steckten mehrere Ringe. Einer davon erregte ihre Aufmerksamkeit. Er war aus Silber oder Platin, auf der Siegelfläche prangte ein Adler mit einem Schwert in den Klauen, darunter die Initialen GTJ.

Ein Wappen? Aber was bedeutete die Abkürzung?

Sie bat HP, ein Foto zu machen, und schloss den Leichensack.

Vorsichtig ging sie durch den Garten. Im Gegensatz zur Vorderseite des Hauses war es hier geradezu idyllisch. Eine Frühlingswiese, von dichten Sträuchern umgeben. Zwei Apfelbäumchen zeigten erste Blüten, eine große Linde spendete Schatten. Auf der Leine hing Wäsche. Über einen Weg aus Feldsteinen, gesäumt von blühenden Vergissmeinnicht, gelangte man ans Spreeufer, an dem Liegestühle und ein überdachter Tisch mit Bänken standen. Hier konnte man vergessen, dass man sich in einer Großstadt mit über drei Millionen Einwohnern befand.

Sunja blickte nach oben, aber die Dachterrasse, von der der Mann gefallen war, war aus diesem Winkel nicht zu erkennen. Sie ging zu HP und René zurück.

„Habt ihr Zeugen?“, fragte sie.

„Nee.“ HP wies auf die Gerüste. „Die meisten Bewohner sind hier schon ausgezogen, du siehst ja, Sanierung. Eine alte Frau ist noch da, zweiundachtzig, Gerda Freyer. Und im zweiten Stock soll es auch noch eine Mieterin geben, die aber angeblich selten zu Hause ist. Den aus dem Nachbarhaus wollte ich grad befragen. Dritter Stock. Aber wenn du willst …“

„Ich kümmre mich darum. Du besorgst bitte eine Liste der Mieter. Wir müssen mit allen sprechen, auch aus dem Nachbarhaus. Das geht ja auch nach hinten raus. Und dann versuch alles über das Opfer rauszukriegen: Was für Geschäfte hat er gemacht? Hatte er Feinde unter den Mietern oder in der Branche? Und so weiter. Wo ist denn der Zeuge aus dem dritten?“

„Wartet in seiner Wohnung, ein gewisser … Gerd Kaminski. Viel Erfolg!“

In der dritten Etage gab es drei Wohnungstüren, alle ohne Namensschild. Eine stand offen. Sunja ging darauf zu und klopfte. Von drinnen meinte sie einen bejahenden Laut zu vernehmen. Sie tastete kurz nach ihrer Waffe.

„Kriminalpolizei! Sind Sie Herr Kaminski?“, rief sie vom Flur aus.

Da keine Antwort kam, ging sie weiter und spähte um die Ecke. Der Raum roch muffig und sah auf den ersten Blick wie ein Laden für Musikinstrumente aus: An der Wand reihten sich zahllose E-Gitarren, in der Mitte des Zimmers standen ein Schlagzeug und ein E-Piano, überall waren Notenblätter verstreut. Direkt vor ihr lag ein Blechblasinstrument, das sie an einen riesigen, verschlungenen und verknoteten Flaschenkürbis erinnerte. Zwischen den Instrumenten waren reichlich Kleidungsstücke und Kippen auf dem Boden verstreut, mittendrin eine halb volle Bierflasche.

Hinten auf dem Sofa, neben dem Fenster, lag ein sehniger Mann mittleren Alters und schnarchte. Seine Lederjacke war an den Ärmeln ölverschmiert. Fettige dunkle Haare hingen ihm ins Gesicht.

Sunja bahnte sich einen Weg zu ihm und rüttelte ihn sacht an der Schulter.

Er kam nur langsam zu sich.

„Wer hat denn nun die Leiche entdeckt, Herr Kaminski?“

„Na, die Frau Freyer, sag ich doch!“

Zunächst hatte der Mann nicht mit ihr sprechen wollen, mit irgendeiner Unbekannten im Maleranzug. Mühsam hatte sie die Polizeimarke unter dem Anzug hervorgekramt und die Befragung war in Gang gekommen. Sunja war sich unsicher, ob er nur verschlafen oder grundsätzlich maulfaul war.

Seit über dreißig Jahren wohne er im Haus, hatte er erzählt. Früher sei das hier aber alles freier gewesen. Einfach ein gutes Leben. Die Musikinstrumente habe er, weil er in einer Band spiele. Coole Mucke. Sonst sei er Autoschlosser, und ein bisschen nebenher arbeiten, na ja. Danach wolle er nur sein Bier, bei der kessen Susi. Und Schicht im Schacht. Wobei. Irgendwann müssten sie hier ja doch raus. Im Winter letzten Jahres hätte es schon den Versuch einer Zwangsräumung gegeben, ein Sitzstreik der Bürgerinitiative habe das verhindert. Aber dann seien die Bullen gekommen, hätten die Leute weggeschleppt. Eine Neunzigjährige ins Altersheim verfrachtet.

Kaminski wischte sich mit dem Ärmel der speckigen Lederjacke über den Mund und schüttelte den Kopf.

Sunja war ans Fenster getreten.

„Und Frau Freyer wohnt im Parterre, im Nachbarhaus?“

„Na ja, die ist doch am allerlängsten hier. Wahrscheinlich seit 1920, als sie das Haus hier gebaut haben!“

„Da muss die alte Dame aber gute Augen haben, mit ihren zweiundachtzig. Wenn sie von drüben durch den Bretterzaun hindurch einen Mann im Rollstuhl sehen kann. Und jetzt erzählen Sie mir mal, wie das wirklich war, Herr Kaminski! Sie saßen also in der Mieterversammlung mit den anderen Hausbewohnern. Was passierte dann?“

In Gerd Kaminski schien plötzlich Leben zu kommen. Er wand sich unbehaglich auf dem Sofa, stand auf, kam zum Fenster und blickte auf die Bauplane hinaus. Nachdem er aus der Innentasche der Jacke umständlich ein zerknautschtes Päckchen Zigaretten gefischt hatte, sagte er leise: „Ehrlich gesagt hat uns jemand anders alarmiert. Aber das Mädel hat schon genug Ärger am Hacken. Da haben wir uns halt auf die Frau Freyer geeinigt. Damit die Kleene keinen Stress mit der Polizei kriegt. Auch eine?“

In einer energischen Abwehrgeste hob Sunja die Hände.

„Das Mädel? Sie meinen ein Kind?“

„Nicht direkt. ’Ne junge Frau.“

„Der Name?“

„Können wir die nicht damit verschonen?“

„Herr Kaminski, jemand ist tot! Also: Wie heißt die Frau? Wo kann ich sie finden?“

„Anisa. Den Nachnamen weiß ich nicht. Ehrlich nicht! Wohnt in einer Jugend-WG in Neukölln, soviel ich weiß im Rollbergviertel. Da haut sie aber immer ab und so. Recht unstetes Leben. Die hat auch einen kleinen Bruder, den sie immer mit sich rumschleppt … Aber das weiß Susi alles viel genauer, meine Freundin, da müssen Sie die fragen.“

Sunja nickte und sah sich in der Wohnung um.

„Das werden die Kollegen mit Sicherheit tun“, entgegnete sie. Der Mann wirkte glaubwürdig. Allmählich ging ihr dieser muffige Geruch auf den Geist.

„Was ist das eigentlich für ein Musikinstrument?“, fragte sie und wies auf den blechernen Flaschenkürbis.

„Ach, das. Ein Sousafon, aus dem alten Jugoslawien. Hab mich früher für seltene Instrumente interessiert. Ist mir aber zu teuer geworden. Wollen Sie’s mal hören?“

Die Kommissarin zog die Schultern hoch.

Kaminski absolvierte den gleichen Hindernislauf durch sein Wohnzimmer wie sie vorher, nahm den riesigen, verschlungenen Blechtrichter und hob ihn ohne erkennbare Mühe hoch. Dann setzte er ihn an die Lippen, begann zu blasen und augenblicklich fühlte Sunja sich in eine vergangene Zeit zurückversetzt. Ein rumänisches Dorf war das gewesen, dessen Namen sie vergessen hatte … Ein Urlaub, lange her. Sie sah die Feuer, den qualmenden Suppentopf, der Țuică kreiste …

Als Kaminski geendet hatte, saß sie in sich versunken auf seinem Sofa.

Sie applaudierte und er lächelte geschmeichelt. Im selben Moment setzte das Dröhnen eines Presslufthammers auf dem Hof ein. Kaminski verdrehte die Augen. „Jeden Tag geht das so!“, stöhnte er. „Und dabei soll man schlafen!“

Mühsam fuhr sie mit der förmlichen Befragung fort. Sie mussten sich geradezu anschreien, um sich verständigen zu können.

Doch Gerd Kaminski wirkte jetzt zugänglicher.

Ja, natürlich, Leibrecht. Niemand hier habe den leiden können, gab er an. Alle hätten nur den Investor in ihm gesehen. Obwohl der immer betont höflich zu den Mietern gewesen sei. Habe einen auf gute Nachbarschaft machen wollen, die Bewohner zum Gartenfest eingeladen. Doch keiner sei erschienen.

Er und seine Nachbarn hätten immer nur friedlichen Widerstand geleistet. Sitzblockaden, Demonstrationen, übers Internet Leute mobilisieren. Er selbst habe übrigens letzte Nacht bei Susi übernachtet, falls sie das interessiere. Schließlich müsse man ja mal schlafen. Sei von ihr erst am Mittag los und gegen eins zur Mieterversammlung, das könne seine Freundin bezeugen.

Vielleicht habe Leibrecht eher in seinen Kreisen Feinde? Er habe den mal beobachtet, kurze Zeit nachdem der das Haus übernommen hatte. Im Garten sei der gewesen, mit noch einem Anzugtypen. Und nach einer Weile seien die beiden fast handgreiflich geworden.

„Wie der aussah? Aus der Entfernung und von oben? Ich glaub, der hatte eine Glatze. Oder? Sie könnten eigentlich mein Zimmer streichen, in Ihrem schicken Anzug, Frau Kommissarin. Farbe hab ich da, sollte schon lange gemacht werden.“

Kaminski grinste und Sunja musste wider Erwarten lachen.

„Ich werd mich melden, wenn ich Bedarf habe, aber vorher hab ich anderes zu klären. Rufen Sie mich an, wenn Ihnen noch was einfällt?“ Sie wollte nicht wieder nach den Visitenkarten wühlen, so kritzelte sie ihre Nummer auf einen Werbeprospekt für Lautsprecherboxen. „Warum machen Sie eigentlich Ihre Wohnungstür nicht zu oder war das Zufall vorhin?“

„Nee, ist so eine Angewohnheit. Ich hab mal eine Geschichte gelesen, in der ein Mann nach dem Tod seiner Geliebten immer alle Türen geöffnet hat, überall. Freiheit statt Sicherheit, verstehen Sie? Außerdem ist bei mir eh nichts zu holen! Nicht mal für die Instrumente hat sich einer interessiert!“

Sunja verabschiedete sich und ging nachdenklich hinaus.

Sie stand im Treppenhaus und lauschte.

Ging da gerade eine Tür, weiter oben? Sie glaubte ein leises Keuchen zu hören. Aber hatte HP nicht gesagt, es sei sonst keiner da?

Im Haifischbecken

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