Читать книгу Geschichten aus dem Wiener Wald von Ödön von Horváth: Reclam Lektüreschlüssel XL - Sascha Feuchert - Страница 4
1. Schnelleinstieg
ОглавлениеAuf den ersten Blick mag erstaunen, dass Ödön von Horváths wohl bekanntestes Drama Aktualitätnoch immer ein Dauerbrenner auf deutschsprachigen Bühnen ist, behandelt das Stück doch Themen, die erst einmal nur von historischem Interesse zu sein scheinen: Im Mittelpunkt stehen schließlich spießige und gleich in mehrfacher Hinsicht ›dumme‹ Kleinbürger, die offensichtlich mit zeittypischen Problemen der ausgehenden 1920er, beginnenden 1930er Jahre zu kämpfen haben. Horváth hatte mit den Vorarbeiten zu den Geschichten aus dem Wiener Wald 1928/29 begonnen und den Text erst 1931 abgeschlossen. Genau in dieser Zeit bewegen sich nun seine Figuren, aktueller hätte der Autor also damals kaum sein können. Und doch muss es einen Grund geben, warum auch heute noch Alfred, Marianne, der Zauberkönig und Co. in deutschen, österreichischen und schweizerischen Theatern (und Schulen) zu Gast sind. Dieser Lektüreschlüssel will zeigen, dass Horváths angestrebte »»Demaskierung des Bewusstseins«Demaskierung des Bewusstseins«1 nicht nur im historischen Kontext funktionierte, sondern auch in unserer heutigen Zeit angewandt werden kann: Heuchelei und Verlogenheit einer sich bürgerlich gebenden Gesellschaft sind uns noch immer alles andere als fremd. Auch jene Menschen, die sich Wort- und Satzhülsen bedienen, um sich als moralisch oder empfindsam auszuweisen, dann aber aggressiv und brutal handeln, erkennen wir sofort wieder.
Horváths Drama wurde nach seiner Uraufführung am Deutschen Theater Berlin am 2. November 1931 von vielen Heftige ReaktionenKritikern stürmisch gefeiert (»Ein Reichtum«, Alfred Kerr2), von konservativen und rechtsextremen Rezensenten aber auch massiv angefeindet (»Unflat ersten Ranges«, Rainer Schlösser3). Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten 1933 wurden alle Stücke Horváths an deutschen Bühnen abgesetzt und verboten. Der Autor wurde 1936 aus Deutschland verwiesen und übersiedelte nach Wien, von wo aus er nach dem »Anschluss« Österreichs an das Dritte Reich im März 1938 ins Exil ging. Er starb am 1. Juni 1938 in Paris.4
Ein Grund für die heftigen zeitgenössischen Reaktionen auf die Geschichten aus dem Wiener Wald lag auch in der Konstruktion des Stückes: Horváth wählte als Untertitel die Bezeichnung » (K)ein »Volksstück«Volksstück«, die eigentlich auf ein unterhaltsames, an ein breites Publikum gerichtetes Drama schließen ließ, mit viel Musik, Tanzeinlagen und einiges an Bühneneffekten. Doch diese Erwartung unterlief der junge Autor: Zwar gab es jede Menge populäre Musik und auch der Titel des Stückes war einem Walzer von Johann Strauß entlehnt – doch wollte Horváth gerade die durch bekannte Volksstücke (mit-)errichtete Fassaden einreißenFassade aus Gemütlichkeit und Familiensinn der kleinbürgerlichen (Wiener) Welt einreißen. Er führte vor, dass hinter den gut klingenden Phrasen und fröhlichen Liedern Bösartigkeit und Aggression lauern.
Trotzdem erscheint die Handlung erst einmal typisch für ein konventionelles Volksstück: Marianne, Tochter eines Spielwarenhändlers, der sich Zauberkönig nennt, soll den Fleischhauer Oskar ehelichen, der eine ›gute Partie‹ für sie wäre. Doch kurz vor der Hochzeit brennt Marianne mit dem Hallodri Alfred durch, mit dem sie auch schnell ein Kind bekommt. Alfred erweist sich allerdings nicht als der Mann ihrer Träume, und Marianne kehrt am Ende des Stückes zu Oskar zurück. Allerdings – und da unterscheidet sich Horváths Volksstück gewaltig von seinen traditionellen Vorgängern – ist in der Zwischenzeit Schlimmes passiert: das Kind ist umgebracht worden, Oskar hat sich als gewalttätiger Mensch erwiesen und auch die anderen Figuren sind als egoistisch und brutal entlarvt worden. Marianne steht nicht vor einem Happy End, sondern sie ist völlig zerstört und hat alles verloren. Der zum Schluss einsetzende Walzer von Johann Strauß ist deshalb nur noch bitterböse Ironie.