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1.2 Der Symbolische Interaktionismus

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Einen Gegenentwurf zum strukturell-funktionalistischen Ansatz stellt der ebenfalls in den 1950er-Jahren aufkommende sogenannte symbolische Interaktionismus dar. Während aus der Perspektive des strukturell-funktionalistischen Ansatzes der Einzelne als Teil eines Systems mit vorgegebenen Normen und Erwartungen konfrontiert ist und sich diesen entsprechend verhalten soll, interpretiert der Einzelne nach Auffassung der Vertreter des symbolischen Interaktionismus seine Umwelt und verhält sich entsprechend seiner Interpretation der Situation.

HERBERT BLUMER, der einer der bedeutendsten Vertreter des symbolischen Interaktionismus ist, stellt drei Prämissen auf, die diesem Ansatz zugrunde liegen. Zum ersten handelt der Mensch Dingen gegenüber entsprechend der Bedeutung, die jene für ihn besitzen. Hierzu zählt alles, was der Mensch wahrnimmt.201 Deshalb können sowohl Objekte als auch Menschen oder auch Institutionen als Dinge bezeichnet werden. Zum zweiten erwächst die Bedeutung der Dinge für den Einzelnen aus seiner Interaktion mit anderen Menschen.

Indem Situationen und Dinge stets interpretiert werden, kann die Bedeutung der Dinge zum dritten stets auch geändert werden.202

Gemäß dieser Prämissen sind die individuelle und die kollektive Ebene miteinander verschränkt. Der Einzelne handelt infolge individueller Situationsinterpretationen, die im wesentlichen aus dem In-Beziehung-Sein mit anderen Menschen erwachsen. Interaktion ist dementsprechend die Grundlage individuellen Handelns. Der Definition nach wird von einer Interaktion gesprochen, wenn sich Handlungen wechselseitig bedingen und aufeinander beziehen. Mittels Interaktionen konstruieren die Beteiligten die soziale Realität. Dabei sind sie auf eine gemeinsame Interpretation von Situationen angewiesen, was nicht bedeutet, dass die Interagierenden die gleichen Erwartungen an den Ausgang einer Handlung haben müssen.203 Jedoch ist es ein Unterschied, ob verschiedene Erwartungen an die Interpretation einer Situation geknüpft werden oder von vornherein die Situation gänzlich verschieden aufgefasst wird – in letzterem Fall sind weitaus größere Anstrengungen zu erwarten, um dennoch zu einem Ziel zu gelangen.204 Soziale Interaktion ist die bewusste Orientierung des eigenen Handelns an Erwartungen anderer Personen.205 BLUMER unterscheidet soziale Interaktion ferner in nicht-symbolische und symbolische Interaktion, wobei erstere ein Handeln bezeichnet, das eine direkte Reaktion darstellt, beispielsweise reflexartiges Handeln, während symbolische Interaktion auf der Interpretation der Situation beruht.206 Interpretation ist wiederum ein multiperspektivisches Geschehen, bei dem es darum geht, dass die interagierenden Personen den Beteiligten jeweils eindeutige Handlungsanweisungen geben und zugleich die Anweisungen der anderen wahrnehmen. Für gelingende Interaktion muss Eindeutigkeit in den Handlungen bestehen.207 Der Einzelne befindet sich stets in solchen interpretativen Prozessen. In der Folge stellt die Gesellschaft im Rahmen des symbolischen Interaktionismus eine Gruppe handelnder Menschen dar. Soziale Interaktion konstituiert die Gesellschaft.208 Ausgehend von der Annahme, dass menschliches Handeln auf der Interaktion infolge von Situationsinterpretationen beruht, ist das Ziel des symbolischen Interaktionismus’ die Erschließung dieser Interpretationsprozesse.209

Menschliches Zusammenleben ist durch gemeinsames Handeln gekennzeichnet, das darauf beruht, dass die Beteiligten eindeutige Handlungsanweisungen geben und die Situation interpretieren. Hieran knüpfen nun auf dem symbolischen Interaktionismus basierende familienbezogene Überlegungen an. Wie die Gesellschaft überhaupt beruht auch die Familie auf sozialer Interaktion.210 So ist die Familie beispielsweise deshalb ein Ort für Sozialisation, weil Eltern mit ihren Kindern kommunizieren und interagieren.211 Wenn die Familie auf sozialer Interaktion basiert, bedeutet dies, dass die Familie keine feste Lebensordnung darstellt, sondern ihr Zusammenleben auf der Interpretation unzähliger Situationen beruht: »Innerhalb des Bereichs menschlichen Zusammenlebens entstehen ständig neue Situationen, die problematisch sind und für die bestehende Regeln sich als unzureichend erweisen.« 212 Familiensoziologie im Anschluss an den symbolischen Interaktionismus beruht auf dem Interesse an den subjektiven Bedeutungen, die der Einzelne der Familie zuschreibt und auf deren Grundlage er handelt. Darin besteht gerade der Gegensatz zum strukturell-funktionalistischen Ansatz, dessen Hauptaugenmerk auf der Funktion der Familie innerhalb der Gesellschaft liegt. Die Familie ist dort ein Subsystem neben anderen, dem eine Ordnung inhärent ist und das zugleich die Ordnung des übergeordneten Systems der Gesellschaft garantiert. Statt nach den Strukturen und Funktionen zu fragen, an denen sich der Einzelne mit seinem Handeln zu orientieren hat, um auf diese Weise der gesellschaftlichen Stabilität zu dienen, wird nun der Versuch unternommen, die subjektiven Zuschreibungen und Handlungsweisen zu verstehen. Die Existenz von Rollenvorgaben in der Gesellschaft im Bereich von Ehe und Familie wird zwar nicht negiert, doch müssen die Rollen von dem Einzelnen jeweils vor dem Hintergrund der eigenen Biografie gedeutet werden.213

Das Verstehen der subjektiven Deutungsprozesse ist das zentrale Anliegen einer Familiensoziologie im Anschluss an den symbolischen Interaktionismus. Doch gerade dieses Anliegen gestaltet sich nach Ansicht der Kritiker schwer, weil der Prozess der Interpretation von Situationen nur schwerlich rekonstruiert werden kann. Da Situationen stets von den Beteiligten zu interpretieren sind und diesen Interpretationen entsprechend gehandelt wird, ist es zudem schwer, eine Handlungstheorie über Regelmäßigkeiten im familialen Bereich zu formulieren.214 Das Hauptaugenmerk von Vertretern des symbolischen Interaktionismus liegt auf dem Verstehen und Nachvollziehen von Handlungen. Doch geht dies zulasten der Hypothesenbildung bezüglich sozialen Handelns. Die Kritik besteht also auch an der Einseitigkeit dieses Zugangs. Denn rückblickendes Verstehen und Prognosen zukünftigen Handelns gehören in der Soziologie zusammen.215

Der Ursprung des folgenden Ansatzes liegt in einer anderen Fachwissenschaft – den Wirtschaftswissenschaften. Der US-amerikanische Ökonom GARY STANLEY BECKER trug entscheidend dazu bei, die ökonomische Theorie rationalen Entscheidens zu formulieren und auf Gebieten anderer Wissenschaften anzuwenden.216 Waren bei den beiden bisher beschriebenen Ansätzen Werte und Normen ein entscheidender Aspekt menschlichen Handelns, treten nun ökonomische Handlungsentscheidungen in den Vordergrund, die auf Kosten-Nutzen-Abwägungen basieren.

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