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Kapitel 3
ОглавлениеMalik
Natürlich ist es ein süßes Kind. Es ist das Produkt von Jimmy und Anna, die ein ungewöhnlich schönes Paar waren. Ich habe Anna erst ein Mal vor dem Einsatz getroffen, bei einem Jameson-Treffen auf ein paar Drinks am Abend, bevor wir abgeflogen sind. Ich habe mit Jimmy fast einen Monat gearbeitet und trainiert, seine Frau vorher aber noch nicht kennengelernt.
Ich weiß alles über das kleine Mädchen, das mich vom Display auf Annas Handy ansieht. Von dem Moment an, als ich von meinen Kameraden befreit wurde, konnte ich nicht aufhören, Fragen zu stellen. Cage musste mir wiederholt jedes schmerzvolle Detail, das er über Jimmy und Sal wusste, erzählen, und ich verglich es mit meinen eigenen Erinnerungen. Wie sie gestorben sind und wie ihre Leichen geborgen wurden. Sal ist an einer Schusswunde in die Hauptschlagader verblutet und Jimmy starb an einem Genickschuss.
Die Schuld an den beiden Toden erdrückt mich, und ich kann nichts tun, um diesen Schmerz zu lindern. Vielleicht interessieren mich Anna und ihr Baby Avery deshalb so sehr. Wie übersteht eine Frau es, ihren Ehemann zu verlieren und täglich seine Tochter zu sehen? Als ich vor ihr stehe und sie mich gelassen und willkommen heißend anlächelt, kann ich mir vorstellen, dass es ein anstrengender Akt sein muss.
Ich fühle mich ein bisschen unwohl.
In den letzten zwei Wochen habe ich viel nachgedacht. Erst habe ich mich hauptsächlich ausgeruht. Dann jede Menge gegessen, um meinen Körper wieder aufzubauen. Bei meinen Eltern zu Hause in Montreal zu sein, war genau, was ich brauchte, denn meine Familie steht sich sehr nah und kennt mich ganz genau. Sie umsorgten mich nicht übertrieben. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie sehr meine Eltern und Geschwister getrauert und sich gesorgt haben mussten, doch sie machten keinen Wirbel um mich, weil sie wussten, dass ich das gehasst hätte.
Meine Geschwister kamen einzeln, um mich zu besuchen. Max und Lucas sind professionelle Eishockey-Spieler und kamen vorbei, als sie in Ottawa spielten. Meine Schwester Simone und ihr Mann Van – ein früherer Hockey-Spieler bei den Cold Fury – kamen für eine Woche, doch genau wie meine Brüder hingen sie nicht die ganze Zeit an mir und betrauerten die Tatsache, dass ich fünf Monate lang ein Gefangener im Mittleren Osten gewesen bin. Van und ich spielten zusammen viel auf der Xbox und Simone kochte mir all meine Lieblingsgerichte. Meine Eltern sahen mich oft nachdenklich an, doch das konnte ich ihnen nicht verübeln. Sicherlich konnten sie genauso wenig glauben, dass ich überlebt habe, wie ich selbst.
Doch dann wurde es Zeit, wieder nach Pittsburgh zu fliegen. Zu meinem Job. Erst da äußerten meine Eltern ihre Meinung und ihre Bedenken. Zwar begründeten sie es mit Worten wie Vielleicht solltest du dich noch eine Weile ausruhen, doch ich wusste, dass sie Angst hatten, dass ich auf die nächste gefährliche Mission gehen und sterben würde.
Das verstehe ich vollkommen, aber sie wissen auch eine andere Sache über mich. Ich laufe nicht vor meinen Ängsten davon und verstecke mich nicht hinter Was-wäre-wenn. Ich stelle mich den Dingen, und der einzige Weg, Syrien hinter mir zu lassen, ist, mir Pittsburgh und meinen Job vorzunehmen.
Allerdings machte ich einen kleinen Umweg und flog erst nach New York zu Sals Familie. Er war nicht verheiratet und hatte keine Kinder, also wurde es ein trauriger Besuch bei seinen alternden Eltern, die sich erstaunlich gleichgültig über seinen Tod gaben. Sie waren ziemlich überrascht, mich vor der Tür stehen zu sehen, ließen mich aber freundlich rein. Einen ganzen Nachmittag sprachen wir über Sal. Zwar habe ich ihn nicht allzu gut gekannt, doch ich hätte mein Leben für ihn riskiert. Sie haben mich nicht danach gefragt, was genau geschehen ist an dem Abend, als ich gefangen wurde, was gut so war. Ich habe meinen Bericht noch nicht abgegeben und hätte sowieso keine Details verraten dürfen. Und ich war froh, ihnen nicht erzählen zu müssen, dass es meine Schuld war, dass er und Jimmy sterben mussten.
Ich betrachte das Foto von Jimmys Tochter Avery und frage mich, ob es einmal so weit kommen würde, dass sie erfährt, welche Rolle ich beim Tod ihres Vaters gespielt habe. Anna wird ihr vielleicht alles erzählen, oder auch nicht, und bisher weiß ich noch gar nicht, was Anna genau darüber weiß. Da sie hier arbeitet, ist sie ein bisschen anders und wird wahrscheinlich manche Dinge eher für sich behalten.
Bevor ich Kynan nicht Bericht erstattet habe, kann ich ihr sowieso nicht sagen, was ich in der Wüste alles getan habe. Momentan muss ich meine Trauer und das schlechte Gewissen unter Verschluss halten.
Mein Blick schweift von Avery zu Anna. Sie ist eine unglaublich hübsche Frau mit goldenem Haar und ungewöhnlich blaugrauen Augen, die je nach Lichteinfall die Farbe zu ändern scheinen. In der Bar, in der wir an dem letzten Abend abhingen, hielt ich sie für kornblumenblau, doch in dem Neonlicht der Küche scheinen sie fast silbern mit einem Hauch Himmelblau zu sein.
„Also, du arbeitest jetzt hier, was?“ Die lahmste Begrüßung, die es überhaupt gibt. Ich weiß, dass sie hier arbeitet, denn ich habe Cage gefragt, weil ich wissen musste, ob ich sie zerstört habe, als ich ihren Mann sterben ließ.
„Ja.“ Sie lacht leise, streicht sich Haare hinters Ohr und legt das Handy ab. Ihr Ausdruck wird trauriger und sie senkt kurz den Blick. „Ich musste einfach ein Teil hiervon werden, nachdem …“ Ihre Worte hängen schwer in der Luft, und in meiner Kehle bildet sich ein Kloß. „Das klingt bestimmt albern, oder?“ Sie sieht mich wieder an und versucht, gelassen zu lächeln.
„Nein, gar nicht“, versichere ich ihr und denke mir, jetzt kann ich auch gleich sagen, was gesagt werden muss. Ich räuspere mich. „Hör zu, Anna, das mit Jimmy tut mir furchtbar leid. Ich kann mir kaum vorstellen, wie schwer es für dich sein muss.“
Ich wappne mich für Tränen und bin überrascht, als ihr Ausdruck weicher wird, ihre Finger mit dem Handy spielen und sie den Blick senkt.
„Für dich war es auch hart. Ich freue mich wirklich, dass du wieder da bist. Das macht alles ein bisschen …“
Sie bricht ab, als ob sie nicht sicher wäre, was das alles zu bedeuten hat. Ich kenne das Gefühl. Den Verlust der Richtung und die Frage, was zum Geier sich das Schicksal dabei gedacht hat, diese Umstände zu erschaffen.
Nach einer gefühlten Ewigkeit hebt sie den Kopf und sieht mich wieder an. Obwohl ich diese Frau nicht kenne, sind wir durch das Geschehen in der Wüste miteinander verbunden. Es fühlt sich wie ein wichtiger Moment an, und ich habe keine Ahnung, wie ich darauf eingehen soll.
Anstatt etwas Vages zu sagen oder das Gespräch in harmlosere Gefilde zu leiten, sprudelt die brutale Wahrheit aus mir heraus. „Es fällt mir schwer, mit dir zu reden.“
Anna blinzelt erstaunt und runzelt dann die Stirn.
Ich schüttele den Kopf und halte eine Hand hoch. „Es ist nur, weil … ich lebe noch und Jimmy ist tot. Ich hoffe, du weißt, dass ich sofort meinen Platz mit Jimmy tauschen würde, wenn ich die Möglichkeit hätte, alles noch einmal zu machen.“
Anna richtet sich alarmiert kerzengrade auf. „Das würde ich nie von dir verlangen. Von niemandem. Und du darfst nicht so denken. Sei dankbar, dass du am Leben bist. Das musst du feiern, Malik. Ich tue es jedenfalls.“
Tja, das ist leichter gesagt als getan. Arme Anna, die mit dem Tod ihres Mannes und der Erziehung ihres Kindes allein fertig werden muss. Sie wird nie verstehen, warum ich niemals über Jimmys Tod hinwegkommen werde.
Auf ihre Worte hin bringe ich ein Lächeln zustande, unterstütze es noch durch ein leichtes Kopfnicken und hoffe, dass es reicht, um sie von Trauer und Schuld abzulenken.
Dann nicke ich Richtung Flur hinter der Küche, wo sich die privaten Apartments befinden. „Ich werde eine Weile hier wohnen. Kynan hat mir gerade den Schlüssel gegeben, also richte ich mich mal eben häuslich ein.“
In meinem Ton schwingt etwas Endgültiges mit, was anzeigt, dass das Gespräch jetzt beendet ist.
Nickend greift Anna nach ihrem Kaffee. „Okay, klar. Ich wollte dich nicht aufhalten und muss jetzt auch nach unten an die Arbeit. Der Boss ist ziemlich fordernd und so.“
Anna nimmt sich ihre Handtasche, noch einen Donut und ihre Kaffeetasse. Noch ein Lächeln, das ich mit einem kurzen Heben meines Kinns beantworte, und sie ist fort.
Seltsamerweise war dieses Gespräch, auch wenn es mir schwergefallen ist, das ehrlichste seit meiner Befreiung. Ein Teil von mir wünscht sich mehr davon.
*
Mich in meinem neuen Apartment einzurichten, dauert ganze fünf Minuten. Ich muss nur meine Klamotten in die Kommode legen und in die Küchenschränke schauen, um festzustellen, was an Lebensmitteln da ist.
Als ich nach Pittsburgh gekommen bin, um bei Jameson zu arbeiten, habe ich keine Zeit gehabt, mich nach einer Bleibe umzusehen. Ich habe auf der Couch eines alten Marines-Kumpels gepennt, der am Rand der Stadt wohnt. Und dann bin ich sofort für die Mission in Syrien eingeteilt worden, wo Geiseln befreit werden sollten. Ich hielt es nicht für eine zu schnelle Veränderung, von den Marines zu einer Befreiungsmission im Mittleren Osten überzugehen. Ehrlich gesagt, kam es mir eher wie ein alter Hut vor.
Jetzt weiß ich nicht, was die Zukunft für mich bereithält, aber für den Moment ist es die Arbeit bei Jameson, und das Angebot für dieses Apartment ist eine praktische Sache. Ich hätte mit demselben Mitbewohner von vorher zusammenziehen können, will aber diesmal lieber allein sein.
Ich bin hier, um das sprichwörtliche Pferd wieder zu besteigen und ein wertvolles Mitglied des Teams zu sein. Es ist wichtig, hier erfolgreich zu sein, denn bisher habe ich nur versagt, was mehr über mich aussagt, als ich akzeptieren kann.
Ein Klopfen an der Tür lässt mich zusammenzucken. Vor allem, weil ich fünf Monate in einem Erdloch gehaust habe. Das Konzept von geschlossenen Türen und Privatraum ist mir ein bisschen fremd geworden.
Ich gehe durch das kleine Wohnzimmer zur Tür und öffne sie schwungvoll. Kynan steht davor. Ich bitte ihn wortlos herein, indem ich zur Seite trete.
„Hast du dich schon eingerichtet?“, fragt er beim Eintreten.
„Fertig und zu allen Schandtaten bereit.“ Ich schließe die Tür und verriegele sie. Nicht aus Gewohnheit, sondern aus Vorsicht. Vielleicht auch nur aus purer Freude, eine richtige Tür zu haben, die man abschließen kann.
Kynan geht zur Couch und setzt sich, nickt zu dem Sessel, der ihm gegenüber steht. Das Apartment ist zwar klein, aber gemütlich ausgestattet. Die Möbel sind hochwertig. Zierleisten an den Decken in jedem Raum und die Küchengeräte sind top. Es ist die schönste Wohnung, in der ich je allein gelebt habe. Ich setze mich mit dem Hintern vorn auf die Kante, falte die Hände vor mir, lege die Ellbogen auf die Knie und sehe Kynan erwartungsvoll an.
„Debriefing morgen früh um 08:00“, sagt er direkt.
Ich nicke und halte seinen Blick. Zwar ist es das Letzte, was ich will, noch einmal alles durchzugehen, was geschah, aber es ist nun mal ein wichtiger Teil jeder Mission. So lernen wir aus unseren Fehlern, dokumentieren alles offiziell und verbergen das, was nicht öffentlich werden und nicht mal an die Regierung gelangen darf, die uns beauftragt hat.
„Kein Problem“, sage ich. „Danach werde ich meinen schriftlichen Bericht auch schnell fertig haben.“
Kynan nickt, reibt sich das Kinn und sieht mich prüfend an. „Corinne wird dabei sein.“
Ich beiße die Zähne zusammen. „Das gehört nicht zum Standardablauf.“
„Vielleicht nicht beim Militär, aber das hier ist meine private Firma“, antwortet er, ohne den Tonfall zu verändern.
Verfickt noch mal.
Corinne Ellery ist die Psychologin für Jamesons Mitarbeiter. Bevor ich den Job hier angenommen habe, musste ich mich von ihr testen lassen. Ich bin nicht blöd … er will, dass sie dabei ist, um zu beurteilen, wie ich mit der Gefangenschaft umgehe.
„Zusätzlich“, fährt Kynan fort, und ich spüre, dass noch mehr kommt, was mir nicht gefallen wird, „wirst du für eine Weile bei Corinne in Therapie gehen. Bis sie bestätigt, dass du wieder am aktiven Dienst teilnehmen kannst, wirst du zum Schreibtischhengst.“
„Du willst mich wohl verarschen“, schnaube ich. „Ich brauche keinen Irrenarzt und bin voll in der Lage, wieder normal zu arbeiten.“
„Verleugnung.“
Mehr sagt er nicht. Nur dieses eine Wort, und er glaubt, dass es mich völlig beschreibt.
„Ich will nichts leugnen“, knurre ich. In dem Versuch, mich nicht darüber aufzuregen und zu beweisen, wie gesund ich bin, lehne ich mich bequem in den Sessel zurück und versuche, entspannt zu wirken. „Ich bin gut erholt, nehme an Gewicht zu und bin innerlich total im Reinen mit dem, was mir passiert ist.“
„Und was ist mit dem, was Jimmy und Sal passiert ist?“
Ich kann meine körperliche Reaktion nicht verbergen. Unfreiwillig zucke ich zusammen und verziehe das Gesicht. Ich spüre es und weiß, dass er es sieht. Es ist dasselbe, wie wenn jemandem die Rippen gebrochen wurden und er hartnäckig behauptet, fit für den Dienst zu sein, aber wenn man ihm den geringsten Pikser verpasst, klappt er schmerzerfüllt vorn über und verrät seine Schwäche.
Er gibt mir keine Gelegenheit, mich zu verteidigen, sondern erhebt sich lediglich. „Wenn du weiter für Jameson arbeiten willst, musst du bei Corinne in Therapie gehen, bis sie bestätigt, dass du dich mit deinen Gefühlen über die Gefangenschaft und dem Versagen der Mission adäquat auseinandergesetzt hast. Mir ist egal, ob es dir gefällt oder nicht, ich will nur, dass du es tust. Ich kann es kaum erwarten, dich wieder im vollen Dienst zu sehen. Wenn du es nicht willst, dann gebe ich dir eine nette Abfindung, wir schütteln uns die Hände und gehen getrennte Wege. Das sind deine einzigen beiden Optionen.“
Gottverdammt, der Mann ist knallhart. Dennoch kann ich nicht anders, als ihn zu respektieren. Das Militär hat sich nie sehr um die mentale Gesundheit gekümmert, was ich meistens nicht gut fand. Komisch, wie sich die Dinge ändern können, wenn es um mich selbst geht.
Etwas über zwei Wochen ist es her, dass mein Flugzeug in New York gelandet ist. Ich erwartete meine Familie am Gate. Und sie war auch da. Meine Eltern und meine drei Geschwister. Doch auch Kynan stand bei ihnen, was mich überraschte. Auf seine Art zeigte er mir, dass ich zu seiner Familie gehöre. Er blieb nur so lange, bis er mir eine brüderliche Umarmung gegeben und mir auf den Rücken geschlagen hatte, und noch ein paar Minuten, während ich mit meiner Familie aus dem Terminal ging. Draußen verließ er uns und versprach, mich freudig wieder bei Jameson zu erwarten, sobald ich dazu in der Lage wäre. Später erfuhr ich, dass er meine Eltern in einem teuren Hotel untergebracht hatte, damit wir etwas Zeit miteinander verbringen konnten, bevor unser Flug nach Hause ging.
Der Mann kümmert sich – daran besteht kein Zweifel.
Und ich habe etwas zu beweisen, also ist es keine Option, Jameson zu verlassen.
„Gut“, sage ich zögerlich. Ich stehe auf und reiche Kynan die Hand. Er schüttelt sie und sein Ausdruck wirkt stolz.
„Ich weiß, dass es schwer ist, sich dem Scheiß zu stellen“, sagt Kynan, nachdem er meine Hand losgelassen hat. Er geht zur Tür und ich folge ihm. „Aber glaube mir, du musst das verdauen, und die gesündeste Weise ist, mit einem Profi darüber zu reden.“
„Verstanden.“
„Also dann, bis morgen beim Debriefing“, sagt er und klopft mir auf die Schulter. „Ich bin wirklich froh, dass du wieder bei uns bist, Malik. Du bist ein wichtiges Mitglied unseres Teams.“
Nachdem Kynan gegangen ist und ich die Tür hinter ihm verschlossen habe, lehne ich mich dagegen und denke an Corinne Ellery. Sie ist ein kluges Köpfchen. Eine exzellente Ärztin. Wie viel ich ihr wohl vormachen kann? Mit anderen Worten, wie wenig kann ich sagen, dass sie mich trotzdem wieder gesundschreibt?