Читать книгу Der Weizen gedeiht im Süden - Schulz Erik D. - Страница 10
Kapitel 6
ОглавлениеAm Freitag der folgenden Woche, 234 Tage nach seinem Einzug in den Bunker, befühlte Oliver die Weizenstängel auf dem Feld. Wie unzählige Male zuvor ertastete er eine glatte Oberfläche und spürte ein Gefühl von Befriedigung. Die Ähren sahen kräftig aus und reiften im Kunstlicht. Sie rochen üppig, warm und leicht nach Honig. Die Ernte stand unmittelbar bevor. Der Mähdrescher würde Halme und Ähren abschneiden und die Körner herausdreschen. Dann würden sie zu Mehl weiterverarbeitet werden.
Als er sich an einer anderen Stelle herunterbeugte und den Bohrstock für Proben in den Boden rammen wollte, sah er auf drei Halmen einen rostroten Belag. Er zog sich entlang der Längsachse bis hinauf zu den Ähren, für das ungeschulte Auge zwischen Abertausenden von Pflanzen unsichtbar.
Ungläubig tastete Oliver den Stängel ab. Er wusste sofort, was die kleinen Knubbel unter seinen Fingerspitzen bedeuteten: Pusteln des Schwarzrosts. Kompletter Verlust der Ernte.
Seine Beine drohten einzuknicken. Er umklammerte den Bohrstock und blickte über das Feld. Dicht an dicht standen die Ähren, aufrecht wie Zinnsoldaten in Reih und Glied, den Kopf hoffnungsvoll dem Licht entgegengereckt. Doch sie waren dem Untergang geweiht.
Olivers Herz drückte in der Brust, als wolle es zerbersten. Er rang nach Luft. Mechanisch untersuchte er alle Bereiche des Feldes. An einigen Halmen waren die Flecken bereits zusammengewachsen und hatten sich kaffeebraun verfärbt. Eine abgelegene Ecke des Ackers, etwa einen Quadratmeter groß, zeigte den fortgeschrittensten Befall: Dort breiteten sich von den Halmen her schwarze, streifige Stellen auf Blattscheiden und Ähren aus, wie ein Krebsgeschwür flossen sie ineinander. Innerhalb von Tagen würde sich sein Stolz in schwarzen, verschrumpelten Pflanzenabfall verwandeln, in ein Gemisch aus gebrochenen Halmen und toten Körnern. Sektor für Sektor würde befallen werden. Kein Cocktail potenter Pilzgifte konnte das verhindern, denn die hatte er längst versprüht.
Ein Schweißtropfen fiel auf ein Blatt und mischte sich mit dem Pulver des Pilzes zu einer schwarzen Schliere. Wie hatten die Sporen der heimtückischen Plage hierher, ins abgeschirmte Innere des Bergs, gelangen können? Was hatte er übersehen?
Plötzlich war Oliver wie von Sinnen und begann, das welkende Getreide mit Handschlägen zu verwüsten und Flüche zu brüllen, deren Echo zwischen den Felsen hallte. Voller Wut stampfte er auf, und die Krume stob in hohem Bogen auf. Dann knickten seine Beine ein, und er sank zu Boden, streckte sich aus, bedeckte das Gesicht mit den Händen und weinte, bis die Tränen und die Erde auf seinen Wangen zu einem klebrigen Film verschmolzen.
»Warum? Warum ausgerechnet hier?«
Seit der Antike war die Getreidepest für Missernten und Hungersnöte verantwortlich. In den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts hatte sie einmal die halbe Weizenernte der USA vernichtet. Nach einem halben Jahrhundert Pause hatte man geglaubt, die Geißel besiegt zu haben, bis an der Wende zum neuen Jahrtausend in Uganda plötzlich eine neue, aggressive Variante des Schwarzrosts ihr todbringendes Haupt erhob. Die Epidemie vernichtete Ernten von Kenia bis Südafrika, ließ die Felder der arabischen Halbinsel umknicken, und wäre nicht der Krieg ausgebrochen, hätte der Wind die Sporen bis in den Fernen Osten und nach Australien getragen.
Atombomben und der nukleare Winter hatten den Pilz an der Erdoberfläche aufgehalten. Doch hier im Pischahorn, in einer hochtechnisierten Welt unter Tage, hatte er einen Weg gefunden zu überleben.
Langsam, als erwache er aus einem Albtraum, rappelte Oliver sich auf. Es kam ihm vor, als sei seine furchtbare Entdeckung vor langer Zeit geschehen, während in Wirklichkeit nur wenige Minuten vergangen waren. Er empfand eine eigenartige Leere. Die Stille in der Höhle war beklemmend. Kein Halm regte sich. Plötzlich fühlte er eine brennende Sehnsucht nach Michelle, nach ihren tröstenden Armen. Wie nie zuvor vermisste er ihren Schutz, den Schutz seiner starken Frau.
Mit einem Seufzer stand er auf, klopfte die Erde vom Hemd und brachte sich so gut wie möglich in Form. Dann schnitt er ein paar Ähren ab und steckte sie in eine Plastiktüte. Er brauchte Gewissheit. Obwohl er die Proben noch nicht mikroskopiert hatte, tanzte vor seinen Augen bereits das Bild der ovalen goldbraunen Pilze mit den typischen Sporen.
Stimmen durchbrachen vom Zugangstunnel her die Stille, rissen ihn aus seiner Verzweiflung. Eine aufgeregte Frauenstimme fragte etwas, und zwei Männer gaben ihr Auskunft. Oliver versuchte, sich zusammenzureißen, normal zu wirken. Schritte näherten sich auf dem Fels, bis sie vom weichen Acker gedämpft wurden.
»Doktor Bertram!«
Es war Carolin von Holtzendorff. Sie trug eine weiße Bluse, die lässig in einer verwaschenen Jeans steckte. Ihre Haare hatte sie im Sixties-Look über ihrem Kopf zusammengesteckt.
Olivers Gesicht hellte sich auf, und in einer mühsamen Bewegung hob er den Arm zum Gruß. Sie gingen aufeinander zu, sie lebhaft und zügig, er schleppend, als trüge er eine Eisenkugel am Bein.
»Ich muss Ihnen was erzählen!«, begann Carolin im Laufen. »Es gibt jetzt wirklich niemanden mehr, der dieses Schwein stoppen kann. Sie werden nicht glauben, was Wiegele getan hat …«
Als sie Olivers Gesicht sah, hielt sie inne und schlug eine Hand vor den Mund. »Um Gottes willen, was ist denn mit Ihnen los?«
Er hielt ihr die Tüte mit den Pflanzenproben vors Gesicht, unfähig, ein Wort zu sprechen.
»Ich verstehe nicht. Was ist das? Was hat das zu bedeuten?«
Mühsam räusperte Oliver sich. Sein Mund war staubtrocken. »Schwarzrost.«
Carolin verstand nicht. Sie zuckte mit den Schultern und führte ihn zum Feldrand, wo ein roter Plastikeimer unter einem Wasserhahn stand. Nachdem sie ihn aufgedreht hatte, befeuchtete sie ein Taschentuch und begann, Olivers Gesicht abzuwischen. Ihre flüssigen, harmonischen Bewegungen, das Reiben ihrer Hand auf seiner Haut beruhigten ihn. Am liebsten hätte er sie an ihrem Ledergürtel zu sich gezogen, umarmt und geküsst.
»Das Feld ist verloren«, sagte er endlich. »Schwarzrost, das ist ein Pilz, eine Seuche, die Getreide befällt. In ein paar Tagen hat sich alles hier in schwarzen Dreck verwandelt. Jeder einzelne Halm, jede Ähre!«
»Sind Sie sicher?« Ungläubig knetete sie das schmutzige Tuch. »Das Feld sieht doch gesund aus.«
Er hob noch einmal die Tüte mit den Proben. »Sehen Sie hier die schwarzen Streifen auf den Stängeln, wie sie sich auf den Ähren ausbreiten? Ich bin hundertprozentig sicher, dass wir hier unten nie Weizen ernten werden. Das bekommt niemand mehr steril. Die Sporen sind überall, und wir haben keine Chemikalien, die wirken würden. Es ist aus.«
»Das … das tut mir leid«, sagte sie und strich ihm tröstend über die Schulter.
»Ich könnte Ihnen die befallenden Stellen auf dem Feld zeigen, aber damit fallen wir zu sehr auf. Ich will den Löwen nicht noch mit der Nase auf das Desaster stoßen. Der wird mich sowieso rauswerfen oder umbringen oder was weiß ich.« Fatalistisch winkte Oliver ab.
»Ich fürchte, damit liegen Sie richtig.« Carolin klimperte mit den Lidern, runzelte die Stirn und seufzte. »Eigentlich bin ich hier, um Ihnen was zu sagen. Die Krähen im Konsortium hacken sich jetzt gegenseitig die Augen aus. Flügelkämpfe um die Macht, geführt mit allen Mitteln.«
»Was ist passiert?«
»Wiegele hat Widmer und Casentieri verhaften lassen. Er hat sie einfach aus ihren Zimmern geholt und ins Gefängnis gesteckt, wegen Gefährdung der Sicherheit. Angeblich wollten sie fliehen. Ein sogenanntes Gericht soll darüber entscheiden, ob sie nach draußen verbannt werden. Praktisch wäre das die Todesstrafe.«
Oliver rieb sich das Kinn, schob die Brille ein Stück den Nasenrücken herauf. Er überlegte. »Offenbar brodelt es unter den Mächtigen. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis Unbeteiligte zwischen die Fronten geraten.«
»Ja«, sagte sie mit einer Stimme, die ebenso zitterte und bebte wie ihr Körper.
Eine Ewigkeit sahen sie einander an. Während Carolins Augen Halt in den seinen suchten, wog Oliver das Für und Wider einer Flucht ab. Die Wärme, Güte, aber auch die Entschlossenheit in ihrem Blick strömten in ihn hinein. Plötzlich fand er die Kraft, eine Entscheidung zu treffen. Er entschied sich für den Ausstieg, für das Wagnis. Mit jedem Nerv, mit jedem Schlag seines Herzens, der Leben durch seinen Körper jagte, stieg seine Gewissheit, dass dies der richtige Weg war. Oliver war stolz. Und dieser Stolz würde nie nachlassen, denn seine Entscheidung war ein Versprechen an Carolin, unumstößlich und unverletzlich.
»Wir müssen hier raus«, sagte sie leise.
»Ich weiß.«
Sofort begannen ihre Augen zu leuchten. »Wir treffen uns heute Abend mit Haemmerli, den Simpkins und meinen Eltern in der Besenkammer in der zweiten Etage. Haemmerli will Dienstagmorgen los und braucht Ihre Hilfe.«
»Meine Hilfe? Warum?«
»Ich weiß nicht, was er vorhat. Jedenfalls gibt es einen Zeitplan, nach dem wir alle in die Kammer kommen sollen. Nach den jüngsten Ereignissen müssen wir besonders auf der Hut sein. Isler hat Nachtdienst und kommt später dazu. Sie sind um 22:20 Uhr an der Reihe.« Mit einer Mischung aus Furcht und Ungläubigkeit blickte sie über das Feld. »Wie lange können Sie das hier geheim halten?«
»Ein paar Tage vielleicht.«
Punkt 22:20 Uhr fand Oliver sich vor der Besenkammer im zweiten Stock ein, in der er vor einer Woche das Gespräch mit Simpkins geführt hatte. Ohne Verzögerung öffnete sich die Tür, und Haemmerlis Arm zog ihn hinein. Die Freunde umarmten sich.
»Jetzt werden wir dieses Loch verlassen, mein Bester, oddr? Schön, dass du dabei bist!« Haemmerlis Augen strahlten vor Kraft und Tatendrang, sein Muttermal auf der linken Wange leuchtete. »Alle wissen schon, was auf dem Weizenfeld los ist. Und was mit Widmer und Casentieri passiert ist. Wir können also gleich mit der Planung loslegen. Das Ganze wird ein bisschen was von einem Seminar haben. Hilft aber nichts, Sie brauchen die Informationen. Sie alle müssen bitte sehr gut zuhören, denn wir dürfen uns keine Fehler leisten.«
Alle hingen an Haemmerlis Lippen. Georg von Holtzendorff wirkte 15 Jahre jünger. Die Aussicht, sich oben ein neues Leben aufzubauen, hatte die Falten aus seinem Gesicht gewischt.
Die Ausrüstungsgegenstände, die Oliver bereits aus Haemmerlis Vorführung in seinem Zimmer kannte, lagen zwischen den Regalen ausgebreitet.
»Wir brechen Dienstagmorgen auf. Da es inzwischen unmöglich ist, den Haupteingang zu passieren, müssen wir den Notausgang nehmen. Er beginnt neben dem Gewächshaus. Es ist ein 250 Meter hoher Schacht mit einer Stahltreppe. In der Nähe des Gipfels kommt er aus dem Berg. Von da führt ein Weg runter nach Davos, wo wir die erste Nacht verbringen werden.«
»Was für ein Weg?«, fragte Simpkins und stieß ein sarkastisches Lachen aus. Er lehnte am Regal und hatte glasige Augen. »Sie meinen wohl eher Abfahrt im Tiefschnee, was?«
»Ganz recht, Simpkins«, entgegnete Haemmerli, »ohne richtige Vorbereitung und Technik überstehen wir es da draußen nicht einen Tag. Auf dem Pischahorn weht ein eisiger Wind, und im Tiefschnee wird der Abstieg zur Strapaze. Ich kenne die Gegend. Es gibt heikle Stellen, Spalten und Risse. Alles ist ständig in Bewegung. Ein Ausrutscher und man wird weggerissen. Und noch was, Simpkins: Im Überlebenskampf ist Disziplin das oberste Gebot. Können Sie sich dieses Wort bitte einprägen? Disziplin!«
»Na klar, Mann, Disziplin, kein Problem, Haemmerli. Auf mich können Sie sich verlassen, hundertprozentig.« Grinsend dehnte Simpkins sich wie bei einem Morgenstretching.
»Sind Sie jetzt fertig?«, fragte Haemmerli. Dann fuhr er fort: »Wir werden also frieren, erschöpft sein und hungrig. Aber wir werden nie aufgeben, müssen immer bereit sein zu improvisieren – langsam und kontrolliert. Wir haben Zeit, und wenn nicht, nehmen wir sie uns.«
Haemmerli erläuterte jetzt die Schichten seiner »Überlebenszwiebel«: Die richtige Kleidung entscheide über Leben und Tod, und dazu gehöre vor allem angemessenes Schuhwerk. Jeder sollte Allroundstiefel tragen und diese in der verbleibenden Zeit im Bunker einlaufen. Wer keine habe, solle sich bei Freunden unter Wahrung der strikten Geheimhaltung welche besorgen oder in der Ausrüstungskammer der MPIG schnorren. Die Schnürsenkel müssten mit Fett eingerieben werden. Hinzu kämen mehrere Paar Wollsocken.
Detailverliebt beschrieb Haemmerli die Verwendung langer Thermounterwäsche und das Tragen mehrerer T-Shirts unter einem Pullover, weil auf diese Weise isolierende Lufteinschlüsse entstünden. Zuletzt folgte die Beschreibung der wind- und wasserdichten Winterjacke mit Kapuze sowie von Handschuhen und Schal.
Als es an die Regeln für das Packen eines Rucksacks ging, verlangte Haemmerli höchste Konzentration. Alle sollten nur das mitnehmen, was unbedingt gebraucht würde, denn das Gewicht dürfe nicht mehr als ein Viertel des eigenen Körpergewichts betragen.
»Keep it simple and stupid«, schwor er seine Gruppe ein.
Oliver und Carolin bat er, für einen professionellen Verbandkasten zu sorgen. Dann präsentierte er ein selbstaufstellendes Zelt aus flexiblen Teleskopstangen, empfahl praktikable Konserven, Kochgeräte und Zunder zum Feuermachen, kurz, er vermittelte kompakt all das Wissen, das er sich in seiner Ausbildung über Jahre angeeignet hatte.
»Sie sind aber gradlinig, Herr Haemmerli«, sagte von Holtzendorff bewundernd.
»Überleben ist alles, das macht gradlinig. Kompliziert werden die Dinge von alleine, oddr?«
Haemmerlis Augen suchten Blickkontakt zu allen Anwesenden, während er seine Pläne weiter ausführte.
»Wenn wir Dienstagabend in Davos ankommen, besteht die Möglichkeit, dass wir in einem Gebäude Schutz finden. Sicher ist das aber nicht, denn niemand hat eine Vorstellung davon, was uns oben erwartet. Finden wir kein festes Quartier, machen wir Feuer und biwakieren im Freien. Das steht uns ohnehin irgendwann bevor.« Seine Arme vollführten eine beruhigende Geste, da er in den Gesichtern Angst las. »Keine Sorge, was Davos angeht, bin ich optimistisch. Ich bin da aufgewachsen. Und ein Zelt in den Alpen bei minus zwanzig Grad ist praktisch mein zweites Zuhause.«
Vor dem Krieg hatte Haemmerli in einer Zweizimmerwohnung am Ortsrand von Davos gewohnt, unweit seiner Eltern. Sein Vater hatte bei der Züricher Kantonalbank gearbeitet, seine Mutter war Hausfrau gewesen. Wäre er ihren Wünschen gefolgt, hätte er die Laufbahn eines Bankangestellten eingeschlagen und wäre wahrscheinlich im Bombenhagel verdampft. Es nagte an ihm, durch Zufall überlebt und seine Familie zurückgelassen zu haben.
»In Davos schlagen wir uns zur anderen Seite des Ortes durch«, fuhr Haemmerli fort. »Da gibt es eine Skistation und vielleicht auch Schneemobile oder etwas Ähnliches, das uns die Reise nach Süden erleichtern könnte. Bis Locarno sind es etwas mehr als 150 Kilometer.«
»Warum nach Locarno und nicht nach Zürich?«, fragte Georg von Holtzendorff, der an die Stadt mit einer naiven Sehnsucht dachte.
»Ich fürchte, wir finden dort nur Asche und Eis – oder Schlimmeres. Wir müssen den großen Städten ausweichen. Und Locarno liegt im Süden. Je weiter wir nach Süden gelangen, umso besser.« Ein verschmitztes Lächeln huschte über Haemmerlis Gesicht. »In Locarno liegt übrigens ein Militärflugplatz, wo die Ausbildung der Siebzehner stattfand. Natürlich wissen wir nicht, wie jetzt das Klima da ist und ob Startbahn und Flugzeuge noch brauchbar sind. Aber wenn ja, haben wir eine Chance, sehr schnell weiter nach Süden zu gelangen.«
Alle wussten, dass Haemmerli nicht nur Erfahrungen als Fallschirmspringer hatte, sondern auch über eine Pilotenlizenz verfügte.
»Falls es eine Möglichkeit gibt, wohin willst du fliegen, Marius?«, fragte Oliver.
Es schien, als hielten alle einen Moment den Atem an. Haemmerli rieb sich den Nacken und blickte zu Boden.
»Unser endgültiges Ziel liegt wohl nicht in Europa, was?«, fragte Hasso Simpkins scharf.
»Ganz recht.«
»Könnten Sie ein bissel präziser werden, Haemmerli? Wir haben da schließlich ein Wörtchen mitzureden!«
»Das hängt von den Bedingungen ab, die wir vorfinden, Simpkins. Vom Ausmaß der Eiszeit, die oben herrscht. Vielleicht reicht Süditalien. Wenn nicht, dann Nordafrika. Oder eben dorthin, wo noch Leben möglich ist.«
Ein Raunen ging durch die Besenkammer.
»Scheiße«, fluchte Simpkins, »vielleicht in die Zentralafrikanische Republik?«
Angst stach Oliver in die Glieder. Er verschränkte die Arme, verkrallte die Hände in den Oberarmen und hasste plötzlich aus tiefster Seele jene Gewissenlosen, die den Krieg angezettelt hatten. Als Vertriebene, als Flüchtlinge würden sie aufbrechen in die Fremde, Tausende Kilometer entfernt von der vernichteten Heimat. Gab es überhaupt noch eine Zukunft?
Haemmerli ließ der Gruppe keine Zeit. »Ich bitte um Ihre Aufmerksamkeit! Unterwegs treffen wir vermutlich auf andere Überlebende. Führen wir uns vor Augen, dass die Gesellschaft zusammengebrochen ist und die Ressourcen zerstört sind. Die Welt hat gebrannt, und niemand hat gelöscht. Also müssen wir anderen gegenüber ein gesundes Misstrauen bewahren und uns darauf vorbereiten, uns notfalls mit der Waffe zu verteidigen.«
»Sie meinen, wir sollen auf Menschen schießen?«, fragte Carolin von Holtzendorff. Sie hatte den Kopf gehoben und sich in die Höhe gestreckt. Ihre Augen leuchteten. Oliver beobachtete sie und bewunderte ihre Schönheit und ihren Mut. Sie sah ihn an, und beide tauschten ein flüchtiges Lächeln.
»Ganz recht«, sagte Haemmerli.
»Glauben Sie wirklich, das wird nötig sein? Meinen Sie nicht, wir treffen auch auf Leute, die uns helfen wollen? Sehen Sie das nicht zu pessimistisch?«
»Nein, Frau von Holtzendorff. Ich bin der geborene Optimist, wie Sie wissen, sonst würde ich das hier gar nicht versuchen. Aber wir müssen vorbereitet sein. Keine Sorge, darum werden Herr Isler und ich uns kümmern. Wir führen Sie da durch, das verspreche ich Ihnen.« Während Haemmerli sprach, wich er ihrem Blick aus. »Aber natürlich haben Sie recht. Es gibt da draußen bestimmt auch freundlich gesonnene Leute. Dann ist es die beste Strategie, mit ihnen zu kooperieren. Die Erfahrung ist, dass in solchen Situationen Geschenke ein guter Zugang zum Wohlwollen anderer sind. Darauf sollten wir uns vorbereiten und so viel mitnehmen, wie wir tragen können.«
Die Gruppe diskutierte, welche Geschenke sie für potenzielle Begegnungen mitnehmen sollte: Hasso Simpkins plädierte für Zigaretten, Carolin für einen Kompass, Walkie-Talkies und Sonnenschutzcreme, Haemmerli für eine Pistole und ein Schweizer Taschenmesser. Zudem bat er Simpkins, den Geigerzähler zur Messung der Kontamination mitzunehmen.
Olivers Kopf rauchte. Haemmerlis Worte hatten ihn schockiert. Er ahnte, wie hart die Reise durch die zerstörte, verstrahlte Welt werden würde. Zum ersten Mal wurde ihm bewusst, dass da draußen nichts mehr war wie zuvor. Sicherheit, die selbstverständliche Versorgung mit allem Notwendigen und das Vertrauen in einen funktionierenden Staat, all dies gehörte der Vergangenheit an.
»Und was ist mit der Strahlung, Haemmerli?«, fragte Simpkins. »Da oben hat immerhin ein verdammter Atomkrieg gewütet. Wie wollen wir uns dagegen schützen? Haben Sie Jodtabletten gebunkert?«
»Nein, wir brauchen keine Jodtabletten«, erklärte Haemmerli. »Die sind leider kein Allheilmittel, denn sie schützen nur die Schilddrüse vor Jod-131, und das auch nur in den ersten Tagen nach Austreten von Strahlung. Sie helfen weder gegen Strontium noch gegen Cäsium, auch nicht gegen Plutonium oder Uran.«
Wieder lasteten von Sorgen gezeichnete Blicke auf Haemmerli.
»Sicher werden wir was abbekommen. Aber sieben Monate nach dem Krieg ist der schlimmste radioaktive Niederschlag runter und liegt hoffentlich in den unteren Schneeschichten. Wichtig ist nur, die Kontaktzeiten so kurz wie möglich zu halten und auf unsere Ausrüstung zu vertrauen.«
»Das soll alles sein?«, fragte der alte von Holtzendorff.
»Glauben Sie mir«, legte Haemmerli nach, »meine größte Sorge ist nicht die Strahlung, sondern die Kälte und das UV-Licht, wegen der aufgelösten Ozonschicht. Letzteres ist vielleicht nicht ganz so arg, denn im Moment wird die Sonne noch stark vom Ruß in der Stratosphäre absorbiert. Der Rest ist Schicksal.«
Nervöse Gespräche liefen durch die Gruppe. Nachdem weitere Details geklärt worden waren, löste sie sich auf. Kurz bevor Carolin an der Reihe war, unauffällig in den Flur geschleust zu werden, fragte sie Haemmerli: »Was wird eigentlich aus den anderen Bewohnern? Den Gefangenen? Können wir nicht mehr Menschen mitnehmen? Oder noch besser, das Kommando im Bunker an uns reißen und alle retten?«
»Darüber habe ich natürlich nachgedacht«, erwiderte Haemmerli stirnrunzelnd, »und bin immer wieder zum selben Ergebnis gekommen: Ich bin weder in der Lage, eine Revolution anzuführen und zu gewinnen, noch dazu, oben die Sicherheit für eine größere Gruppe zu garantieren.«
Darauf signalisierte Carolin ihm mit einem Blick, dass sie verstanden hatte und es akzeptierte. Die Zurückbleibenden würden ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen müssen. Dann verschwand sie in den Flur. Zurück blieben Haemmerli und Oliver, der sich ebenfalls anschickte zu gehen.
»Einen Moment, Oliver. Adrian wird gleich hier sein. Wir müssen noch etwas Wichtiges mit dir bereden.«
Eine neue Facette drängte sich in Olivers Palette diffuser Ängste: Versagensangst. Er ahnte, was Haemmerli von ihm verlangen würde.
»Was meinst du, Marius?«, fragte er, zog die Arme nach oben und blieb stehen.
»Ich habe vorhin den Notausgang neben dem Gewächshaus erwähnt. Meine Chipkarte funktioniert nicht für diese Sicherheitstür. Wiegele hat das vermutlich umprogrammieren lassen.«
»Und? Was heißt das?«, unterbrach ihn Oliver, der sich wie alle anderen darauf verlassen hatte, dass Haemmerli die Gruppe nicht nur führen, sondern sich auch um unbequeme Details der Flucht kümmern würde. Der Ärger über seine Naivität schnürte ihm den Hals zu.
In diesem Augenblick öffnete sich die Tür, und Isler schlüpfte in die Kammer. Er trug die Uniform der MPIG, bei deren Anblick Oliver zusammenzuckte.
»Habt ihr schon miteinander geredet?«, fragte Isler sofort.
»Wir sind noch nicht ganz fertig«, sagte Haemmerli.
Unruhig wippte Oliver von einem Fuß auf den anderen und verzog nervös den Mund. »Ich weiß schon, was ihr von mir verlangt. Nicht umsonst startet das Unternehmen Dienstagmorgen, richtig?«
»Richtig«, bestätigte Isler. »Traust du dir zu, Wiegele die Chipkarte abzunehmen?«
Die Aufgabe drohte, Oliver aus der Fassung zu bringen. Am liebsten wäre er geflüchtet und hätte sich in seinem Zimmer eingeschlossen. »Ich weiß es nicht. Wiegele ist misstrauisch wie ein Wolf, und bei der momentanen Situation im Bunker …« Er kratzte sich am Hinterkopf und sprach weiter. »Ihr müsst euch das so vorstellen: Wiegele ist ein psychischer Messerstecher. Er ist raffiniert und wandlungsfähig, manipuliert andere Menschen. Er ist immer und überall und tut, als sei nichts gewesen. Wir müssen auf der Hut sein.«
»Es muss klappen, Oliver«, beschwor Haemmerli ihn und fasste ihn an beiden Schultern. »Manchmal muss man bereit sein, für etwas zu sterben und im Extremfall sogar zu töten. Geh so an die Sache heran! Unser aller Leben hängt davon ab, dass wir hier rauskommen!«
»Und wie soll das konkret vor sich gehen?«
»Unser Plan heißt Oliver, weil nur du Wiegeles Gewohnheiten kennst und weil du als Arzt einen Knockout-Drink mixen kannst, um ihn Wiegele im passenden Moment einzuflößen.«
»Knockout-Drink, okay. Aber wenn er am Montag gar keine Lust auf Alkohol hat? Oder auf eine lausige Limo? Was ist, wenn er nicht mal Lust auf Tischtennis hat?«
Während er seine Zweifel aussprach, begriff Oliver, dass er nach Ausreden suchte. Er sah Haemmerli und Isler an und deutete mit dem Zeigefinger in ihre Richtung. »Sagt mal, Freunde, warum wollt ihr mich eigentlich als Bauern einsetzen, wenn ihr doch die Bajonette in den Händen haltet und viel besser als ich in der Lage seid, sie auch zu nutzen?«
»Weil Plan B viel zu riskant wäre. Und zu blutig«, gab Haemmerli zu. »Natürlich kann ich zu Wiegele gehen und ihm eine Pistole an den Schädel halten, um ihm die Karte abzunehmen. Aber er könnte Alarm auslösen, und dann hätten wir hier ganz schnell ein Scharmützel, bei dem ich auf meine eigenen Männer schießen müsste. Du hast es selbst gesagt: Der Kerl ist durchdrungen von Misstrauen. Er ist es einfach nicht gewöhnt, dass ich abends unter einem Vorwand an seine Tür klopfe.«
»Können wir also auf dich zählen, Oliver?«, fragte Isler direkt.
»Wir stehen bereit, wenn etwas schiefgeht«, ergänzte Haemmerli.
»Ja, ich lasse mir etwas einfallen. Ich mixe ihm einen Schlaftrunk, nach dem er nicht einmal mehr wissen wird, dass je Krieg war.«
In schweigendem Einverständnis schüttelten die Männer sich die Hände.
Nachdem Haemmerli die Kammer verlassen hatte, ging er zum Gefängnistrakt, der sich nur ein paar Türen weiter in der Nähe des Kontrollraums befand. In zwei der sechs Zellen, wusste er, saßen die Eheleute Brennecke ein, in zwei weiteren Widmer und Casentieri, die Mitglieder des Konsortiums, die am Vormittag inhaftiert worden waren.
Haemmerli schob die Sichtluke in Casentieris Stahltür auf. Der Gefangene saß auf der Liege in einer karg eingerichteten Zelle. Den Kopf hatte er auf die Knie gelegt, die Hände umfassten die Unterschenkel. Langsam, wie aus einer Betäubung, hob er den Kopf.
»Verschwinden Sie«, brummte er.
»Ich muss mit Ihnen reden«, flüsterte Haemmerli. »Vielleicht kann ich Ihnen helfen.«
»Wie ich sagte, verschwinden Sie, das Spiel ist aus. Niemand kann mich vor Wiegele retten, Haemmerli. Sie schon gar nicht. Sie sind doch seine rechte Hand, also genauso ein Schwein.« Damit drehte er sich weg, legte sich hin und schloss die Augen.
Betroffen verzog Haemmerli den Mund und schob die Luke wieder zu. Einen Moment lang blieb er stehen, griff sich an die Nase und kniff die Augen zusammen. Dann ging er zu Widmers Zelle, den er für zugänglicher hielt. Christian Widmer war Chef einer deutschlandweit agierenden Anwaltskanzlei gewesen. Im Bunker musste er aufgrund seiner ausgeprägten Klaustrophobie regelmäßig Psychopharmaka nehmen.
Haemmerli zeigte sich ein Bild von Panik: Widmer hockte mit angewinkelten Beinen auf der Liege unter einer Decke, zitterte und wimmerte. Gegenstände lagen auf dem Boden, ein Schrank war umgestoßen worden.
»Widmer«, sprach ihn Haemmerli mit gedämpfter Stimme an, »ich muss mit Ihnen reden!«
Langsam, unter geduldigem Zureden, schaffte er es, Widmer zurück in die Realität zu holen. Schlotternd schlurfte er zur Tür.
»Warum sind Sie wirklich festgenommen worden?«
»Ihre Leute waren doch dabei, Haemmerli. Casentieri und ich wollten angeblich fliehen.«
»Angeblich?«
»Nur ein Vorwand, um uns kaltzustellen. Wir haben einfach nur Angst vor dem verstrahlten Wasser und wollten nicht länger warten.«
»Warten worauf? Sie müssen schon etwas deutlicher werden!« Ungeduldig trommelte Haemmerli mit den Fingern gegen die Tür.
»Wiegeles Vater sitzt in einem Bunker bei Zürich, zu dem Wiegele Kontakt hat«, erklärte Widmer. »Dort ist alles in bester Ordnung, sagt er, keine Verstrahlung und so. Die haben angeblich gigantische Wasservorräte.«
»Das höre ich zum ersten Mal.«
»Ja, es ist ja auch geheim. Wir wollten also nach Zürich und …« Plötzlich stockte Widmer und spähte durch die Luke in den Gang. Dann flüsterte er so leise, dass er kaum mehr zu verstehen war: »… und Wiegele riet uns zum Ausstieg.«
»Was? Das kapiere ich nicht. Er selbst riet Ihnen dazu?«
»Ja, genau. Er hat uns gesagt, kein Problem. Er war ganz menschlich, Schulterklopfen, kleine Witze, Sie kennen ihn ja. Schließlich hätten wir vom Konsortium Privilegien. Wir sollten Vorräte und Waffen mitnehmen, um die Vorhut für die Versorgungsbrücke zu werden.«
»Versorgungsbrücke?«
»Ja, Wiegele hat versprochen, das Wasserproblem binnen weniger Wochen zu lösen – mit Schneemobilen und den Hubschraubern seines Vaters. Er will solange im Pischahorn ausharren, bis der Winter vorüber ist.«
Widmer winkte ab und begann zu schluchzen. Es dauerte einige Momente, bis er seine Stimme wieder unter Kontrolle bekam.
»Als wir den Köder dann geschluckt hatten, kamen die Sicherheitsleute und servierten uns ab. Ich sage Ihnen, der Mann ist der Teufel!«
»Das tut mir leid.«
»Können Sie mir helfen, Haemmerli? Ich hab solche Angst, dass das Schwein mich umbringt!«
Haemmerli umfasste einen Gitterstab der Luke und leckte sich über die Lippen. »Ich werde sehen, was ich tun kann. Mit ihm reden, aber …«
»Ja, reden Sie mit ihm, Haemmerli!« Widmers Augen flackerten. »Sie sind einer der wenigen, die Zugang zu ihm haben. Aber ich warne Sie: Streiten Sie nicht mit ihm! Keine Wortgefechte! Die letzten beiden, die sich mit ihm gezofft haben, liegen in der Leichenkammer.«
»Wen genau meinen Sie? Thiele, den Unternehmer aus Düsseldorf?«
»Genau den und Leonardo Turtschi!«
»Turtschi?« Haemmerli riss die Augen auf.
»Turtschi sprach bei einer Versammlung des Konsortiums offen über das verseuchte Wasser und die Verstrahlung. Er hatte sogar schon Informationsblätter für die Bewohner vorbereitet. Er wollte alle aufklären und plädierte für einen raschen Ausstieg. Wiegele schrie ihn zusammen. Es kam zu einem Streit, den ich Turtschi nie zugetraut hätte. Sie stritten um die Wasservorräte in den Flaschen. Wiegele hatte natürlich gut reden mit seinem riesigen Privatvorrat.« Widmer lachte sarkastisch auf. »Verdammt aber auch, bei seinem Wasser verstand dieser Nerd überhaupt keinen Spaß.«
»Nein, er war auch sonst ziemlich humorfrei, der gute Turtschi. Dafür aber viel zu offenherzig.«
»Das war ich auch«, sagte Widmer bitter, sank hinter der Tür auf die Knie und gab sich stumm seinem Schmerz hin.