Читать книгу Der Weizen gedeiht im Süden - Schulz Erik D. - Страница 6
Kapitel 2
ОглавлениеOliver Bertram schlief schlecht. Das lag an den Erwartungen an ihn, mit denen er schwer zurechtkam. Ständig schwirrten Probleme und Sorgen durch sein Hirn.
Er trug die Verantwortung für das Gewächshaus und den Weizenanbau, der für die nächsten Monate oder sogar Jahre einen wichtigen Teil der Lebensgrundlage für 300 Menschen bildete. Seine Kenntnisse in Agrarwissenschaft halfen ihm dabei, aber auf sich gestellt den richtigen PH-Wert des Bodens zu finden, ihn angemessen zu bewässern und zu düngen, die Beleuchtung optimal einzustellen, Schädlingsbefall zu verhindern und die ökonomischste Saatstärke zu ermitteln, all dies waren komplexe Aufgaben.
Erst in den frühen Morgenstunden döste Oliver ein und begann zu träumen, einen in Facetten oft wiederkehrenden Traum. Er saß auf der Terrasse eines französischen Restaurants in Berlin und wartete in der Abendsonne auf seine Frau. Nach einer Weile kam Michelle. Sie gab ihm einen Kuss und sah hinreißend aus, eine zarte, blonde Schönheit. Sie stießen an mit Crémant Rosé. Glückliche Momente ihrer gemeinsamen Zeit zogen vorbei. Er trug Michelle auf den Schultern durchs Grün der schottischen Lowlands … eine erotische Begegnung am Rande einer Party während ihrer Studentenjahre … eine Schifffahrt auf dem Sankt-Lorenz-Strom in Kanada … ein Sonnenuntergang auf ihrem Wassergrundstück bei Berlin … Und dann saßen sie wieder auf der Restaurantterrasse, aßen und tranken. Michelle sagte etwas zu ihm, doch er verstand sie nicht.
Als er aufwachte, fühlte Oliver sich zerschlagen. Montagmorgen. Ein paar Minuten wälzte er sich im Bett und vergrub das Gesicht im Kissen, bevor er langsam die Augen öffnete. Auf dem Nachttisch stand ein Foto von der Frau, von der er soeben geträumt hatte: die langen blonden Haare, der schön geschwungene Mund mit den blutroten Lippen, die leuchtend grünen Augen, ein strahlendes Lachen.
Jeden Tag machte Oliver sich Vorwürfe, dass er Michelle nicht entschlossener gedrängt hatte, ihre Dienstreise nach Brasilien abzusagen. Sie hatte dort als Onkologie-Professorin ein Studienzentrum in Barretos betreut. Bis zum Schluss hatte sie auf eine diplomatische Lösung der USA-China-Krise vertraut. Die meisten Menschen hatten damals gehofft, dass die politische Lage sich beruhigen, alles in gewohnte Bahnen zurückkehren würde. Zwei Tage vor den ersten Bomben war Oliver mit Annabel, seiner Tochter, in den Bunker geflohen. Von Michelle hatte er nie wieder etwas gehört.
Oliver setzte sich auf mit einem langgezogenen Stöhnen, stützte das Gesicht in die Hände und sah sich um. Zusammen mit Annabel bewohnte er ein Zimmer im Obergeschoss, schmucklos, funktional. Hinter einer glänzenden Holzwand verbargen sich Einbauschränke. Eine Marmorablage teilte die zweiundvierzig Quadratmeter in einen Bereich für ihn und Annabel. Es gab eine kleine Küchenzeile, ein weißes Sofa und einen Schreibtisch.
Er stand auf und schlurfte zur Außenwand aus Sichtbeton, um den Vorhang aufzuziehen. Der Bildschirm, der ein Fenster vortäuschte, zeigte die Berglandschaft im Morgengrauen. Die Sehnsucht, ein richtiges Fenster zu öffnen und frische Luft zu atmen, wuchs kurz ins Schmerzhafte. Dann schob er sie weg.
Wie jeden Montagabend stand der Jour fixe mit Fabio Wiegele an. Sie spielten zusammen Tischtennis, gingen an die Bar im Casino oder hörten Musik in Wiegeles luxuriösem Appartement. Das verband sie, doch von Freundschaft hätte Oliver kaum gesprochen, eher von Bekanntschaft. Zu groß war das Spannungsfeld zwischen kumpelhafter Nähe und plötzlich autoritärem Gebaren. Für eine echte Freundschaft fehlte Wiegele die Fähigkeit, Kritik anzunehmen, einen Spiegel vorgehalten zu bekommen. Je länger Oliver den Bunkerchef kannte, umso mehr wuchs seine Gewissheit, dass etwas mit ihm nicht stimmte. War es eine Profilneurose oder doch eine gefährliche soziopathische Prägung, tief eingegraben in seine Persönlichkeit? Trotz seiner psychiatrischen Fachkenntnisse vermochte Oliver den beunruhigenden Kern dieses Mannes bisher nicht freizulegen.
Er knipste die Stehlampe an und sah nach Annabel. Sie schlief noch. Ihre Füße lugten unter der Decke hervor, ihre langen rotbraunen Haare breiteten sich wie Strahlen auf dem Kissen aus. Mit 14 ein so langer Schlacks, dachte er zärtlich.
Er zündete ein Teelicht an und stellte es in den Leuchtturm auf ihrem Nachttisch. Sie liebte dieses Souvenir aus Keramik, das sie sich während eines Urlaubs an der Ostsee gekauft hatte. Schon in Berlin hatte der Turm immer neben ihr auf dem Schreibtisch leuchten müssen, beim Fernsehen oder am Bett – ein richtiger Spleen. Er streichelte über ihr Haar und gab ihr einen Kuss, woraufhin sie sich räkelte und murrte.
Vater und Tochter frühstückten an einem kleinen Tisch neben der Küchenzeile.
»Was liegt bei dir heute an?«, fragte Oliver.
»Wir schreiben in Bio einen Test über das Auge. Soll ich dir was darüber erzählen?«
»Sicher. Immerhin erwarte ich von einer Medizinertochter in Bio eine Eins.«
»Immer diese Erwartungshaltung.« Annabel stöhne theatralisch, dann erklärte sie ihrem Vater das Zusammenspiel der verschiedenen Elemente des Auges: Glaskörper, Iris, Pupille, Netzhaut, Zonulafasern, Ziliarkörper …
»Perfekt!«, lobte Oliver. »Du wirst das schon machen, sehe ich.«
Annabel war überdurchschnittlich intelligent, ihr Hunger nach Wissen erstaunlich. Ihr erklärtes Ziel war es, Ärztin zu werden. Universitäten gab es nicht mehr, doch irgendwie würde sie ihren Traum schon verwirklichen. Ganz die Mama, dachte Oliver.
Ohne Appetit aß er sein Rührei aus Pulver. Er sehnte sich nach frischen Eiern aus dem Bioladen, nach sonnengereiftem Frischobst, nach warmen, knusprigen Brötchen.
»Und was liegt bei dir an, Paps?«
»Ach, ich sehe mal nach meinen Halmen, ob sie strammstehen und gedeihen. Dann mache ich meine Analysen im Labor. Noch einen Ernteausfall kann ich mir nicht leisten.«
Die erste Weizenernte war deutlich hinter den Erwartungen zurückgeblieben, was einen Wutausbruch Wiegeles zur Folge gehabt hatte. Er hatte ihm gedroht, ihn vor die Tür zu setzen, wenn sich so ein »beschissener Dilettantismus« wiederholen würde.
»Du wirst das schon machen, Paps.«
Gemeinsam verließen sie die Wohnung. Annabel trug ein bedrucktes, den Bauchnabel freilassendes Top, das sie selbst geschneidert hatte, darüber eine Fellweste und ein kurzes schwarzes Kleid. Manchmal fand Oliver ihr Outfit zu gewagt, vor allem, wenn es zu sehr ihre sich bereits entwickelnden Reize betonte. Ihn beunruhigten die Blicke, die manche Männer ihr nachwarfen.
Der Unterricht fand in Gruppen zu je sechs Kindern statt. In ihrer Klasse hatte Annabel sich mit Christian Simpkins angefreundet, den sie um den Finger wickelte. Er war häufig bei den Bertrams zu Besuch, um seinen streitenden Eltern aus dem Weg zu gehen. Annabel tanzte mit ihm Streetdance, veranstaltete allen möglichen Blödsinn, und die beiden erledigten zusammen ihre Hausaufgaben – in dieser Rangfolge. Christian half Annabel über den Verlust ihrer Freundinnen hinweg. Auch die sozialen Netzwerke und das Shopping vermisste sie.
Nachdem Oliver sich vor den Schulräumen im zweiten Stock von seiner Tochter verabschiedet hatte, stieg er hinunter in die Techniketage, wo sich die Gewächshäuser befanden. Von einem zwanzig Meter langen Tunnel zweigten drei Höhlen ab, die separat vom Bunker in den Fels gemeißelt waren. Über die Hälfte der Fläche nahm das Weizenfeld ein, ein Bereich war mit Kartoffeln bepflanzt und der kleinste mit Obst und Gemüse. Die 25000 Quadratmeter messenden Areale entsprachen der Größe aller drei Etagen des Bunkers. Obwohl nur 300 der insgesamt 500 Plätze belegt waren, reichte die nutzbare Fläche nicht für eine autarke Versorgung. Sie diente zur Ergänzung der Konserven- und Tiefkühlvorräte.
Der Agraringenieur, der das Gewächshaus hätte leiten sollen, hatte es nicht rechtzeitig in den Berg geschafft. Für ihn wie für 200 andere Inhaber eines Bunkerplatzes war der Emergency Call zu spät gekommen. Oliver hatte seinen Posten bekommen, weil er im Sudan ein halbes Jahr an einem Joint Venture zwischen der Firma seines Vaters und einem chinesischen Unternehmen mitgewirkt hatte, konkret bei der Optimierung des Insektizideinsatzes beim Weizenanbau. Dieser Job war die beste Therapie seiner Burn-Out-Depression gewesen, die er in der psychiatrischen Klinik erlitten hatte. Damals musste er dringend raus aus dem stressigen Alltag, sonst wäre er womöglich als Patient in der eigenen Klinik gelandet. Seitdem hatte er aufgrund von Versagensängsten nie wieder als Psychiater gearbeitet.
Ihn erfüllte die Aufgabe im Gewächshaus mit Stolz und Genugtuung, und sie bewahrte ihn vor Langeweile. Andererseits rief sie ein latentes Gefühl von Überforderung hervor. Neben der Verantwortung für die Erträge hatte er den Hut für zwölf Mitarbeiter auf, Firmenangestellte und Freiwillige, die sich von der Ödnis des Bunkeralltags ablenken wollten. Auf seine Anweisungen hin pflügten, säten, jäteten und ernteten sie, bedienten den kleinen Mähdrescher und regulierten das ausgeklügelte Bewässerungssystem und die High-End-Beleuchtung.
Oliver betrat den mächtigen Stollen, warf einen kurzen Blick hinauf zu den taghellen Lampen an der Decke und begutachtete den Acker. Der Weizen bildete erste Ähren aus. Bald würde die Ernte anstehen. Die Mühe hatte sich gelohnt. Als er mit einem Handbohrstock in den Boden stechen wollte, stand plötzlich Haemmerli neben ihm und legte ihm eine Hand auf die Schulter.
»Verdammt, Marius, hast du mich erschreckt!«
»Unbemerkt anpirschen gehört zu meinem Geschäft«, sagte Haemmerli grinsend, seine Augen aber blickten ernst. »Sorgst für frisches Brot, oddr?«
»Ja, gebe mir Mühe. In drei Wochen ist Ernte.«
»Mein Gott, was ist langweiliger als Landwirtschaft?« Der flache Witz täuschte nicht über Haemmerlis Anspannung hinweg.
»Du besuchst mich doch sonst nicht auf dem Feld.« Oliver rammte den Bohrstock in den Boden. »Also, was hast du auf dem Herzen?«
»Bist du sicher, dass sich nicht Big Brother hinter einem deiner Halme versteckt?« Haemmerli nestelte am Kragen seiner Uniform herum, zog die Augenbrauen zusammen und spähte über das Feld. »Ich hab dir was Wichtiges zu sagen.«
»Was ist los?«, fragte Oliver besorgt. Da Haemmerli ihn nicht ansah, sondern nervös die Höhle absuchte, schob er nach: »Wenn wir leise reden, hört uns kein Mensch.«
»Turtschi ist gestern Nacht aufgefunden worden. Tot!« Die Nachricht brachte Haemmerli langsam und so besorgt hervor, wie Oliver es noch nie bei ihm erlebt hatte.
»Großer Gott! Wie …«
»Er ist die Treppe zum Untergeschoss runtergestürzt und hat sich dabei den Schädel aufgeschlagen.«
»Was? Und war gleich tot?« Hitze stieg in Oliver auf.
»Na ja, Wiegele meint, so ist es gewesen«, sagte Haemmerli. »Turtschi hat eben einen kleinen Unfall gehabt … Alles ganz eindeutig, oddr? Ein Mann rauscht die Treppe herunter, bricht sich den Schädel, der Mann ist tot und damit basta. Keine Untersuchung, Fall abgeschlossen.«
Oliver beschlich die dunkle Ahnung, dass sich das monotone Leben im Luxuskäfig ab sofort grundlegend ändern würde. Auf einmal hatte er das Gefühl, als verwandle sich der Boden unter ihm in Schlamm. Um nicht einzusinken, hob er abwechselnd die Füße. Der Tod Turtschis schockierte ihn. Ein kauziger, chaotischer Einzelgänger, immer freundlich.
»Du glaubst nicht an einen Unfall?«
»Da ragten Knochenstücke aus der Schädeldecke, Oliver. Es sah aus, als hätte ihm jemand mit einer Eisenstange den Schädel zertrümmert.«
»Kann das nicht durch die Treppe passiert sein?«
»Du hast ihn nicht gesehen. Er hat mich an den Mann erinnert, den wir nach dem Sturz in eine Schlucht geborgen haben.«
Einen Augenblick verharrte Haemmerli mit erhobenem Kopf und atmete tief durch. »Ich denke, Turtschi ist ermordet worden.«
»Verdammt, wer sollte so was tun?« Mit kalten Händen umklammerte Oliver den Bohrstock, stocherte in der Krume und blinzelte. »Malst du nicht zu schwarz?«
»Ich male nie schwarz, das weißt du.«
Das stimmte. Haemmerli war der geborene Optimist. Selbst hier unten, nach einem verheerenden Nuklearkrieg, redete er davon, bald wieder nach draußen zu gehen. Die Welt würde sich schon erholen.
»Vielleicht wusste er von Sachen, die wir nicht wissen. Oder er hat dem Diktator in die Suppe gepinkelt. Oder beides. Jedenfalls stimmt hier irgendetwas nicht.« In knappen Sätzen berichtete Haemmerli von den merkwürdigen Artefakten, die er auf den Kamerabildern entdeckt hatte.
»Weißt du was«, resümierte er, »ich glaube, das wurde von langer Hand geplant und gedeckt.«
Betroffen schwiegen die Freunde für einen Moment.
»Mit diesem Verdacht leben wir gefährlich«, meinte Oliver schließlich. Er spürte, wie seine Knie zitterten.
»Ja, vielleicht. Oh, kam auch gar nicht auf Radio Pischahorn heute Morgen.«
Haemmerli begleitete die Bemerkung mit einem sarkastischen Lacher. Der bunkerinterne Sender gab Organisatorisches durch, brachte selbst produzierte Reportagen und Nachrichten. Ansonsten dudelte alpenländische Volksmusik.
»Ich hab ein paar Dateien von Turtschis Computer gezogen«, sagte Haemmerli und fasste Oliver am Oberarm. »Vielleicht kannst du damit etwas anfangen. Mir ist das zu hoch.« Unauffällig schob er ihm einen USB-Stick zu.
»Wie hast du das angestellt?«
»Meine Chipkarte steht auf der Hierarchieleiter ziemlich weit oben«, erklärte Haemmerli und verabschiedete sich.
»Pass auf dich auf!«
Der Milizkommandant wandte sich lächelnd um. »Ich bin ein Siebzehner, hab Vertrauen.«