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Kapitel 5
ОглавлениеAuf dem Rückweg war Oliver so aufgewühlt, dass er an seiner Wohnung vorbeilief und verwirrt vor der verschlossenen Kantine strandete. Angst schnürte ihm die Kehle zu. Kopfschüttelnd kehrte er um. Als er wieder in seinem Zimmer war, kochte er sich Tee, trank ihn in kleinen Schlucken und wärmte sich langsam auf. Danach legte er sich aufs Bett, knipste das Licht aus und dachte über die veränderte Situation nach.
Erst in den frühen Morgenstunden fand er für wenige Stunden Schlaf und träumte wirres Zeug. Er verbrachte mit seiner Familie einen Urlaub im Elsass, allerdings in einem Dorf, das in der Realität in der Umgebung von Berlin existierte. Am Abend gab es in der Dorfschule eine Gesprächsrunde. Sechzig Schüler und Eltern waren anwesend, fast alle kannte er aus seinem Leben. Der Raum, in dem sie saßen, war jedoch kein Klassenzimmer, sondern ein dunkler Wald mit knochenweißen Stämmen. Was folgte, hatte er schon mehrmals geträumt: Er saß in der Klasse und schrieb an einer wichtigen Prüfung, für die er nicht gelernt, die er aber in der Wirklichkeit längst bestanden hatte. Plötzlich wurde das Elsass von einer feindlichen Macht bedroht, doch die Schüler verfolgten das Geschehen nur aus der Ferne, als beträfe es sie nicht. Dann flog die Tür auf, und die Klasse drängte ins Freie. Jemand umschlang ihn gewaltsam von hinten, sodass er fürchtete, seine gefrorenen Knochen könnten brechen. Überall standen Männer in Uniform herum, und alles lag in Schutt und Asche. Kanonen donnerten, Panzer rollten über die Straßen. Die Klasse flüchtete einen Berg hinauf. Der Aufstieg zerrte an den Kräften. Oben angekommen, erklommen sie einen mächtigen Schlitten und sahen, wie Jagdflugzeuge über den Himmel zogen und das Land bombardierten. Atompilze stiegen auf, und alles versank in einem Flammenmeer. Da begriff Oliver, dass Michelle und Annabel nicht bei ihm waren. Er weinte, bis der Traum in der Morgendämmerung verrann.
»Buongiorno, Paps!«, weckte ihn Annabel und gab ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange. »Hab schon Kaffee und Toasts gemacht. Nun mal raus aus den Federn, der Tag läuft schon!«
»Wie spät ist es?« Oliver fühlte sich wie gerädert.
»Halb neun. Du siehst gar nicht gut aus. Schlecht geschlafen?« Sie begann, ein Lied zu trällern und durch die Wohnung zu tanzen. »Warst ja von den Toten nicht zu erwecken. Komm endlich!«
Schlaftrunken hüllte Oliver sich in seinen Bademantel und trottete zum Frühstückstisch. Sein Gesicht hellte sich auf, als er den dampfenden Kaffee sah.
»Hör mal, Paps, Christian kommt heute nach der Schule zu mir. Wir müssen an einem Referat arbeiten.« Sie senkte den Kopf, neigte ihn zur Seite und sah ihn mit ihren klaren Augen an. »Kochst du uns was Leckeres zum Abendbrot?«
»Leckeres, hm. Ich könnte versuchen, ’ne Bolognese zu zaubern.«
»Das wäre super! Zaubern schmeckt sowieso immer am besten.«
Nachdem Annabel die Wohnung verlassen hatte, um zur Schule zu gehen, zermarterte Oliver sich wieder das Hirn. Obwohl er die zunehmende Verseuchung des Wassers bedrohlich fand, begriff er nicht, warum Haemmerli und Isler so vehement nach draußen flüchten wollten – in den skelettierten Kontinent über ihnen, in eine eisige, verstrahlte, dunkle Welt. Was war ihr Ziel? Wohin konnten sie sich überhaupt wenden? Der nächste bewohnbare Ort lag vermutlich in Afrika, Tausende Kilometer entfernt. Es überstieg Olivers Vorstellung, eine derartige Strecke zu Fuß zurückzulegen, sich frierend und hungrig durch ein verheertes Land zu kämpfen, vorbei an Ruinen und Leichen. Bei diesen Gedanken bekam er Beklemmungen. Selbst bei einem Versuch gab es unter den gegebenen Umständen nicht einmal eine Garantie, lebend aus dem Bunker herauszukommen.
Er beschloss, so lange wie möglich mit Annabel auszuharren. Die Strahlung in seinem Körper würde er regelmäßig messen. Es wäre nicht das erste Mal, dass wissenschaftliche Ergebnisse und die Schlussfolgerungen daraus sich als falsch erwiesen. Er durfte den Daten nicht blind vertrauen. Haemmerli würde er raten, ebenfalls keine voreiligen Schlüsse zu ziehen, alles noch einmal in Ruhe zu überdenken. Vielleicht ließe sich mit Wiegele und dem Konsortium reden. Vielleicht war es möglich, gemeinsam nach einer Strategie für eine andere Wasserversorgung zu suchen. Expeditionen nach Davos schwebten ihm vor, wo er gefrorene Vorräte vermutete. Und wenn alle Stricke rissen, konnten die Bewohner später ja gemeinsam den Ausstieg wagen. Je länger Oliver darüber nachdachte, umso mehr gewann er die Überzeugung, dass es Alternativen geben musste.
Als er sich zum Aufbruch fertig machte, unterbrach Radio Pischahorn die Volksmusik für die Bunkernachrichten. Neben zwei Bagatellen verlas der Sprecher mit sachlicher Stimme eine Meldung: »Norbert Wiemers wird Nachfolger von Leandro Turtschi als Chefingenieur der Wasserversorgung. Er tritt sein Amt sofort an. Als Verfahrenstechniker bringt Wiemers das Profil mit, das für die reibungslose Leitung dieses Bereichs erforderlich ist. Ihm zur Seite gestellt werden zwei weitere kompetente Ingenieure mit hervorragender Expertise in der Verfahrenstechnik und mit Kenntnissen im Anlagenbau. Die Neubesetzung der Leitung der Wasserversorgung ist erforderlich geworden, nachdem der bisherige Leiter, Leandro Turtschi, bei einem tragischen Unfall ums Leben gekommen ist.«
Oliver verließ die Wohnung und stieg hinunter zur zweiten Etage, um mit Haemmerli zu reden. Auf den Gängen begegneten ihm Leute, die er flüchtig kannte: Angestellte, Reinigungskräfte, Wartungstechniker. Heute, in der grundlegend veränderten Lage, fühlte er sich ihnen besonders fremd.
»Na, mein Bester«, begrüßte ihn Haemmerli, »komm rein, stolpere aber nicht.«
Der Zimmerboden war übersät mit Ausrüstungsgegenständen: Kleidung, Waffen, Konserven. Oliver klappte der Mund auf, und seine Augen weiteten sich.
»Was hat das zu bedeuten?«
»Inventur«, erläuterte Haemmerli ernst. »Pass auf, ich zeig’s dir. Unsere Fallschirmpatrouillen operieren so gut wie immer ohne Versorgung, verstehst du? Deshalb müssen wir das gesamte Material mitführen, aber wirklich nur, was mit großer Wahrscheinlichkeit benötigt wird.« Er deutete auf penibel gestapelte Utensilien. »Das ist die innerste Schicht, die dem Überleben dient: Tarnanzug, Mütze, Schal, Survival-Kit mit Kochgefäß, GPS-Gerät, Kompass und Wasserentkeimungsmittel.« Ein trockener Lacher entwich ihm. »Dazu gehört natürlich auch die MP7, eine Maschinenpistole, und die Pistole 75.«
Mit leuchtenden Augen nahm Haemmerli die Maschinenpistole in die Hand. »Ich liebe diese Waffe. Sie hat die Durchschlagskraft eines Sturmgewehrs, ist aber leicht und kompakt. Damit durchlöcherst du auf 200 Meter Entfernung eine kugelsichere Weste aus Titan.«
»Kannst du mal kurz anhalten, Marius? Um Himmels willen, was hast du eigentlich vor?«
Alles Militärische war Oliver fremd. Den Armeedienst hatte er verweigert.
»Gut, ich mach’s kurz. Das Ganze musst du dir vorstellen wie eine Zwiebel. Auf die Überlebensschicht kommt die Kampfschicht. Fünf bis acht Magazine für die MG, dazu Pistolenmagazine. Ich persönlich bevorzuge etwas mehr, besonders im Ernstfall. Dann vier Handgranaten, Funkgerät, Restlichtverstärker, eine Gore-Tex-Hülle, die man auch als Notschlafsack benutzen kann, und natürlich ausreichend Wasser im Zwei-Liter-Camelbak.«
Als Haemmerli sah, dass über Olivers Gesicht Schweißperlen rannen, hielt er einen Moment inne und fasste ihm aufmunternd an die Schulter. Dann fuhr er fort: »Zur Auftragserfüllung gibt’s den 120-Liter-Rucksack oben drauf. Der wird mit allem Möglichen befüllt: Kletterausrüstung, Seile, Spaten und solches Zeug. Kein Mensch hält aber lange ohne Treibstoff durch, und man kann sich nicht darauf verlassen, draußen was Essbares zu finden! Also stopfen wir so viel wie möglich an Verpflegung rein, noch mehr Wasser und einen Gasbrenner. Aber das Überlebenswichtige in der Kälte sind natürlich Schlafsack, Isomatte und Zelt.«
»Großer Gott, wer soll das alles schleppen?«
»Wir.«
»Marius, wir müssen darüber nochmal reden, ich …«
»Ja, am besten auch über Potjomkinsche Dörfer, oddr?«
»Auf was spielst du an?«, fragte Oliver verwirrt. »Ich meine es ernst! Jetzt gleich, im Gewächshaus. Ich muss da ohnehin etwas kontrollieren.«
Im Untergeschoss angekommen, gab Oliver seinen Mitarbeitern Instruktionen für die Mischung des Fungizids, das gespritzt werden musste. Der Weizen hatte inzwischen eine Höhe von knapp einem Meter erreicht, er leuchtete dunkelgrün. Oliver ließ es sich nicht nehmen, Haemmerli eine der bewimperten Ähren zu zeigen.
»Sieh dir das an! Ist das nicht herrlich? Fühl mal, wie weich! Daraus backen wir bald frisches Brot!«
Oliver nahm Pflanzenproben, während Haemmerli unauffällig den Boden nach Mikrophonen absuchte. Als sie sich vor Abhörung sicher wähnten und die Arbeit getan war, setzten sie sich im Schneidersitz zwischen die Halme, duckten sich und begannen zu reden.
»Was meintest du mit Potjomkinschen Dörfern?«
»Die Meldung auf Radio Pischahorn über die angebliche Qualifikation Wiemers, dem neuen Chefingenieur«, sagte Haemmerli sarkastisch. »Das ist das Potjomkinsche Dorf!«
»Damit könntest du recht haben.« Die Eignung von Wiegeles Adlatus für den Posten hielt Oliver ebenfalls für einen Witz.
»Und wie ich damit recht habe! Mich würde wirklich interessieren, was für ’ne Laune die in der Zentrale gerade haben.«
Oliver kratzte sich am Scheitel, beugte sich nach vorn und sah zu Boden. »Vielleicht sollten wir mit Wiegele offen über die Radioaktivität im Wasser reden. Ich meine, er kann doch auch kein Interesse daran haben, hier unten verstrahlt zu werden. Wir könnten einen Suchtrupp nach oben schicken und nach Wasservorräten in Davos suchen. Es muss doch eine Lösung für das Problem geben.«
»Du fällst wohl gern die Treppe runter, oddr?«, entgegnete Haemmerli und unterstrich seine Rede mit energischen Gesten. »Die Scheißfirma hat ein Riesenproblem, ein Führungsproblem. Dieser Wiegele ist ein Psychopath, wenn du mich fragst, eiskalt und gewissenlos. Außerdem sitzt er auf Tausenden Wasserflaschen. Mit dem kannst du nicht verhandeln und auch nicht vernünftig reden. Der geht über Leichen, um seine Ziele durchzusetzen. Hat hier je einer außerhalb des Konsortiums an irgendwelchen Entscheidungen mitgewirkt?«
»Nein«, gab Oliver resigniert zu und kauerte sich zusammen.
»Du kannst ja gerne mal zur Zentrale gehen. Hallo, Fabio, liebes Konsortium, wir haben da auf einem Stick von dem irren Turtschi was über verstrahltes Wasser gefunden! Das wollen wir jetzt mal offen ausdiskutieren!«
»Hör auf!«, flehte Oliver und raufte sich die Haare. »Wir wissen doch noch nicht einmal, ob Turtschi wirklich ermordet wurde und wer dahintersteckt. Es gibt keine Beweise.«
»Natürlich gibt es keine Beweise. Wir sind eben nicht die Mordkommission, Olli, und können uns nur auf unseren gesunden Menschenverstand verlassen. Und der sagt mir, es ist an der Zeit, unser Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen und nicht länger in dieser Falle hier sitzen zu bleiben.«
»Du willst ja wirklich raus«, stellte Oliver entsetzt fest.
»Nicht nur ich …«
Plötzlich hörten sie Geräusche vom Feldrand her, ein Knistern in den Halmen, dessen Echo von den Wänden widerhallte. Es klang, als wiege sanft ein Wind das Feld, der in der Höhle jedoch nie wehte.
Die beiden erhoben sich und spähten über die Ähren. Sie musterten jeden Winkel, aber niemand war zu sehen. Dann duckten sie sich tiefer als zuvor und flüsterten so leise, dass man neben ihnen hätte stehen müssen, um etwas zu verstehen.
»Wer würde denn noch aussteigen wollen?«
»Auf jeden Fall ist Adrian dabei. Und die Holtzendorffs. Du weißt, der Alte hasst Wiegele. Er meint, wir alle sind hier nur Marionetten. Er will raus und noch mal von vorne anfangen.«
»Ist er für solche Strapazen nicht schon zu alt?«
»Danach können wir nicht gehen, das muss er selber wissen. Ich versuche, eine Gruppe von zehn Leuten zusammenzustellen. Das wäre optimal. Die Vorbereitungen laufen schon. Vorräte sammeln, Waffen bereitmachen, Taktik. Adrian hilft mir. Wir denken, in zehn Tagen sind wir startklar. Ich zähle auf dich, Oliver.«
Olivers Mundwinkel senkten sich, er blinzelte und zerknüllte einen Weizenhalm. »Ich kann nicht raus, Marius. Mir ist das einfach zu riskant, vor allem wegen Annabel.«
»Gerade für sie musst du es wagen!« Haemmerli sah Oliver in die Augen und packte ihn am Oberarm. »Schau dir doch mal an, wo du stehst, was für Glück du hattest, in diesem Bunker zu landen. Aber jetzt wird es hier zu gefährlich, der Bunker zur tödlichen Falle. Wach auf! Wiegele ist nicht dein Freund, Oliver, ist es nie gewesen. Er wird dir nicht helfen. Wenn es drauf ankommt, lässt er dich gnadenlos fallen. Der einzig gangbare Weg ist der nach draußen.«
»Hast du denn gar keine Angst? Das ist doch alles Wahnsinn!«
»Ich hab im Death Valley im letzten Moment Wasser gefunden. Und ich habe in der Antarktis überlebt, bei minus zwanzig Grad. Angst kann ich mir nicht leisten. Als ich Turtschis Leiche gesehen hab, wusste ich, die Zeit an diesem Ort ist für mich abgelaufen. Das wird jetzt immer so weitergehen. Bei einem Toten wird es nicht bleiben. Bald werden andere rauskriegen, was wir wissen. Und dann herrscht hier Krieg, Oliver. Krieg ums Wasser.«
Nachmittags kochte Oliver Spaghetti Bolognese. Er verbrauchte das vorletzte Pfund Hackfleisch aus der Tiefkühltruhe, Dosenchampignons und Dosentomaten, H-Schlagsahne sowie Basilikum und Zwiebeln aus dem Gewächshaus. Angespannt starrte er in die Pfanne und kaute auf den Lippen herum. Zwischendurch nippte er an seinem Kaffee.
»Du guckst ja schon wieder so krass«, unterbrach Annabel seine düsteren Gedanken. Sie arbeitete mit Christian an einem Referat über die Stadien der Faltengebirgsentstehung und kam in die Küche, um sich eine Flasche Wasser zu holen.
»Nein, alles okay. Ich konzentriere mich nur auf das Rezept.«
»Du konzentrierst dich aufs Rezept«, sagte sie verächtlich, blies sich ihre Haare aus der Stirn und sah ihn durchdringend an. »Am Arsch! Und guckst, als ob der Rest der verschissenen Welt auch noch untergehen würde?«
»Kommst du vielleicht mit etwas weniger Kraftausdrücken aus?«
»Okay. Aber du könntest mir ruhig sagen, was los ist. Das macht einem ja Angst, dieser … dieser Doomblick!«
Damit ging sie zurück zu ihrem Freund. Sie diskutierten über den Himalaja und die Alpen und darüber, wie die Kontinentalplatten auf einer Schicht aus flüssigem Magma schwammen.
Christian meisterte die Spannungen zwischen seinen Eltern, indem er sich mit Ehrgeiz auf die Schule konzentrierte. Annabel gefiel seine Hartnäckigkeit. Sie hatte Oliver von den Streitereien bei Familie Simpkins berichtet. Oft geriet Christian zwischen die Fronten, wenn seine Mutter oder sein Vater ihn auf ihre Seite zu ziehen versuchten. Hasso Simpkins tyrannisierte seine Frau, manchmal schlug er sie sogar. Seit sich das Paar eines Nachts nackt auf dem Flur geprügelt hatte, war es zum Bunkergespräch geworden.
Während Oliver die Spaghetti abgoss und den Parmesankäse in eine Schüssel füllte, nahm er sich vor, ab sofort unbesorgt zu wirken, um Annabel nicht weiter zu beunruhigen.
Als kurz darauf beim Essen eine Spaghetti über Christians Wange flutschte und dort einen roten Streifen hinterließ, hob sich die Stimmung. Annabel kicherte, sogar Oliver entspannte sich. Er schob einen Film in den DVD-Player. Es war Tradition, mehrmals in der Woche den Tag gemeinsam bei einem Heimkino-Event ausklingen zu lassen.
»Wie geht’s eigentlich deinen Eltern, Christian?«, fragte Oliver, um sich abzulenken.
»Gut«, sagte Christian schnell. Seinem schmalen Gesicht unter dem kurzen dunkelblonden Haar war anzusehen, dass er sich um das Thema drücken und den Film sehen wollte.
»Na, so genau wollte ich es gar nicht wissen.« Über seine Teetasse lächelte Oliver ihn an.
Christian knetete die Hände, prustete unwillig. »Sie zoffen sich dauernd, wie immer eigentlich, und …«
»Nun lass ihn doch in Ruhe«, ermahnte Annabel ihren Vater.
»Und was noch?«, hakte Oliver nach.
Einen Moment wand Christian sich, dann fuhr er fort: »Und wenn mein Vater mit seinem Geigerzähler rumspielt, sagt er immer: ›Wenn das der Diktator wüsste.‹«
»Was? Wieso das denn?«
Oliver hatte das Gefühl, dass etwas in seiner Brust schockgefror. Niemand hier unten hatte einen Geigerzähler. Wozu sollte man den auch mitnehmen in einen perfekt gegen Strahlung abgeschirmten Atombunker?
»Weil der immer so lostickt, wenn er ihn ins Wasser taucht. Er sagt, das Wasser ist radioaktiv verseucht. Und die Techniker verheimlichen das Wiegele bestimmt.«
In einer raschen Bewegung legte Oliver den Zeigefinger auf den Mund und flüsterte Christian ins Ohr: »Du darfst nie wieder ein Wort darüber verlieren! Verstanden?«
Verstört und mit aufgerissenen Augen nickte der Junge.
»Es ist gefährlich!«
»Was ist denn nun schon wieder los?«, zischte Annabel.
»Wir sind im Bunker nicht mehr sicher«, flüsterte Oliver seiner Tochter zu. »Ich erkläre dir das nachher. Das mit dem Geigerzähler kann uns alle Kopf und Kragen kosten. Wir dürfen nie mehr laut darüber reden, okay?«
»Okay.« Annabels von Sommersprossen getüpfelte Nasenflügel weiteten sich, sie furchte die Brauen und sah ihren Vater ängstlich an. Tränen schossen ihr in die Augen.
»Ist schon okay«, tröstete Oliver und nahm sie in die Arme. »Ich gehe zu Christians Vater und kläre das. Versucht, euch ganz normal zu verhalten, seht solange den Film weiter.«
Aufgewühlt ging Oliver in die zweite Etage. Frau Simpkins öffnete. Sie sah verhärmt aus. Glanzlose, farblich kaum zu bestimmende Haare hingen an ihr herunter wie ihr graues Kleid. Darüber trug sie einen sackförmigen grünen Pullover, der ihr teigiges Gesicht blass erscheinen ließ. Definiere Depression, dachte Oliver.
Die Wohnung der Simpkins war spießig möbliert. Ein plüschiges gelbes Sofa, dunkle Schränke und Nippes. Nur ein alter Orientteppich gab dem Raum etwas Klasse.
»Was für eine Überraschung, der Herr Bertram«, begrüßte ihn Hasso Simpkins. »Setzen Sie sich! Der letzte Elternabend ist schon ’ne Weile her, was? Wollen Sie einen Drink?«
»Nein, ich will nur kurz mit Ihnen reden.«
»Dann Tee oder Kaffee?«
»Tee.«
»Mausi, kannst du uns rasch einen Earl Grey kochen?«
Unwillig schlurfte Frau Simpkins zur Küchenzeile, wobei sie etwas vor sich hin brabbelte, das man als Unmutsäußerung hätte deuten können. Eine Schlagersendung von Radio Pischahorn übertönte ihre Worte.
Ungeniert verdrehte Hasso Simpkins die Augen. »Kein Wunder, dass einem da die Lust auf Hausmannskost vergeht.«
Simpkins war dafür bekannt, freizügig Sexstorys zum Besten zu geben. In einem Saunaclub hatte er vor dem Krieg Wiegele kennengelernt und Kontakte geknüpft. Dort hatten sie sich Frauen geteilt und Erfahrungen als Womanizer ausgetauscht. Trotz seines ausgedünnten, halblangen Haars wirkte der Fünfzigjährige charismatisch. Sein Vermögen hatte er als Hedge-Fonds-Manager erworben.
»Ich muss mit Ihnen reden«, beschwor Oliver ihn, »jetzt gleich. Diskret.«
»Kein Problem.« Mit einem Schwung setzte Simpkins sich zu Oliver auf das Sofa und flüsterte ironisch: »Und wo soll das konspirative Gespräch stattfinden, Doc?« Bevor Oliver antworten konnte, fuhr er grinsend fort: »Drei Türen weiter ist die Besenkammer. Garantiert abhörsicher. Das habe ich gecheckt.«
»Also los!«, erwiderte Oliver, stand auf und fragte verwundert: »Wieso kommen Sie mit Ihrer Karte eigentlich in die Kammer?«
»Ich hab’s einfach probiert, und es hat funktioniert. Weiß auch nicht, wieso.«
Simpkins raffte sich auf und zupfte seinen Armani-Anzug zurecht. »Mäuschen, der Doc und ich machen kurz einen Spaziergang, ja?«
»Und was wird aus dem Tee?«, fragte sie vorwurfsvoll. In ihren Augen lag das Elend ihres Lebens.
»Stell ihn warm, wir sind gleich zurück«, sagte er, dabei erzeugte seine Kehle ein trockenes Geräusch wie ein verunglücktes Kichern.
»Gut, Hasso, wie du meinst …« Ihre Stimme bebte und erstarb zu einem Flüstern.
Angesichts der Umstände müssten sich die Streitgründe zwischen den beiden eigentlich in Nichts auflösen, dachte Oliver. Doch bei Familie Simpkins köchelten sie weiter.
Inzwischen hatte sich Hasso Simpkins abgewandt und lugte durch den Spion.
»Was ist? Wir schlüpfen rasch um die Ecke, und dann rein in die Kammer.«
»Geht nicht«, widersprach Simpkins trocken.
»Warum nicht?«
»Weil gerade eine Patrouille vor meiner Tür steht und irgendwelches Zeug labert. Merkwürdig, die kommen neuerdings immer zu zweit.«
Rötliche Flecken brannten auf Olivers Wangen. Die Angst vor Entdeckung und Verfolgung übermannte ihn, seine Knie zitterten. Er ging zur Tür und sah selbst auf den Flur.
Simpkins deutete derweil zu seiner Frau, die in der Küche wirtschaftete. »Ich sag Ihnen, Bertram, chronisch dysphorisch, die Alte.« Dann übernahm er wieder den Spion und kniff Augen und Lippen zusammen. Sekunden vergingen, die Oliver vorkamen wie eine Ewigkeit.
»Ich glaube, jetzt ist die Luft rein. Wenn wir unsere Beine in die Hand nehmen, bemerkt uns kein Schwein.«
Sie rannten nicht, sondern verhielten sich wie zwei Männer, die in eine Unterhaltung vertieft aus einer Bar nach Hause schlenderten. Wie beiläufig zog Simpkins seine Karte durch den Schlitz, und beide verschwanden. Die Besenkammer war ein enger Raum zwischen Winkelstahlregalen, die bis zur Decke reichten. Sie waren dicht gefüllt mit Wischlappen, Reinigungsmitteln, Eimern und Staubsaugern. In einer Ecke stand eine Scheuersaugmaschine. Der Geruch nach Putzmittel brannte in der Nase.
»Wie geht es Ihnen eigentlich? Haben Sie alles gut überstanden?« Trotz seiner Ungeduld versuchte Oliver, die angespannte Stimmung zu lockern.
»Ich bin immer noch etwas durcheinander«, gab Simpkins zu und hielt sich an einem Regal fest. »Man ist noch nicht ganz drin in der Psychiatrie, schon erklären dir die Götter in weiß, du bist verrückt. Dann schieben sie dir alle möglichen Psychopharmaka rein – meine Güte! Ich komme erst allmählich wieder zu mir.«
»Ich weiß, Sie hassen Pillen.«
Simpkins hatte, wie Oliver von Wiegele wusste, in einem Bordell eine Psychose erlitten und nackt drei Frauen mit einem Messer bedroht. Kokain war dem Gerücht nach im Spiel gewesen. Notarzt und Polizei hatten schließlich eine Zwangseinweisung veranlasst.
»Na ja, bei dem Trott der letzten Monate hier habe ich meine Meinung darüber geändert. Auf jedem Flur sollte ein rosa Antidepressiva-Automat angebracht werden.« Simpkins begann zu kichern, und Oliver bemerkte erst jetzt, dass auf seiner Stimme einige Drinks schwammen.
»Zum Glück gibt’s sogar im Pischahorn für Sugardaddy ein paar Ladies mit nymphomanischen Neigungen, bestens geeignet für die Besenkammer. Kennen Sie Schwester Angelina, die Spanierin von der Krankenstation?« Das Regal wackelte, denn Simpkins brach in ein von Schnarchlauten durchsetztes Gelächter aus.
»Hören Sie auf zu lachen! Das geht mir auf die Nerven. Ich stehe unter einem Scheißdruck!«
Olivers bleiches Gesicht und seine aufgerissenen Augen brachten Simpkins zur Räson, er schwieg und hörte zu. In knappen Sätzen umriss Oliver das Problem, berichtete von dem Mord an Turtschi, von dem verseuchten Wasser, von der Strahlung, die bereits in seinem Körper steckte, und von Haemmerlis Fluchtplänen.
»Und deshalb dürfen Sie oder Christian unter keinen Umständen noch einmal etwas über Ihren Geigerzähler rausposaunen! Sonst enden Sie wie Turtschi. Wiegele geht über Leichen, glauben Sie mir.«
»Falls er nicht schon längst davon weiß«, gab Simpkins zurück, plötzlich nüchtern und vernünftig.
»Ich sehe als einzigen Ausweg, hier so lange auszuharren wie möglich. Wenn sich der nukleare Winter verzogen hat, können wir alle gemeinsam oben in Davos etwas Neues aufbauen, meinen Sie nicht?«
»Nein, wir werden hier unten alle verrecken.«
Simpkins baute sich vor Oliver auf und machte eine Geste mit den Armen, als wollte er den Berg über sich wegstemmen. »Haemmerli hat verdammt noch mal recht, wenn er aussteigen will. Jesus Christ, ich sag Ihnen was, die Idee ist grandios! Ich werde mit ihm gehen. Früher oder später drehe ich in diesem Loch ohnehin mit meiner Alten durch. Hey, Sie sollten sich auch einen Ruck geben, Mann!«
»Wissen Sie überhaupt, wovon Sie da reden? Draußen herrscht Eiszeit! Haben Sie mal bei minus zwanzig Grad auf eine Bahn gewartet und gedacht, Ihre Zehen sterben ab?«
»Wir haben die Freiheit, uns zu entscheiden: Strahlentod und eingeschlagener Schädel. Oder abgefrorene Zehen – und eine kleine Chance.«
»Schön wär’s«, entgegnete Oliver resigniert.
Die Kinder fläzten auf dem Sofa und sahen den Film. Der Leuchtturm flackerte. Auf den ersten Blick wirkte alles entspannt, aber in den klaren, fragenden Augen Annabels las Oliver Angst und unbeantwortete Fragen. Ihr Körper strahlte Verletzlichkeit aus. Einen Moment knetete sie den Saum ihrer Fellweste, dann stoppte sie den Film mit der Fernbedienung und komplimentierte Christian mit knappen Worten aus der Wohnung.
Vater und Tochter umarmten sich. Oliver spürte, dass Annabel zitterte. Er drückte sie an sich und streichelte über ihr rotbraunes Haar; dabei blickte er über ihre Schulter auf den Monitor an der Wand, der die Alpen im goldenen Abendrot zeigte – irreal und absurd.
Sie stellten Musik an und setzten sich auf das Sofa, wo Oliver zum zweiten Mal an diesem Abend im Flüsterton von den Dingen erzählte, die er wusste. Nichts ließ er unerwähnt, auch nicht seine Ratlosigkeit. Annabel schwieg lange.
»Ich wünschte, Mama wäre hier … Ich vermisse sie so.«
»Ja, das geht mir genauso.« Oliver schluckte, und beide kämpften mit ihrer schmerzenden Sehnsucht.
»Wenn wir nach oben gehen, könnten wir Mama suchen.«
»Glaub mir, wenn das irgendeine Aussicht auf Erfolg hätte, wäre ich schon längst losgezogen.«
Annabel sah ihrem Vater tief in die Augen, von unten nach oben mit geneigtem Kopf. Ihr Blick war nicht forschend, sondern warm.
»Ich weiß, aber man kann doch nicht ewig eingesperrt leben. Ich meine, irgendwie muss es weitergehen mit der Welt. Das läuft nicht, wenn man sich in einer Höhle verkriecht und Hundefutter aus der Dose frisst. Ich will jedenfalls was verändern. Und wer weiß, vielleicht gibt es ja doch einen Ort, an dem ich später Medizin studieren kann.«
»Heißt das etwa, du willst auch raus? Im Ernst?«
»Ich weiß nicht, Paps.« Sie schmiegte sich an ihn. »Ich hab solche Angst. Eigentlich weiß ich überhaupt nichts mehr, außer, dass alles anders werden muss. Dieser widerliche Wiegele!« Sie streckte die Zunge raus und fasste sich mit Daumen und Zeigfinger um den Hals. »Wenn wenigstens alle an einem Strang ziehen würden, wäre alles halb so schlimm.«