Читать книгу Der Weizen gedeiht im Süden - Schulz Erik D. - Страница 8
Kapitel 4
ОглавлениеDas beklemmende Gefühl hatte sich in Olivers Brust festgesetzt, eine Mischung aus Angst und Ohnmacht. Lustlos packte er seine Sporttasche und wunderte sich, dass das Tischtennismatch überhaupt stattfand. Angesichts der nächtlichen Ereignisse war ihm der Tod noch zu nah für einen entspannten Männerabend.
Seit ein paar Monaten hörten er und Wiegele nach dem Sport in dessen Luxusapartment gemeinsam Musik, eine neue Facette ihrer Bekanntschaft. Beide teilten die Leidenschaft für Rock und Singer-Songwriter. Oliver hatte Wiegele gezeigt, wie er bessere Hörerlebnisse erreicht, wenn er sich in einen entspannten Zustand versetzt und mit einschlägigen Tricks den Elektrosmog aus dem Raum verbannt. Seine fundierten Kenntnisse über die Funktion des Innenohres und der Psychoakustik hatten den Bunkerchef begeistert, der seitdem von einem Flow beim Musikhören schwärmte, einem Zustand, in dem die Zeit verging, ohne dass man es bemerkte. Die raffinierten Manipulationen an seiner Hi-Fi-Anlage wirkten wie Traditionelle Chinesische Medizin, behauptete er. Seinen privaten Zugang zu Wiegele wollte Oliver nutzen, um etwas über dessen mögliche Ziele zu erfahren.
Bevor er sich mit ihm traf, stattete er Haemmerli einen Besuch ab. Mit einem gewinnenden Lächeln und einem festen Händedruck empfing ihn der Freund. Er trug rote Shorts und ein ärmelloses schwarzes Hemd und trainierte gerade seinen drahtigen Körper. Der Boden war übersät mit Hanteln und Gewichten. An der Wand hing ein Waffenschrank. CDs lagen auf dem Tisch, es roch nach abgestandenem Essen und kaltem Kaffee. Das Zimmer wirkte wie eine derangierte Junggesellenbude.
»Na, mein Bester, es macht den Anschein, als wälzt du Probleme. Komm rein! Magst erst mal ein Glas Cüpli? Entspannt dich, oddr?«
»Nein, danke, sonst treffe ich gegen Wiegele keinen einzigen Ball.«
Haemmerli hatte drei Kisten Champagner in den Bunker gerettet, von denen sie sich zuweilen eine Flasche gönnten.
»Ich muss mit dir reden, Marius«, kam Oliver zur Sache und deutete mit einem Blick in Richtung Stereoanlage, ein Zeichen, laute Musik für ein vertrauliches Gespräch anzustellen.
Haemmerli rubbelte sich mit einem Handtuch seine kräftigen Schultern und das nadelscharfe Gesicht ab und drehte dann die Anlage auf. Krachend dröhnte der Motörhead-Song Eat The Rich durch den Raum, den er vor dem Krieg oft mit seiner Band gespielt hatte. Die beiden steckten ihre Köpfe zusammen.
»Ich muss die Radioaktivität in meinem Körper messen«, erklärte Oliver.
»Oh, Gütiger, das ist schlecht, äußerst schlecht. Turtschis Stick, oddr?«
Oliver nickte.
»Das Wasser, oddr? Verdammt!« Haemmerli presste die Lippen aufeinander und schüttelte den Kopf. Einen Moment überlegte er und strich sich das dünne Haar zurück. »Ich deichsle das irgendwie. Ich hab meine Leute im Griff. Kannst du heute Nacht um zwei oben bei der Tresortür sein?«
»Ja, natürlich.«
Die Freunde lösten ihre Köpfe voneinander. Haemmerli schlug mit imaginären Drumsticks und stimmte in den röhrenden Gesang aus den Boxen ein: »Come on, baby, eat the rich, put the bite on the son of a bitch …«
In dem kleinen, luxuriös ausgestatteten Fitnessstudio stemmten Bewohner Hanteln, schwitzten an Kraftmaschinen, trainierten auf den Crosstrainern und verfolgten Oliver mit verstohlenen Blicken. Er kam sich vor, als wäre er mit einem Promi zum Lunch verabredet. Schutz vor der Neugier fand er im Tischtennisraum, in dem eine einzige Platte auf dem Parkett stand.
Oliver setzte sich auf die Designerbank aus Holz ohne Rückenlehne, blickte auf die gerahmten Portraits von Tennisstars an den Sichtbetonwänden und wartete. Während er stets auf Pünktlichkeit achtete, verspätete sich Wiegele häufig in unverschämter Weise. Das monotone Geräusch der Crosstrainer drang an sein Ohr. Je länger er saß, umso aufdringlicher wurde der Schweißgeruch.
Nach zehn Minuten stand er auf, ging zur Getränkebox und nahm sich ein stilles Wasser. Dabei kam ihm die Idee, drei garantiert cäsiumfreie Flaschen Perrier für Annabel zu hamstern. Wie ein Dieb ließ er sie in seiner Tasche verschwinden.
Nach einer kleinen Ewigkeit, in der er fast eingenickt wäre, erschien Wiegele. Ruhig und selbstsicher betrat er den Raum. Er trug knielange, schwarze Shorts und ein ärmelloses, grellrotes Hemd. Noch im Gehen streckte er Oliver die Hand zum Gruß entgegen.
»Schön, dich zu sehen. Wie geht’s?« Unangenehm lange forschte Wiegele in Olivers Augen. Dann ließ er seine Sporttasche so auf die Bank fallen, dass sie mehr als die Hälfte des Platzes beanspruchte.
»Geht so. Und dir?«
»Ach, ich hab einen beschissenen Kater, Mann. Hab schon alle möglichen Vitaminpillen eingeworfen und den halben Tag trainiert, aber dagegen hilft nur ’ne neue Dröhnung. Freu mich nachher auf die Bar.«
»Nein, das meinte ich eigentlich nicht«, entgegnete Oliver. »Eher Turtschis Tod.«
»Ja, Mann, tragisch.«
Für den Bruchteil einer Sekunde kam es Oliver vor, als würde Wiegele lächeln. Die Kälte seiner Augen erinnerte ihn an frühe Versuche mit künstlicher Intelligenz.
»Sollten wir unser Match nicht besser verschieben? Ich meine, dass …«
»Komm, lass uns das abhaken«, unterbrach Wiegele ihn und berührte Oliver am Arm. Nach einer Pause streckte er den Zeigefinger aus und wies auf die Decke. »Kannst du mir sagen, wie viele da oben umgekommen sind?«
»Keine Ahnung. Ein paar Milliarden?«
»Ein paar Milliarden, und das Leben muss trotzdem weitergehen. Nun stell dir mal vor, wir würden für jeden dieser bedauernswerten Toten unseren Sport um einen Tag verschieben.«
»Du weißt schon, wie ich das meine«, sagte Oliver und rieb sich den Nacken.
»Schon gut, du hast ja recht. Wir heben nachher ein Glas auf den guten alten Turtschi und betäuben den ganzen Scheiß einfach.« Einen Moment strich Wiegele sich mit dem Handrücken über den Bart. Dann packte er seine Tischtenniskelle und chinesische Bälle aus und stellte sich ans Ende der Platte. »Aber jetzt lass uns erst mal den Ball prügeln, okay?«
Wenn Oliver sich auf ein Match konzentrierte, war er der bessere Spieler. Er beherrschte druckvolle Topspins, blockte aggressiv und übernahm die Initiative. Dennoch lag er in der Bilanz hinten, weil er sich ab und zu bewusst schlagen ließ, um Wutanfälle seines Gegners zu vermeiden. Bei einem dieser exzessiven Ausbrüche hätte er beinahe eine Kelle an den Kopf bekommen, die Wiegele durch den Raum geschmissen hatte.
Das Spiel ging an ihm vorbei, von zwei Partien gewann er nicht einen Satz. Ständig schwirrten Gedanken um Cäsium-137 durch sein Hirn, rankten sich um die Arten von Tumoren, die die Strahlung auslösen konnte. Seine Professorin mit ihrem profunden Wissen hätte ihm das sicher verständlich dargelegt. Er vermisste Michelle schmerzlich und verfluchte es, in dieser künstlichen Höhle auf sich allein gestellt zu sein. Je länger er darüber nachdachte, umso mehr schnürte es ihm wieder die Brust zu. Keuchend fürchtete er, in einem Anfall von Klaustrophobie aus dem Raum stürzen zu müssen.
Erst der Alkohol in der Lounge löste seine Anspannung. Er setzte sich mit Wiegele auf das weiße Sofa, wo sie klirrend ihre Bierflaschen aneinanderschlugen. In der Ecke flackerte ein künstlicher Kamin, und über der Bar spendeten kegelförmige Metalllampen gedämpftes Licht.
»Alter, schön, mit dir hier zu sitzen, ein paar Bier zu trinken und einfach zu quatschen«, sagte Wiegele, dessen V-förmiger Hemdausschnitt den Blick auf seine nackte, rasierte Brust freigab. »Sag mal, Olli, was hast du eigentlich von unserem Wasserprofessor gehalten? Kanntet ihr euch? Also, ich bin aus dem Typen nie richtig schlau geworden. Immer dieses verworrene Gequatsche.«
»Ja, Turtschi war ein Einzelgänger. Ich hab ein-, zweimal mit ihm geredet, aber ich könnte dir nicht mehr sagen, worüber. War wirklich Kauderwelsch.« Oliver bemühte sich, den prüfenden Blicken Wiegeles standzuhalten.
»Merkwürdig, dass ihr nie über eure Arbeit gesprochen habt. Ich meine, Wasser und Landwirtschaft, das gehört doch irgendwie zusammen.«
»Nein, wie gesagt. Und wenn, hätte ich ihn wahrscheinlich nicht verstanden.«
»Schon interessant, wie ein Mensch so abstrus und naiv sein kann. Der hat mich doch damals ernsthaft gefragt, ob im Arbeitsvertrag eine Probezeit festgelegt wird. Und sollte der Krieg tatsächlich ausbrechen, was passieren würde, wenn er sie nicht bestehe. Solche Sachen. Sei’s drum, ich hab ihn trotzdem eingestellt, und er hat ja auch geliefert – leckeres, sauberes Wasser.« Wiegele grinste ironisch und leerte sein Bier. »Meine Güte, die besten Jahre meines Lebens habe ich als Wohltäter vertan. Turtschis Job macht jetzt übrigens Norbert Wiemers. Der leitet die Ingenieure an, dann klappt das schon.«
Wiemers war, wie Oliver wusste, einer der sechs undurchsichtigen Männer aus dem Konsortium, die im Bunker das Sagen hatten. Vor dem Krieg hatte ihm eine Baumarktkette gehört, dazu hielt er ein beachtliches Aktienpaket an der McPrince International Group.
»Was qualifiziert ihn denn für den Job, Fabio? Wir reden hier immerhin nicht vom Befüllen eines Swimmingpools. Ich denke, wer …«
»Warum fragst du?«, unterbrach Wiegele ihn barsch. »Der packt das schon, entspann dich. Denkst du, ich lass da einen Dilettanten ran? Die Ingenieure sind in Ordnung. Einer hat sogar Verfahrenstechnik studiert.«
Oliver drückte seine linke Faust in das Sofa. »Okay, wenn du meinst, der packt das …«
»Na klar. Wir haben so viel Wasser hier unten, die können das gar nicht versemmeln. Die meisten Bunker haben einen Mangel. Wir dagegen halten das hier jahrelang aus. Wir müssen eher aufpassen, nicht zu ersaufen.«
Wiegele öffnete eine neue Flasche Bier und fixierte Oliver mit halbgeschlossenen Lidern. »Komm, wir heben jetzt einen auf unseren Superingenieur! Rest in peace, Turtschi, alter Junge!«
Sie stießen an, und Wiegele sah zur Decke, als proste er dem Geist des Verstorbenen zu.
»Er muss sehr einsam gewesen sein«, stellte Oliver nachdenklich fest.
An der Bar hatten sich zwei attraktive Frauen auf ein Glas Wein getroffen. Oliver kannte sie flüchtig.
»Am meisten fehlen mir hier unten die Clubs«, tuschelte Wiegele und beobachtete die Frauen.
»Okay«, sagte Oliver und hob abwehrend die Hände, »nicht schon wieder diese Storys!«
»Sag bloß, bei dir regt sich nichts, wenn das Büfett aufgefahren wird.«
Bei jeder Gelegenheit erzählte Wiegele von seinen Exzessen auf Geschäftsreisen, davon, wie er in Saunaclubs Sex mit mehreren Frauen gehabt, sich selbst dabei gefilmt, Pornos nachgestellt hatte. Und natürlich, dass er auf sexuellem Gebiet unschlagbar war. Er stand auf junge Frauen, die sich vor dem Sex auf jede bekannte sexuell übertragbare Krankheit testen lassen mussten. Während er sich mit ihnen vergnügte, wartete seine Familie in der Villa am Zürichsee. Auch hier im Bunker schmückte Wiegele sich mit seinen drei Kindern und seiner jungen Frau – und betrog sie regelmäßig. Genervt hörte Oliver sich die Story einer Orgie in Berlin einen Monat vor Kriegsbeginn an, bis es ihm gelang, Wiegele in seine Höhle zu lotsen. Sie war ein vom Rest der Wohnung abgetrenntes, separat zugängliches Zimmer, in dem sich ein riesiges Bett, zwei Ledersessel, ein Schreibtisch, die Hi-Fi-Anlage und eine Bar befanden.
Sie machten es sich in den Sesseln bequem, hörten Billy Joel und die Beatles und fachsimpelten über die Aufnahmen, Toningenieure, Nachhall und andere Fragen rund um den Klang. Wiegele goss sich reichlich Cognac ein und trank sich allmählich in einen Rausch. Je weiter der Abend fortschritt, umso leiser wurde die Musik aus den mächtigen Boxen und umso vertraulicher ihr Gespräch.
»Warum fehlt dir eigentlich der linke kleine Finger, Fabio?«
Die Frage hatte Oliver bislang nie zu stellen gewagt.
»Ach, die öde Story. Du weißt doch, Terroristen haben mich als Vierjährigen in ein Loch in den Alpen verschleppt und wollten von meinem Alten fünf Millionen erpressen. Der hat nicht gleich gespurt, und da haben sie … Schnipp!«
Sein Vater war Vorstandsvorsitzender eines Mischkonzerns im Familienbesitz gewesen. Die Friedrich Wiegele KG war im neunzehnten Jahrhundert um Öl- und Getreidemühlen sowie einen Holzhandel herum entstanden und hatte sich im zwanzigsten Jahrhundert zu einem Hochtechnologiekonzern entwickelt. Zuletzt hatte sie über 10000 Mitarbeiter beschäftigt.
»Ich erinnere mich nur noch an die verfickte Kälte in dem Loch«, fuhr Wiegele fort. »Seitdem hatte mein Vater … wie heißt das doch gleich? Paranoia. Er hat damals zu meinem Schutz sogar eine Sicherheitsfirma engagiert. Rate mal, welche!«
»Die MPIG?«
»Bingo! Die verbarrikadierten unser Haus mit tonnenschweren, magnetgesicherten Türen und gepanzerten Scheiben, auch das auf Teneriffa und das an der Côte d’Azur. Mein Vater hätte zum Schutz meines Lebens oder der Ehre seiner Familie getötet. Oder töten lassen. Auch wenn er eines der größten Arschlöcher der Welt ist, geht es mir genauso. Irgendwann gewöhnt man sich an die Sicherheitstypen, die ständig um einen herumlungern. Aber das bringt ein luxuriöses Leben nun mal mit sich. Und ich liebe dieses Leben.«
»Mit dem ganzen Aufwand könnte ich nicht leben«, meinte Oliver und nippte an seinem Cognac.
»Für mich wäre es eher der Horror, zur grauen Masse zu gehören, wie die meisten hier.« Wiegele spreizte die Beine und hob, während er weitersprach, den Daumen. »Um im Leben zu gewinnen, muss man eine Persönlichkeit sein, ein Löwe. Nicht der größte der Welt, aber ein Löwe.«
Unangenehm berührt, schluckte Oliver. »Und wie bist du zum Löwen geworden?«
Lässig goss Wiegele Cognac nach. »Eigentlich wollte ich Medizin oder Archäologie studieren, aber mein Vater zwang mich zu Wirtschaftswissenschaften. So stieg ich rasch zum Schweizer Chef von McPrince auf. Ich lernte, dass Geld alle Probleme löst, und alles andere Quatsch gewesen wäre. Dafür hab ich gar nicht die Geduld. Ich ließ also die Puppen tanzen und meißelte den verdammten Bunker in den Berg. Und jetzt … jetzt habe ich den Hut für 300 Leute auf.«
Seine Augen wurden schmal, und um seinen Mund spielte ein Lächeln. Er kippte den Cognac hinunter wie Limonade und begann zu lallen. »Mein Gott, ist das ein geiler Song.«
»Ja, James Taylors Akustikgitarre ist unschlagbar.« Oliver fühlte sich von Wiegeles Lächeln, das wie eine Drohung zwischen seinem Vollbart hing, angewidert. Er spürte: Was immer Wiegele umtrieb, bei der Verfolgung seiner Ziele war er fähig, zu allen Mitteln zu greifen, ohne einen Anflug von Schuldbewusstsein.
Langsam ließ Wiegele den Kopf nach hinten sinken, streichelte sich mit der Hand über die Stirn und schloss die Augen. Als hätte er Olivers Gedanken registriert, nuschelte er: »Aber jetzt zwitscher mal ab, Kumpel, und träum was Hübsches. Unser Gespräch wird langsam fade.«
Auf dem Rückweg aus dem Führerbunker, wie Wiegeles Wohnung heimlich genannt wurde, dachte Oliver nach. Offenbar betrachtete Wiegele die Bewohner des Bergs als seine Gefangenen, Leibeigene, über die er unbegrenzt verfügen konnte, über die er Macht ausübte. Er hatte es zwar nicht gesagt, aber sein Lächeln hatte Bände gesprochen. Während Oliver durch den leeren Flur lief, wurde ihm übel. Er begriff, dass es ein Fehler wäre, Wiegele zu vertrauen. Ein tödlicher Fehler.
Kurz vor eins betrat er seine Wohnung, eine Stunde vor dem Treffen mit Haemmerli in der Schleuse. Annabel schlief im Schein der Stehlampe, sie hatte Angst vor der Dunkelheit. Vor ihrem Bett lagen symmetrisch angeordnet zwei Schulterstandplatten aus Kork und ein Baumwollgurt, den sie um ihren Leuchtturm gelegt hatte. Utensilien für Yoga.
Oliver putzte sich die Zähne und sah in den Spiegel. Seine Wangen waren kräftig, der Mund etwas breit. Die blauen, warmen Augen blickten müde zurück auf das sandfarbene, an den Schläfen leicht silbrige Haar, das an der Stirn schütter wurde. Für Anfang vierzig war er gut durchtrainiert. Um wie viel frischer würde er aussehen, dachte er und rieb sich die Augen, wenn er durch einen Park joggen und Regentropfen auf seiner Haut spüren könnte.
Er nahm sich ein Buch, legte sich angezogen aufs Bett und versuchte zu lesen. Seine Gedanken aber drifteten ab. Würde Wiegele ihn durch die Kameras verfolgen und er, Oliver Bertram, womöglich das Schicksal Turtschis teilen? Oder schlief der Chef betrunken in seiner Höhle?
Kurz vor zwei Uhr stand Oliver auf, verließ die Wohnung und schlich über den menschenleeren Flur. An der mächtigen, einen Spalt geöffneten Stahlbetontür warteten Haemmerli und Adrian Isler. Vor dem Krieg hatte Isler als Plastischer Chirurg in der Fallschirmkompanie 17 gedient. Im Bunker arbeitete er in der Sicherheitsbrigade und bedarfsweise in der medizinischen Abteilung. Oliver kannte ihn von gemeinsam verbrachten Abenden.
»Grüezi, Oliver! Hattest schon was zum Frühstück?«
Unter der fröhlichen Bemerkung rumorten offenbar Sorgen, Haemmerlis Stirn lag in Falten. Auch Isler presste den Mund zusammen.
»Nein«, sagte Oliver, »nur zu viel Cognac. Sind die Kameras aus?«
»Ja, Amstutz hat Dienst und übernimmt heute Nacht die Überwachungsanlage.«
»Und wer sagt uns, dass die Daten aus dem Monitor nicht ins Netzwerk auf Wiegeles Laptop übertragen werden?«
»Adrian. Er hat die Kabel rausgezogen.« Haemmerli grinste. »Und nun beruhige dich, Oliver.«
Eisiger Wind aus dem Zugangsstollen blies ihnen entgegen, während sie an den Dekontaminationsduschen vorbei zum Ganzkörpermonitor gingen. In einem Raum neben der Druckschleuse stand der etwa zwei Meter große Apparat.
Oliver zog sich aus bis auf den Slip. Er fühlte sich, als hätte ein Arzt den Verdacht auf einen Tumor geäußert, und die Untersuchung sollte nun Gewissheit bringen. Seine Zukunft, die Zukunft Annabels und vielleicht die aller Bewohner hingen davon ab. Er rieb sich die Hände, zitterte vor Kälte. So schlimm kann es nicht werden, versuchte er sich zu beruhigen. Bis auf die Appetitlosigkeit und eine gewisse Müdigkeit litt er unter keinen Symptomen, die auf Strahlenkrankheit deuten. Und beides könnten auch Folgen des Bunkerlebens sein.
Haemmerli wies ihn an, sich zwischen zwei metallene Detektorplatten zu stellen. Oliver zog die Schultern hoch. Die Arme durfte er weder vor der Brust verschränken noch die Hände in die Oberarme krallen, wie er es gern getan hätte. Mit einem Gefühl der Hilflosigkeit ließ er die Prozedur über sich ergehen. Die Kälte in dem unwirtlichen Raum drang ihm bis auf die Knochen. Leise summte der Apparat, klickte und maß die Strahlung. Ein Laptop verarbeitete die Signale. Haemmerli und Isler starrten auf den Monitor. Die Zeit verging quälend langsam. Oliver fürchtete, an den Metallplatten festzufrieren, wenn er sie berührte.
»Ist stabil jetzt, kannst rauskommen, Olli«, rief Haemmerli.
Erleichtert zwängte Oliver sich aus dem Apparat und zog sich wieder an. Er fluchte, weil er seinen Mantel im Zimmer gelassen hatte. Seine Hände zitterten so sehr, dass er kaum die Knöpfe zubekam. Haemmerli reichte ihm einen Flachmann mit Whisky. Warm rann ihm der Alkohol die Kehle hinunter und breitete sich im Magen aus. Da er wegen der klappernden Zähne nicht sprechen konnte, lieh Haemmerli ihm seinen Armeeparka. Allmählich taute Oliver auf. Seine Komplizen sahen besorgt aus; vor ihren Mündern schwebten Dampfwölkchen.
»327 Millisievert«, rückte Isler mit dem Messergebnis heraus.
»Und das heißt?«
»Das heißt«, sagte Haemmerli, »dass du eigentlich schon was merken müsstest. Ab 250 Millisievert spürt man erste Effekte, und ab tausend nennt man das Strahlenkrankheit.«
»Die Belastung durch das Wasser ist offenbar schon wirksam«, vermutete Oliver und nahm einen weiteren Schluck aus dem Flachmann. »Und die Konzentration von Cäsium im Wasser und damit in unseren Körpern nimmt immer weiter zu. Es ist nicht aufzuhalten.«
»So ein Mist«, fluchte Haemmerli. »Wir kriegen alle die beschissene Strahlenkrankheit oder Leukämie. Vielleicht fallen uns auch die Haare aus, und wir gehen drauf, als ob wir Polonium geschluckt hätten.«
Die Männer sahen sich besorgt an. Oliver drehte sich um und versetzte dem summenden Ganzkörpermonitor einen Tritt.
»Das wird nicht helfen, Olli«, sagte Haemmerli. »Das Wasser ist unabänderlich verseucht, du hast Turtschis Daten gelesen. Und deshalb müssen wir hier raus. Raus aus diesem Käfig, wo der Tod mit Häppchen gemästet wird.«
»Was?« Olivers Herz begann heftig zu schlagen, und er musste sich an der Wand abstützen. »Weißt du, was das bedeutet? Raus in die Apokalypse da oben?«
»Ja, ich weiß, Oliver, es wird hart, und vielleicht sterben wir alle. Aber wenn ihr leben wollt, werden du und Annabel mitkommen müssen.«
»So einfach ist das nicht, Marius. Die Ausgänge sind hermetisch abgeriegelt. Nur Wiegeles Chipkarte öffnet sie. Nur er hat die Zaubercodes. Und denk daran, was den Brenneckes passiert ist!«
Das Ehepaar Brennecke hatte vor einigen Monaten versucht, aus dem Bunker zu fliehen. Sie hatten die klaustrophobische Atmosphäre nicht länger ertragen können und an die Oberfläche gewollt. Schon an der Tresortür waren sie vom Sicherheitsdienst festgesetzt worden. Sie hätten das Leben aller Bewohner gefährdet, wurde ihnen vorgehalten. Seitdem saßen sie in Einzelhaft. Sämtliche Privilegien waren ihnen entzogen, ihr Eigentum konfisziert worden.
Als Oliver die Entschlossenheit in den Gesichtern der ehemaligen Elitesoldaten sah, bekam er Panik und wollte weglaufen.
Haemmerli hielt ihn an der Jacke fest. »Wir schaffen das schon, Olli – mit oder ohne dich. Aber in deinem Interesse und in dem deiner Tochter, triff die richtige Entscheidung!«