Читать книгу Psycho im Märchenwald - Sebastian Bartoschek - Страница 10
Heldinen küssen keine Frösche
ОглавлениеDas Märchen DER FROSCHKÖNIG ODER DER EISERNE HEINRICH ist die Nummer eins der Kinder- und Hausmärchen und es gehört auch zu den beliebtesten. Dabei mag manche von Ihnen schon allein der Zusatz im Titel verwundern. Das überrascht eigentlich auch nicht, denn der „eiserne Heinrich“ der Diener des Königssohns, der so mit seinem Herren leidet, ist nämlich von einigen Herausgebern einfach wegrationalisiert worden.
In ihren Anmerkungen geben die Brüder Grimm an, das Märchen stamme aus Hessen. Dort haben sie, wie wir ja bereits erfahren haben, mehrere Quellen. Wahrscheinlich ist es jedoch die Familie Wild, die den Froschkönig beigesteuert hat. Die Formel am Anfang des Märchens ist bemerkenswert. „In alten Zeiten, wo das Wünschen noch geholfen hat [...]“ klingt so, als wäre es eine typische Einleitung für die Märchen der Brüder Grimm, dabei taucht es nur selten auf, während immerhin fast die Hälfte der Märchen mit „Es war einmal“ beginnt.
DER FROSCHKÖNIG ist eines der Märchen, die als Ölenberger Fassung vorhanden sind, das heißt, es gehörte zu den Geschichten, die zu Beginn der ganzen Sammelunternehmung an Brentano gingen.
Wenn man die beiden Versionen vergleicht, sieht man ziemlich schnell, wie sehr vor allem Wilhelm Grimm die Märchen im Laufe der Zeit ausgeschmückt hat.
Das geht schon beim Titel los. Der lautet in der Ur- oder Ölenberger Fassung nämlich Die Königstochter und der verzauberte Prinz. Froschkönig. Kein Wort vom eisernen Heinrich, obwohl er auch in dieser frühen Version vorkommt.
Die Urfassung ist wesentlich kürzer als von 1857 und kommt einem im Gegensatz dazu beinahe karg vor. Romantisch ist schon der Anfang nicht, in dem der Hörer (oder Leser) einfach mitten in die Handlung geworfen wird. „Die jüngste Tochter des Königs ging hinaus in der Wald, und setzte sich an einen kühlen Brunnen.“ Zack. Kein Wort von der Zeit, in der das Wünschen noch geholfen hat, davon, wie schön alle Töchter des Königs waren, die jüngste aber die schönste von allen. Das, was wir in der Einführung über Lüthis Analysen des Volksmärchens gehört haben, bietet die Urfassung bis zum Exzess. Volksmärchen ist, wenn man nichts mehr weglassen kann, sozusagen.
Auch die Gefühlszustände der Prinzessin sind nur in reduzierter Form vorhanden. Sie ist traurig, als ihr die goldene Kugel abhanden kommt und sie fürchtet sich „sehr vor dem kalten Frosch“. Davon abgesehen kommt nur das zum Tragen, was auch die Handlung voranbringt und das vollkommen schnörkellos.
Die wesentlichen Elemente sind aber auch in der Urfassung erhalten. Prinzessin, Frosch, goldene Kugel, Prinz und Diener Heinrich verhalten sich wie in späteren Versionen. Auch der kleine Vers, mit dem der Frosch auf das Versprechen der Königstochter hinweist, ist dort zu finden. Nur das Zerspringen der eisernen Bande gibt es in einfacher und nicht in dreifacher Ausführung.
Märchenliebhabern sei es unbedingt empfohlen, die Urfassungen zu lesen, denn erst dadurch wird klar, wie sehr wir uns an die besondere Märchensprache der Brüder Grimm und Wilhelm Grimms im Besonderen, gewöhnt haben.
Besonders sympathisch wirkt die „Heldin“ des Abenteuers, die Prinzessin, in keiner der Versionen. In der Urfassung läuft sie dem Frosch einfach davon, in der Version von 1857 denkt sie sogar abfällig darüber nach, dass ein solcher Frosch sicher keine gute Gesellschaft ist. Eigentlich haben wir es hier sogar mit einer fiesen, charakterschwachen Person zu tun und vielleicht liegt es daran, dass diese Königstochter nicht so sehr als Identifikationsfigur taugt, wie beispielsweise Schneewittchen. Das gilt allerdings mit einer kleinen Einschränkung: In diesem Märchen wird ein Reifungsprozess dargestellt. Die anfangs kindliche Prinzessin, die mit einer goldenen Kugel spielt und sich nicht an die Konventionen „Erwachsener“ hält, indem sie ihrem Ekel vor dem Frosch nachgibt und ihn ausnutzt, muss im Laufe der Handlung durch die Erziehung des strengen Königs und Vaters lernen, dass sie nicht immer ihren Willen bekommt, sondern auch Pflichten hat. Vor allem wenn man ein Versprechen gegeben hat. So ganz ohne Gegenwehr klappt das zwar nicht, aber am Ende hat die Tochter ihre Lektion gelernt und wird die Frau des Prinzen.
Man muss eigentlich nicht extra betonen, dass schon der Frosch unter Märchenforschern als Metapher für einen Mann angesehen wird und es hier zwischen den Zeilen um nichts anderes als Sex geht.
Übrigens haben wir hier noch die Fassung, in der die Prinzessin den Frosch ziemlich brutal an die Wand wirft, woraufhin er zum Prinzen wird. Den berühmten Kuss, der in die Popkultur eingegangen ist, gibt es erst in Versionen ab Ende des 19. Jahrhunderts.
Die Brüder Grimm erwähnen in den Anmerkungen, das es sich beim Froschkönig um eines der ältesten Märchen in Deutschland handelt und beschreiben gleich zwei weitere Fassungen, eine aus dem „Hessischen“ und eine aus dem „Paderbörnischen“. In der hessischen Variante geht es statt um eine goldene Kugel um klares Wasser, das aus einem Brunnen geholt werden soll. Nacheinander werden die Königstöchter ausgeschickt, um es zu besorgen, es kommt aber nur trübe Brühe zum Vorschein. Der Frosch könnte es richten, knüpft aber, wie auch in der KHM-Fassung seine Hilfe an die Bedingung, der Gefährte der Prinzessin zu werden. Die dritte Prinzessin willigt auch zum Schein ein, haut aber mit dem klaren Wasser ab und der Frosch muss am Hofe erscheinen, um seine Belohnung einzufordern. Interessant ist, dass der Froschkönig drei Nächte bei der Königstochter verbringt, zwei am Fußende des Bettes und die dritte schließlich auf ihrem Kopfkissen. Die Verwandlung geschieht nicht durch einen Kuss oder einen Wurf an die Wand, sondern heimlich still und leise über Nacht. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.
In der Version aus dem Paderborner Land schließt sich noch ein ganz anderer Handlungsbogen an, in dem der Prinz sich um ein Haar eine falsche Braut nimmt und die Prinzessin sich als Mann verkleidet in sein Gefolge mischt, um das zu verhindern. In dieser Geschichte springt das eiserne Band nicht dem treuen Diener, sondern der Prinzessin und „echten“ Braut vom Herzen, woraufhin der Königssohn sie erkennt.
Das eiserne Band ist ein Motiv, das auf mittelalterliche Lyrik zurückgeht. Schon alte Minnedichter bemühen diese Metapher, wenn es um Liebesqualen – oder zumindest Gefühle geht.
Unstrittig ist sicherlich die Einschätzung, dass es sich beim Froschkönig um ein Zaubermärchen handelt. Das Übernatürliche kommt hier in Gestalt eines sprechenden Frosches, der sich als verzauberter Prinz entpuppt. Und – typisch Volksmärchen – wundert sich kein Mensch über diesen Umstand, sondern lediglich der Ekel vor einem solchen Tier als Gefährten wird thematisiert.
Damit haben wir auch schon mit der Einordnung des Froschkönigmotivs in den ATU, den Aarne-Thompson-Uther begonnen. Genauer, das Zaubermärchen mit der ATU-Nummer 440 gehört zur Untergruppe „Übernatürliche oder verzauberte Verwandte“ und hier „Ehemann“, zur gleichen Untergruppe (425-449) übrigens, wie Die Schöne und das Biest und SCHNEEWEISCHEN UND ROSENROTH.
Die ganze Froschküsserei, die sich in unsere Alltagskultur geschlichen hat, begann also mit einer relativ unspektakulären Verwandlung in der Nacht, bzw. einer Prinzessin, die eine Amphibie an die Wand klatschte. Da sieht man mal, wie sich Märchenmotive im Laufe der Zeit weiterentwickeln können.