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Einführung
Оглавлениеvon Alexa Waschkau
Dem europäischen Volksmärchen wohnt eine eigenartige Wirkungskraft inne.
Es übt seine Macht nicht nur an den Kindern jeder neuen Generation.
Auch der Erwachsene erfährt hin und wieder seinen Zauber.
Max Lüthi
Liebe Leser, erschrecken Sie nicht, aber wir starten mit einer kleinen Aufgabe in dieses Buch. Vervollständigen Sie doch einmal folgendes Zitat: „Hätt‘ ich ein Kind, so weiß wie Schnee“ ... Dämmert es schon? Man kann an dieser Stelle die Behauptung wagen, dass Sie vielleicht nicht den genauen Wortlaut der Fortsetzung aufsagen konnten, der da lautet „so rot wie Blut und so schwarz wie das Holz an dem Rahmen!“. Aber zumindest die Farben Rot und Schwarz dürften Ihnen sofort durch den Kopf geschossen sein. Das wäre auch nicht weiter verwunderlich, denn das Märchen SCHNEEWITTCHEN, aus dem dieser Satz stammt, ist eines der bekanntesten überhaupt, neben DORNRÖSCHEN, ASCHENPUTTEL und HÄNSEL UND GRETHEL. Wer das Glück hatte, mit diesen und anderen Erzählungen von wackeren Prinzen, schönen Prinzessinnen und bösen Zauberinnen aufzuwachsen, der wird sich auch noch im Erwachsenenalter an solche Formeln wie Schneewittchens oben zitiertem Geburtsspruch erinnern.
Märchen leben davon, erinnert zu werden. Sie sind formelhaft, eindimensional und die Figuren so knapp beschrieben, dass sie holzschnittartig wirken. Dieser letzte Satz liest sich so, als würde man scharfe Kritik an Schneewittchen und Co. üben. Tatsächlich ist aber das genaue Gegenteil der Fall, denn eben in diesen Merkmalen liegt auch die Faszination der Märchen, die bis heute in rund 160 Sprachen übersetzt wurden und damit ihren festen Platz in der Kultur vieler Länder haben. Man kann fast sagen, mitten in der Realität sind wir von Märchen umgeben. Man muss nur die Augen offenhalten, dann begegnen einem die Märchenmotive an jeder Straßenecke.
Bevor wir uns hineinstürzen, in die sprachlichen, kulturellen und psychologischen Anmerkungen zu einigen ausgewählten Märchen, müssen wir zunächst einmal festlegen, worüber wir hier genau sprechen. Auch wenn es etwas trocken klingt, vor der Praxis braucht es noch ein wenig Theorie.
Wenn man eine kurze Definition sucht, ist ein Märchen eine mündlich überlieferte, also erzählte Geschichte. Das Wort selbst stammt aus von dem mittelhochdeutschen „maere“ ab, was so viel wie Kunde, Nachricht oder Bericht bedeutet. Die Endsilbe „chen“ meint eine Verkleinerung, einen Diminutiv. Wir haben es also mit einen kleinen, mündlichen Bericht zu tun.
Bei den Worten „Bericht“ oder „Nachricht“ denkt man heute an die Wiedergabe von Fakten, an eine wahrheitsgetreue Aufzeichnung oder Weitergabe von Informationen. Kaum jemand würde auf die Idee kommen, dass es in einer solchen kleinen Nachricht um außergewöhnliche, ja fantastische Geschehnisse ginge, um sprechende Tiere oder magische Spiegel. Und trotzdem ist „das Wundersame“ ein fester Bestandteil der Märchen.
Doch dazu später mehr, denn mit dieser knappen Beschreibung kommen wir nicht weit, wenn wir uns intensiver mit Märchen beschäftigen wollen. Wir müssen nämlich festlegen, um welche Art von Märchen es genau gehen soll.
Die oben erwähnten Geschichten gehören zu den Kinder- und Hausmärchen und damit in den Bereich des europäischen Volksmärchens. In dieser Bezeichnung stecken wichtige Informationen, nämlich zum einen der geografische Raum, in dem sie aufgezeichnet wurden und die Tatsache, dass es sich um Erzählungen aus dem Volk handelt, deren ursprünglicher Verfasser unbekannt ist. Darin unterscheidet sich das Volksmärchen von sogenannten Kunstmärchen, die von namentlich bekannten Autoren geschrieben wurden.
Zu den berühmtesten Verfassern von Kunstmärchen gehören Wilhelm Hauff und Hans Christian Andersen. Hauff begann seine Karriere als Hauslehrer, machte sich aber als Schriftsteller bald einen Namen. Besonders Der Mann im Mond von 1825, eine Satire auf Heinrich Claurens Mimili, und der historische Roman Lichtenstein, der ein Jahr später veröffentlicht wurde, fanden große Beachtung. 1827 starb der gebürtige Stuttgarter mit nur 25 Jahren an Typhus.
Der Däne Hans Christian Andersen (1805-1875) wurde durch seine Kunstmärchen weltberühmt. Vor allem die Kleine Meerjungfrau ist aus Literatur, Film und Fernsehen nicht mehr wegzudenken. Viele werden die tschechische Verfilmung des Stoffes aus dem Jahr 1976 kennen und wer nach Kopenhagen fährt, sollte es nicht verpassen, sich die Bronzestatue des märchenhaften Fabelwesens anzuschauen, die seit 1913 dort auf einem Felsen sitzt und zum Wahrzeichen der Stadt geworden ist. Auf die Besonderheiten der Kunstmärchen, ihre Motive und ihren Stil werden wir nachher noch einmal zurückkommen.
Nicht nur vom Kunstmärchen unterscheidet sich das Volksmärchen, sondern auch von einer anderen Gattung von kurzen, mündlichen Erzählungen – der Sage nämlich. Über die Sage in ihren vielen Arten, Farben und Formen könnte man eigentlich eine eigene Abhandlung schreiben, was ja auch schon viele Erzählforscher, Germanisten und Kulturwissenschaftler getan haben. Wer sich über Sagen informieren will, kann durch einen wahren Blätterwald an Literatur spazieren, daher sollen an dieser Stelle ein paar wenige Erläuterungen genügen.
Man ahnt es schon, zuerst schauen wir wieder auf den Begriff und seinen Ursprung. Die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm prägten die Bezeichnung „Sage“, die sich vom althochdeutschen „saga“ für „das Gesagte“ ableiten lässt, ganz entscheidend. Die mündlichen Erzählungen selber, stammen – wie auch die meisten Volksmärchen – natürlich aus wesentlich älterer Zeit als der der sammelwütigen Sprach- und Kulturforscher aus dem 19. Jahrhundert. Bevor durch sie die „Sage“ als Begriff und Gattung auch in der Literatur populär wurde, sprach der Volksmund mitunter auch einfach von „alten Wahrheiten“.
Und genau das – die Bezeichnung als „Wahrheit“ – macht den entscheidenden Unterschied zum Märchen aus. Während bei Letzterem eine in sich abgeschlossene, fantastische Welt entsteht, spielt die Sage eher in unserer Welt, in unserem Alltag. Sie hat, im Gegensatz zum Märchen, den Anspruch, wahr zu sein. Das soll natürlich nicht heißen, dass sich in den Sagen keine Nixen, Dämonen, Teufel und Geister tummeln. Es ist das Verhältnis der handelnden Figuren zum Element des Übernatürlichen, das vollkommen anders ist. Während die Prinzessin im Märchen es vollkommen normal findet, dass Tiere sprechen, sich Gegenstände vor ihren Augen verwandeln und sie jederzeit Gefahr läuft, von einer bösen Hexe verzaubert zu werden, bekommt der Protagonist einer Sage (verständlicherweise) den Schock seines Lebens, wenn er einen Geist oder gar den Teufel höchstpersönlich trifft.
Mal könnte das Spielchen der Abgrenzung von anderen Gattungen noch eine ganze Weile weitertreiben. Da gibt es noch die Legende – eine Erzählung über das Leben von Heiligen, den Mythos, der sich mit der Götterwelt beschäftigt, den Schwank, der humorvolle Begebenheiten schildert und die Fabel, in der Tiere die Akteure sind. Bei diesen kurzen Hinweisen soll es hier bleiben.
Was aber nicht fehlen darf, ist der Blick auf den Stil und die Sprache des Volksmärchens sowie die Zeit, in der sie von den Brüdern Grimm gesammelt und niedergeschrieben wurden. Denn mit ein wenig Hintergrundwissen wird die Einordnung der einzelnen, hier ausgewählten Märchen leichter.
Wer ein wenig über die Eigenschaften des Europäischen Volksmärchens erfahren möchte, kommt an Max Lüthi nicht vorbei. Eigens für den 1909 in Bern geborenen Literaturwissenschaftler wurde 1968 an der Uni Zürich ein Lehrstuhl für Europäische Volksliteratur geschaffen. Sein Promotionsthema war Die Gabe im Märchen und in der Sage. Bis 1984 hat Lüthi an der Enzyklopädie des Märchens mitgearbeitet, ein Mammutprojekt, das noch immer nicht abgeschlossen ist und das seit 1982 von Rolf Wilhelm Brednich herausgegeben wird. Der Volkskundler dürfte Ihnen, liebe Leser als Herausgeber der Sagensammlung Die Spinne in der Yucca-Palme sowie der Folgebände bekannt sein.
Lüthi hat sich um die Beschreibung von Aufbau, Sprache, Stil und Herkunft des Märchens, insbesondere des europäischen Volksmärchens verdient gemacht. Einige seiner Erkenntnisse und der seiner Vorgänger und Kollegen sollen an dieser Stelle nicht fehlen, um die Grundlage für die folgenden Kapitel zu schaffen.
Die Tatsache, dass Märchen immer „gut ausgehen“, ist sprichwörtlich und findet sich in vielen Redewendungen unserer Alltagskultur wieder. Am Ende bekommt der Prinz die Prinzessin, die böse Hexe ihre Strafe und der Held seine wohlverdiente Belohnung. Aber wie läuft der Plot bis zum „und wenn sie nicht gestorben sind“ ab? Die Antwort auf diese Frage lautet: Nach einem festen Schema, das eingängig und formelhaft ist.
Am Beginn der Handlung kann eine Notlage stehen, wie z. B. bei HÄNSEL UND GRETHEL, die von den Eltern ausgesetzt werden, da sie von ihnen nicht mehr versorgt werden können. Dem oder den Helden kann aber auch eine Aufgabe gestellt werden, wie im Märchen Die drei Brüder, in dem die Protagonisten sich in der Welt verdingen müssen, damit der Vater unter ihnen den Erben des Hauses auswählen kann. Manchmal ist es auch einfach die pure Abenteuerlust, die den Helden hinaus treibt. Kurz wird eine wie auch immer geartete Schwierigkeit beschrieben, die bewältigt werden muss.
Die nächste strukturelle Eigenschaft, die Lüthi auf der Grundlage seiner Erzählforscherkollegen beschreibt, ist die Einteilung in zwei oder gar drei Abschnitte. Vor allem der Dreierrhythmus dürfte Vielen bekannt sein, z. B. aus Aschenputtel, das dreimal dem Prinzen begegnet und beim dritten Mal den berühmten Schuh verliert. Und am Ende des Märchens, na, Sie wissen schon.
Die Sprache des Volksmärchens hat – ebenso wie der Aufbau – einen hohen Wiedererkennungswert. Überall begegnen uns auch hier Formeln, Verse und Sprüche, die einen ganz eigenen Stil prägen. Ein Beispiel: In DIE GÄNSEMAGD spricht die als ebensolche verkleidete Prinzessin jeden Morgen beim Hinaustreiben der Gänse aus der Stadt zum abgeschlagenen (!) Kopf ihres Pferdes:
„O du Falada, da du hangest“,
Und der Kopf antwortet mit dem Sprüchlein:
„O du Jungfer Königin, da du gangest,
wenn das deine Mutter wüßte,
ihr Herz tät‘ ihr zerspringen.“
Das Tier, vermeintlich durch seinen grausamen Tod von einer hochmütigen Magd der Prinzessin zum Schweigen gebracht, verrät natürlich trotzdem zum Schluss, dass die Verräterin nur den Platz der rechtmäßigen Königin an der Seite des jungen Königs eingenommen hat und – ja genau – die Magd entgeht nicht ihrer Strafe und die Heldin herrscht zum Schluss zusammen mit dem König in Frieden und Eintracht.
Dass auch Sprache und Stil des Märchens formelhaft sind, mag nicht verwundern, wenn man bedenkt, dass die Märchen mitten aus dem Volk gegriffen sind, bzw. einer Tradition mündlicher Weitergabe entstammen. Im Falle der Kinder- und Hausmärchen ist allerdings die Frage, wie viel „Stimme des Volkes“ noch in den Volksmärchen steckt, die von Jacob und Wilhelm Grimm gesammelt und vor allem von Wilhelm Grimm spätestens ab der 2. Auflage von 1819 auch noch gehörig überarbeitet wurden. Doch dazu später mehr.
Ebenfalls auffällig ist, dass Personen, Gegenstände und die Natur flächenhaft wirken. Märchen zeichnen sich nicht gerade durch langwierige und detaillierte Beschreibungen aus, es nennt und schildert nicht, wie Lüthi feststellt. Die einzelnen Figuren haben eine scharfe Kontur und grenzen sich stark voneinander ab. Sprich, es gibt die schöne Königstochter, die böse Stiefmutter, die eiserne Stadt, den großen Drachen und so weiter. Die Beschreibung geht nie in die Tiefe, sondern glänzt durch Sparsamkeit. Oder wie Lüthi sagt, das Märchen „kennt keine Schilderungssucht.“1
Von dieser Eigenschaft weichen die Brüder Grimm sogar zum Teil ab, wenn sie einer Hexe rote Augen und einen wackelnden Kopf verpassen, statt, wie im Volksmärchen nur von einer „häßlichen Alten“ zu sprechen.
Märchenheldinnen und -helden stehen allein da. Sie sind ausgegrenzt und müssen ihre Probleme so lange auf eigene Faust bewältigen, bis ein Helfer, sei es ein übernatürliches Wesen, ein Tier oder eine freundliche Seele eingreift und ihr oder ihm zur Seite steht. Und auch mit Sidekicks und Requisiten ist das Märchen geizig. Sie tauchen auf, um einen bestimmten Zweck zu erfüllen und verschwinden dann wieder in der Versenkung. Alles geschieht punktuell und nur, um die Handlung voranzutreiben.
Wenn wir einen genaueren Blick auf die Ausstattung werfen, so fallen ein paar Merkmale besonders auf. Märchen haben eine Vorliebe für Kontraste, sowohl was Farben, als auch was Materialen angeht. Lüthi beschreibt den Prozess des Metallisierens und Mineralisierens, der nicht nur unbelebte Gegenstände betrifft, sondern auch Pflanzen Tiere und Menschen. Alles kann im Märchen aus Gold, Silber, Glas, Eisen, Kupfer oder Diamant sein.2
Äußerst merkwürdig verhält es sich zudem mit dem Faktor Zeit im Märchen. Er fehlt nämlich im Prinzip, das Märchen ist also zeitlos. Menschen und Tiere werden in ihrem Zustand beschrieben – sie können jung, alt oder sogar uralt sein, aber genau das bleiben sie dann auch. Selbst bei jahrelanger Verzauberung, bleibt alles beim Alten – man denke nur an die hundert Jahre Schlaf in „Dornröschen“. Wird der Zauber unwirksam, stellt man fest, dass für die Opfer überhaupt keine Zeit vergangen ist.
Da wir gerade mit Max Lüthi einen „Helden der Erzählforschung“ genannt haben, kommen wir nicht darum herum, noch zwei weitere zu erwähnen. Der Finne Antti Aarne und der US-Amerikaner Stith Thompson haben zu Beginn des 20. Jahrhunderts ganze Arbeit geleistet, um die Fülle von Volksmärchen aus Deutschland, Finnland und Dänemark zu beschreiben und nach einzelnen Motiven zu katalogisieren. Den Anfang machte Aarne im Jahr 1910 mit seinem Verzeichnis der Märchentypen mit Hülfe von Fachgenossen, Thompson legte 1927 nach und ergänzte Aarnes Vorarbeit. Im Jahr 1961 war dann schließlich mit The Types of the Folktale. A classification and bibliography das entstanden, was in Fachkreisen bis 2004 abgekürzt AaTh hieß. Nach einer Überarbeitung durch den Erzählforscher Hans-Jörg Uther nennt man das Nachschlagewerk nun Aarne-Thompson-Uther oder schlicht ATU.
Der Clou an der Sache ist, dass man dank Aarne und Thompson zum Beispiel recht schnell nachvollziehen kann, welches Motiv in welchen Märchen vorkommt. Wenn man also beispielsweise wissen will, wie oft und wo so etwas wie ein verzauberter Prinz in verschiedenen Volksmärchen vorkommt, muss man sich die entsprechende Motiv-Gruppe im Aarne-Thompson-Uther-Index ansehen.
Die Motive sind im ATU unter bestimmten Überschriften zusammengefasst, die sich an den herausstechenden Merkmalen einer Märchengruppe orientieren. Da haben wir zum Beispiel die große Gruppe der Zaubermärchen, die von Nummer 300 bis 749 reicht. Zaubermärchen heißen die Geschichten deshalb, weil sie Magie und Übernatürliches in ihren Motiven haben. Diese Einteilung alleine wäre aber etwas grob, deshalb ist diese Gruppe noch weiter verfeinert und es gibt noch „Übernatürliche Gegenspieler“, „Übernatürliche oder verzauberte Verwandte“, „Übernatürliche Aufgaben“, „Übernatürliche Helfer“ und einige mehr. Es kann ganz spannend sein, sich die Querverbindungen der Motive der verschiedenen Märchen anzusehen und dort, wo es sich anbietet, werden wir das auch in den folgenden Kapiteln tun.
Die Kunst des Weglassens von ausufernder Beschreibung und Ausstattung, von der wir weiter oben gesprochen haben, hat wesentliche Vorteile, wenn man eine Geschichte mündlich zum Besten geben möchte. Darüber hinaus führt das Geizen mit Adjektiven dazu, dass sich jeder Hörer (und schließlich Leser) sein eigenes Bild von der Szenerie macht. Wir als „Konsumenten“ sind ziemlich geschickt darin, die Lücken zu füllen und damit eine ganz eigene Version des Märchens zu schaffen. Sicherlich spielt auch dieses Stilelement eine eigene Rolle in der neverending story der Märchenerfolge in Literatur, bildender Kunst, Film und Fernsehen.
Es ist verlockend, sich noch viel tiefer in die Analyse von Form und Stil des europäischen Volksmärchens zu stürzen und wem dieser kurze Parforceritt nicht genügt, dem seien die Abhandlungen Lüthis wärmstens ans Herz gelegt. Auch bei der Betrachtung der hier ausgewählten Märchen selbst, wird sicher das ein oder andere noch zur Sprache kommen.
Das alles soll aber nicht heißen, dass es zu Beginn des 19. Jahrhunderts und der Sammeltätigkeit der Grimms nur eine Version jedes Märchens gegeben hat. Beileibe nicht. Auch in dieser Hinsicht haben Jacob und Wilhelm ausgewählt, zusammengestellt und verändert. Das Ergebnis ist eine romantisch getönte und von Bürgerlichkeit durchdrungene Version des „Volksmärchens“, die es in den Kanon der Kinder- und Hausmärchen geschafft hat. Damit haben die beiden unser heutiges Bild von Märchen so entscheidend geprägt, dass die meisten von uns gar nicht mehr wissen, dass es viele kleine Schnipsel der bekannten Geschichten gibt, die nur in den Anmerkungen der Verfasser selbst auftauchen. Warum das alles, wenn man doch eigentlich streng wissenschaftlich gesehen, 1:1 das aufzeichnen müsste, was die Märchenerzähler von sich geben? Jacob Grimm hätte dem sicher zugestimmt, denn ihm ging das Umschreiben, Ergänzen und Aufhübschen der Volkserzählungen vollkommen gegen den Strich. Mit dieser Einstellung schwamm er zu Beginn des 19. Jahrhunderts allerdings ziemlich gegen den Strom. Als sich die Hessischen Juristen Jacob und Wilhelm Grimm, inspiriert durch eine Idee des Schriftstellers Clemens Brentano an die Volksmärchensammelei machten, war es gute Tradition, beim Umgang mit den Volkserzählungen seine eigene Schreibkunst einfließen zu lassen. Der Grund hierfür liegt vielleicht in der merkwürdigen Beziehung der Schriftsteller zu diesen Stoffen, die irgendwo zwischen Verehrung und Verachtung rangiert. Das 18. Jahrhundert, die große Zeit der Aufklärung hat die „Ammenmärchen“ noch lächerlich gemacht und mit Füßen getreten. Doch es zeichnet sich eine neue Entwicklung ab, nämlich die Stimme des Volkes in Liedern, Sagen und eben auch Märchen auf ein Podest zu heben und zur eigentlichen Kunst zu verklären. Jacob Grimm beispielsweise kam alles künstlerisch geniale, das den Volksstoff verfälscht, fast schon dekadent vor.
Heiko Postma beschreibt in seinem Büchlein über die Grimms auf unterhaltsame Weise die Entwicklung von Jacob und Wilhelm zu Märchen- und Sagensammlern.3 Die beiden Brüder, die – in Hanau geboren – aus einer Steinauer Advokatenfamilie stammten, erhielten durch ihren Universitätsprofessor, den Rechtshistoriker Karl von Savigny, Zugang zu einem illustren Kreis, bestehend aus Achim von Arnim, dessen Frau Bettine, Gunda Brentano und jenem schon erwähnten Clemens Brentano. Auch den Grundstein für die Faszination für Alt- und Mittelhochdeutsche Literatur und Volksprosa hatte von Savigny gelegt, in dem er den beiden seine Bibliothek zugänglich machte. Im Prinzip hatte die Welt in diesem Augenblick zwei Juristen verloren, aber dafür zwei künftige Begründer einer neuen Fachrichtung, der Germanistik, gewonnen.
Zunächst einmal unterstützten sie Brentano und von Arnim bei der Veröffentlichung der Folgebände zu Des Knaben Wunderhorn, einer Sammlung von Volksliedern, die die Schriftsteller einige Jahre vorher begonnen hatten. Und sie kamen auf den Geschmack, das Studium in Marburg war beendet und die beiden Brüder waren wieder in Kassel, wo sie Jahre zuvor schon das Gymnasium besucht hatten. Weihnachten 1812 kam der erste Band der ersten Ausgabe der Kinder-und Hausmärchen (KHM) mit DER FROSCHKÖNIG ODER DER EISERNE HEINRICH als Nummer eins, 1815 folgte der zweite Band.
Leider verkaufte sich das Werk nicht unbedingt gut, die (fast) naturbelassenen Texte und der wissenschaftlich anmutende Anmerkungsapparat kamen beim Publikum nicht an. Zu sehr ins Detail gehen können wir an dieser Stelle nicht, was die Versionsgeschichte der Kinder- und Hausmärchen betrifft, die von einer handschriftlichen Urfassung von 1810 bis zur Ausgabe letzter Hand von 1857 reicht. Und natürlich bis heute unzählige Neuauflagen, Übersetzungen und Bearbeitungen umfasst.
Festhalten müssen wir allerdings, dass Wilhelm Grimm bei der Veröffentlichung der zweiten Auflage von 1819 das fortsetzt, was er schon beim zweiten Band vorsichtig begonnen hat, nämlich das sprachliche und inhaltliche Umgestalten und redigieren der „Originalversionen“. Er nutzte dazu die Abwesenheit seines strengen Bruders Jacob aus. Den verschlug es in dieser Zeit, dank des Sieges über Napoleon in der Völkerschlacht von Leipzig 1813 beruflich erst nach Paris und dann zum Wiener Kongress. Erst im Dezember 1815 hatten Kassel und Bruder Wilhelm ihn wieder.
Natürlich fiel es Jacob auf, was Wilhelm klammheimlich mit den Texten und mit dem Anmerkungsapparat getrieben hatte und entsprechend ungehalten war er dann auch. Wilhelm war auf dem Weg, eine eigene „Märchensprache“ zu entwickeln, setzte die schriftliche Version manchmal aus verschiedenen Fassungen zusammen und entwickelte sogar zum Teil aus einzelnen Motiven neue Märchen. All das widersprach nach Jacobs Meinung dem Gedanken der Erhaltung der Volkspoesie, in die man nicht mit Kunstfertigkeit hineinpfuschen sollte. Da sich die beiden nicht einig werden konnten, war Wilhelm von da an für die KHM zuständig und Jacob zog sich aus dem Projekt zurück.
Statt einen geplanten dritten Band zu veröffentlichen, fügte Wilhelm die Neuzugänge in die zweite Auflage der ersten beiden Bände ein und veröffentlichte den Anmerkungsapparat nicht mehr zusammen mit der Sammlung, sondern als einzelnes Werk. Er hatte schon lange eher das jüngere Publikum, sprich Kinder, im Sinn gehabt und legte auch dementsprechend Hand an die Texte, die somit (leicht) entschärft wurden. Wie sich das auf die verschiedenen Fassungen der Ausgaben auswirkte, werden wir an später noch an einzelnen Beispielen sehen.
Auch was die Quellen der Brüder Grimm und das Sammeln der Märchen selbst betrifft, gibt es viele Missverständnisse. Die Vorstellungen davon, wie die Entstehung der KHM von Statten ging reichen von „die Brüder Grimm haben die Märchen geschrieben“ bis „Jacob und Wilhelm sind mit Papier und Feder von Bauernhof zu Bauernhof gewandert und haben das einfache Volk befragt“. Und wie so oft liegt die Wahrheit irgendwo dazwischen.
Die Treue zum Mündlichen haben wir ja gerade zerpflückt und auch was die „Quellen aus dem Volk“ angeht, muss man relativieren. Zunächst einmal haben einige der Märchenerzähler hugenottische Wurzeln und die von ihnen erzählten Geschichten damit einen französischen Einschlag. Dorothea Viehmann, die von den Grimms als Bäuerin aus dem Dorf Zwehrn vorgestellt wird, ist weder Bäuerin (vielmehr Frau eines Schneidermeisters), noch seit Generationen bei Kassel beheimatet, denn sie hat hugenottische Vorfahren. Ebenso wie Marie und Jeanette Hassepflug, die in Kassel als Märchenquelle dienten. Die Nähe der Grimmschen Märchen zu den französischen Feenmärchen ist damit nicht von der Hand zu weisen. Und tatsächlich finden sich einige der Märchen, die der Franzose Charles Perrault bereits Ende des 17. Jahrhunderts gesammelt und (stark bearbeitet, wir kennen das bereits) veröffentlicht hat, in den KHM wieder. Doch auch dazu später mehr.
Auch die Damen der Kasseler Apothekersfamilie Wild hatten französische Wurzeln und auch hier kann man nicht vom „einfachen Volk“ sprechen, sondern eher vom Bürgertum. Eine der Töchter der Familie, Henriette Dorothea, wurde 1825 Wilhelm Grimms Frau.
Mit Friederike Mannel haben wir dann noch eine Pfarrertochter, mit Ferdinand Siebert einen Theologen und mit der Familie von Haxthausen sowie der Baroness Jenny von Droste-Hülshoff sogar den Adel unter den Märchenlieferanten. Bauernvolk sucht man also vergebens.
Geografisch stammen die Märchen – sieht man vom französischen Hintergrund ab, also aus verschiedenen Hessischen Gegenden, aus dem Weserbergland und dem Münsterland.
Was die hier zu Grunde gelegte Ausgabe betrifft, so nutzen wir zumeist die 7. Auflage von 1857, welche zugleich die letzte ist, an der die Grimms selbst maßgeblich beteiligt waren. Ist ein Märchen in dieser Ausgabe nicht mehr enthalten, nehmen wir die letzte, in der es auftaucht. Ab und zu ist auch ein Vergleich mit der sogenannten Urfassung angebracht, wenn ein Märchen unter denen gewesen ist, die Jacob Grimm 1810 an Brentano schickte, um den Grundstein für die Sammlung zu legen. Brentano bestätigte zwar den Erhalt der kleinen Zusammenstellung, aber mehr passierte auch nicht damit. Die Texte waren lange Zeit verschollen und wurden erst nach dem ersten Weltkrieg im Trappistenkloster Ölenberg im Elsaß wiederentdeckt. Daher spricht man auch mitunter von der „Ölenberger Fassung“.
Mitnichten geht es hinter den Kulissen der KHM also derart romantischvolksnah zu, wie die Brüder im Vorwort zu ihrem Werk die Szenerie ausmalen. Die Verklärung des Stoffes, der ein wenig oder auch ein wenig mehr nachgeholfen wurde, ist inzwischen ebenso Teil des „Mythos Grimm“, wie die Märchen selbst. Den Schleier dieser Verklärung werden wir in den folgenden Kapitel vorsichtig lüften, um auf den Grund des Märchenbrunnens zu blicken.