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Feldsalat, Feldsalat, lass dein Haar herunter...

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Am allermeisten begehrt der Mensch das, was er nicht haben kann. Das könnte der Untertitel des Märchens von RAPUNZEL sein, das an Stelle 12 der Kinder- und Hausmärchen steht. Das Zaubermärchen gehört mit der Nummer 310 zu denen der Gruppe „Übernatürliche Gegenspieler“ und hat im Verlauf der verschiedenen Ausgaben der KHM so einiges an Bearbeitung durch Wilhelm Grimm erfahren.

Los geht es aber mit einigen Erklärungen zum merkwürdigen Namen der Titelheldin. Bei den Brüdern Grimm lautet der Name – sonnenklar – RAPUNZEL und damit ist das arme gefangene Mädchen im Turm nach dem Kraut benannt, das seinen Eltern zum Verhängnis wurde. Viele wissen heute gar nicht mehr, dass Rapunzel eine der vielen Bezeichnungen für den Gewöhnlichen Feldsalat (Valerianella locusta) ist. Die Pflanze ist in Österreich z. B. auch als „Vogerlsalat“ bekannt und gehört zur Unterfamilie der Baldriangewächse. Als Salat zubereitet ist das Ganze tatsächlich ziemlich lecker, doch darum geht es hier eigentlich nicht. Die Rapunzeln (in den französischen und italienischen Vorlagen, zu denen wir noch kommen, ist es Petersilie) stehen für die Gelüste einer schwangeren, der sowohl die Betroffene, als auch der Ehemann hilflos gegenüberstehen.

Es gibt noch zwei weitere Pflanzen, die im Volksmund als Rapunzeln bezeichnet werden. Zum einen die Rapunzel-Glockenblume (Campanula rapunculus), deren Blätter und Wurzeln schmackhaft sind und verzehrt werden können. Die Glockenblume mit den hübschen blauen Blüten ist in West-, Mittel- und Süddeutschland verbreitet. Im Mittelalter wurde sie regelrecht als Küchenpflanze angebaut oder auch gesammelt. Da sie ebenfalls als Salat zubereitet werden kann, kommt sie als Pate für die Pflanze in Betracht, zumal das Wort Rapunzel auf das lateinische „rapunculus“, also Rübchen zurückgeht. Weniger wahrscheinlich ist es dennoch, dass mit Rapunzel die „Teufelskralle“ gemeint ist, obwohl auch sie verdickte, rübenartige Wurzeln hat.

Welche Pflanze es auch immer ist, nach der sich die Schwangere verzehrt, sie wächst auf jeden Fall im Nachbargarten und ist damit unerreichbar. Während es in der KHM-Fassung von 1812 noch über den Garten heißt

Diese Leute hatten in ihrem Hinterhaus ein kleines Fenster, daraus konnten sie in den Garten einer Fee sehen, der voll von Blumen und Kräutern stand, allerlei Art, keiner aber durfte es wagen, in den Garten hineinzugehen.

haben wir in der späteren Fassung zusätzlich zur Gefahr durch die Besitzerin, die eine Zauberin ist, noch eine Mauer, die den Garten umschließt. Doch das ist nicht die delikateste aller Änderungen, die Wilhelm Grimm im Laufe der Zeit vorgenommen hat. Aber bevor wir dazu kommen, soll noch schnell der Name der Zauberin erklärt werden. Die strenge Herrin des Gartens und Turms wird im Märchen von Rapunzel als „Frau Gothel“ bezeichnet. Und das Wort „Gothel“ wiederum geht wohl auf das süddeutsche „Godel“ zurück und meint nichts anderes als Patin. Soweit so gut.

Die schöne Rapunzel ist 1812 noch ganz die naive Verführerin, die zwar vor dem Anblick des Überraschungsgastes erschrickt, den jungen Mann aber dann ganz attraktiv findet. Er gefällt ihr so gut, „daß sie mit ihm verabredete, er solle alle Tage kommen und hinaufgezogen werden. So lebten sie lustig und in Freuden eine geraume Zeit, und die Fee kam nicht dahinter“. Der junge Prinz und das schöne Mädchen leben also in wilder Ehe, wenn man so will.

Wie auch in der hier abgedruckten Version von 1857 bekommt die Hexe dann doch irgendwann mit, was da läuft und in beiden Fassungen geschieht das, weil sich Rapunzel in ihrer Naivität (oder Dummheit) verplappert.

Interessant ist jedoch, dass sie in der Ausgabe von 1812 zur Fee meint: „sag’ sie mir doch Frau Gothel, meine Kleiderchen werden mir so eng und wollen nicht mehr passen.“ Damit ist allen außer Rapunzel klar, was passiert ist. Das Mädel ist schwanger geworden. Der Ausgang freilich ist der gleiche, sie wird in die Wüste, äh, Wildnis geschickt, wo sie ihre Zwillinge bekommt. Mit dem vorherigen Hinweis auf die Schwangerschaft kommt das dann auch nicht mehr so plötzlich für den Leser bzw. Hörer. Und der Prinz wird ebenfalls von der Fee bestraft, bevor sich die beiden Liebenden wiederfinden.

Mit der Einführung von Heiratsversprechen, Frömmigkeit und Streichung der Schwangerschaftshinweise hat mal wieder die bürgerliche Moral bei der Umarbeitung der Märchen zugeschlagen. Und natürlich der Wunsch Wilhelms, die Geschichten für Kinder passender zu gestalten.

Laut den Anmerkungen halten sich die Brüder Grimm bei der Aufzeichnung des Märchens an eine Fassung von Friedrich Schulz aus seinen „Kleinen Romanen“, vermuten aber, dass hinter dem Ganzen eine mündliche Erzählung steckt. Wenn es ein rein schriftliches Phänomen gewesen wäre, hätte es ja eigentlich auch in der Sammlung von Volksmärchen nichts zu suchen gehabt. Schulz wiederum, so stellt Max Lüthi fest1, übernimmt fast vollständig eine französische Version, nämlich Persinette von Charlotte-Rose de Caumont de La Force. Diese Erzählung stammt aus dem Jahr 1697. Mademoiselle de La Force behauptete steif und fest, dass sie die Urheberin der Geschichte sei, viel eher hat sie sich jedoch bei Giambattista Basile und seinem Pentamerone von 1634 bedient. Dort gibt es die Geschichte der Petrosinella, die als frühes Rapunzel gehandelt wird. Die Grundlage für all diese Erzählungen bietet jedoch ein französisches Volksmärchen.

Wie der Name schon vermuten lässt und wie es ja auch schon anklang, ist die besagte Pflanze in diesen beiden Fällen die Petersilie. Basiles Geschichte ist wesentlich launiger erzählt, als das Märchen, das wir heute aus den KHM kennen. Die Begegnung des Prinzen mit Petrosinella soll an dieser Stelle Ihnen, liebe Leser, nicht vorenthalten werden.

So geschah es nun einmal, daß, als Petrosinella eines Tages während der Abwesenheit der Hexe den Kopf aus jener Öffnung hinaussteckte und ihre Flechten in der Sonne erglänzen ließ, der Sohn eines Prinzen vorüberkam, welcher beim Anblick dieser zwei goldenen Standarten, welche die Herzen zur Anwerbung unter Amors Fahnen herbeiriefen, und des unter den herrlich schimmernden Wellen hervorschauenden Sirenenangesichts sich in so hohe Schönheit auf das sterblichste verliebte. Nachdem er ihr nun eine Bittschrift von Seufzern zugesandt, wurde von ihr beschlossen, ihn zu Gnaden anzunehmen, und der Handel ging so rasch vonstatten, daß der Prinz freundliches Kopfnicken und Kußhände, verliebte Blicke und Verbeugungen, Danksagungen und Anerbietungen, Hoffnungen und Versprechungen, kosende Worte und Schmeicheleien in großer Menge zugeworfen erhielt. Als sie dies aber so mehrere Tage wiederholt hatten, wurden sie dermaßen miteinander vertraut, daß sie eine nähere Zusammenkunft miteinander verabredeten, und zwar sollte diese des Nachts, wann der Mond mit den Sternen Verstecken spielte, stattfinden, Petrosinella aber der Hexe einen Schlaftrunk eingeben und den Prinzen mit ihren Haaren emporziehen. Sobald dieser Verabredung gemäß die bestimmte Stunde erschienen war und der Prinz sich nach dem Turm begeben hatte, senkten sich auf einen Pfiff von ihm die Flechten herab, welche er rasch mit beiden Händen ergriff und nun rief: »Zieh!« Oben angelangt, kroch er durch das Fensterchen in die Stube, genoß in reichem Maß von jener Petersilienbrühe Amors und stieg, ehe noch der Sonnengott seine Rosse durch den Reifen des Tierkreises springen lehrte, wieder auf der nämlichen Goldleiter hinab, um nach Hause zurückzukehren.

Von Heiratsbekundungen ist bei Basile keine Rede, stattdessen gibt es ein dezent-barockes, vergnügliches Stelldichein. Allerdings fehlt auch der Hinweis auf eine Schwangerschaft der Heldin. In der italienischen Version wird das junge Paar von einer „Gevatterin“ verpfiffen, kann aber durch eine List aus dem Turm fliehen. Die Hexe verfolgt die beiden und wird von ihnen mit Hilfe von drei entwendeten Galläpfeln, die sich, wenn geworfen, in wilde Tiere verwandeln, aufgehalten.

Die Motive des Märchens, zum einen das Weggeben des ungeborenen Kindes, um Schwangerschaftsgelüste zu befriedigen oder Wünsche erfüllt zu bekommen, zum anderen die „Jungfrau“ im Turm, sind in wesentlich älteren Erzählungen ganz unterschiedlicher Kulturkreise zu finden.

Ersteres spielt zum Beispiel in einer altnordeuropäischen Geschichte von Odin und Signy eine zentrale Rolle. Die schwangere Signy verspricht dem Gott ihr Kind als Gegenleistung für die Fähigkeit, das beste Bier brauen zu können. Auch in vielen anderen Märchen kommt das Motiv vor, man denke da nur an Rumpelstilzchen.

Das Motiv „Jungfrau im Turm“, unter dem RAPUNZEL auch im Aarne-Thompson-Uther-Index gelistet ist, taucht bereits in der griechischen Mythologie auf. Der König Akrisios fürchtet einen Orakelspruch, nach dem er keine männlichen Erben haben würde, sein Enkel ihm aber zum Verhängnis werde. Daraufhin sperrt er seine Tochter Danae in ein Verließ bzw. einen Turm, um auf Nummer sicher zu gehen. Zeus entbrennt jedoch in Liebe zu dem Mädchen und verschafft sich trotz des Hindernisses – ganz romantisch als goldener Regen – Zugang zu ihr. Aus der Verbindung geht Perseus hervor.

RAPUNZEL ist ein schönes Beispiel dafür, dass die Märchen der Brüder Grimm nicht ursprünglich und in erster Linie für Kinder bestimmt waren. Zu den Geschichten für die netten Kleinen mussten sie erst noch durch Wilhelms (äußerst erfolgreiche) Überarbeitung gemacht werden.

Psycho im Märchenwald

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