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Was macht die Stiefmutter böse
ОглавлениеWieso tun Menschen böse Dinge? Diese Frage bewegte wohl schon immer den Menschen. Und sie ist bis in unsere Tage aktuell. Die moderne Psychologie hat hierfür im Grunde zwei große Modelle, die einander mehr oder weniger unversöhnlich gegenüber stehen.
Auf der einen Seite gibt es diejenigen Psychologen, die behaupten, dass jeder von uns dazu in der Lage und Willens wäre, etwas Böses zu tun, wenn nur der Rahmen entsprechend wäre. Sie berufen sich dabei unter anderem auf einen Versuch zum Autoritätsgehorsam, bei der die überwiegende Anzahl der Versuchspersonen bereit gewesen wäre selbst tödliche Stromschläge einer ihnen unbekannten Dritten Person zuzufügen, wenn der Versuchsleiter eben dies (aus gutem Grund) verlangte1. In einem anderen bekannten Versuch steckte der US-Psychologe seine Versuchspersonen in ein gefaktes Gefängnis, teilte sie zufällig in Häftlinge und Wärter auf, und musste schließlich den Versuch abbrechen, weil die Wärter die Häftlinge anfingen massiv zu misshandeln. Gerade Zimbardo formte in den Folgejahren ein Modell, das im Kern besagt, dass jeder zu einer Bestie werden kann und wandte dies unter anderem auf den unsagbar brutalen Völkermord in Ruanda an. Dabei erschienen ihm als Schlüssel zu diesen Situationen die Entmenschlichung des Gegenübers, autoritäre Strukturen und Klarheit der Anweisungen.
Auf der anderen Seite glaubt man, dass es etwas gibt, das Menschen unterscheidet, und einige Menschen zu bösen Taten treibt, andere nicht. Anders als religiös verwurzelte Personen glauben Psychologen dabei nicht an so etwas wie einen Seele, die vom Teufel verdorben wird, sondern sprechen generell von der individuellen Persönlichkeit. Diese besteht wiederum aus verschiedenen Persönlichkeitseigenschaften, die, so der statistische Glaube2, normal verteilt sind. Das bedeutet eine mittlere Ausprägung einer Persönlichkeitseigenschaft ist am häufigsten, genau genommen zu knapp 67% vorhanden. Diejenigen Personen, die eine Ausprägung in den extremsten knapp 5% haben, gelten uns dann als psychisch gestört. Und eine solche Persönlichkeitseigenschaft soll auch die „Psychopathie“ sein, die sich eben genau durch das auszeichnet, was „dem Bösen“ am nächsten kommt: die Unfähigkeit, die eigenen Bedürfnisse unterzuordnen, bei maximaler Bereitschaft, sich sein Verlangen zu erfüllen, koste es (die Anderen), was es wolle, gepaart mit emotionaler Kälte und der Fähigkeit, große Brutalität anzuwenden.
In gewisser Weise haben wir hier einen Streit, den wir öfter in der Psychologie finden, nämlich ob Anlage oder Umwelt das Wesen eines Menschen bestimmt. Was aber hat das mit dem Märchen „Brüderchen und Schwesterchen“ zu tun? Vielleicht ja nichts, ich glaube aber schon einiges. (Sonst hätte ich Ihnen die ersten beiden Absätze ja wohl kaum zugemutet.)
Ausgangspunkt meiner Überlegungen war: was ist denn bitte die Stiefmutter für eine doofe Person? Dann fiel mir auf, dass wir über den Vater des Geschwisterpaares gar nichts erfahren. Wirklich nichts. Wir erfahren lediglich, dass die Stiefmutter eine eigene Tochter hatte, die „hässlich war wie die Nacht, und nur ein Auge“ hatte. Nun, Schönheit liegt sicherlich im Auge3 des Betrachters, und davon hat die eben jene Tochter ja nur eines4, wir wissen auch nicht, was mit dem anderen Auge der Tochter passiert ist. Allerdings wirkt es aus unserem heutigen Blickwinkel5 als genetische Komponente, die die Tochter von ihrer bösen Mutter erhalten hat. Also: kein Wort zum Vater. Interessant ist auch, dass die Motivation der Stiefmutter eine andere ist, als bei HÄNSEL UND GRETHEL. Dort werden zwei Kinder ausgesetzt, weil das Essen nicht für alle reichte, auch hier haben wir es mit einer Stiefmutter zu tun6. Während dort jedoch die Stiefmutter und der Vater selbst mit ihrer Entscheidung zu kämpfen haben, liegt der Fall bei BRÜDERCHEN UND SCHWESTERCHEN ganz anders. Wir erfahren, dass die Stiefmutter eine böse Hexe ist, die nachhaltig schaden will – aus „Neid und Mißgunst“. Sie scheint also nicht anders zu können, als böse zu handeln, ein Charakterzug, den wir bei Hexen im Märchen fast ausschließlich antreffen.
Die Aussage ist klar: es gibt Menschen, die sind einfach nur schlecht. Und auch ihre Nachkommenschaft ist zwangsläufig schlecht. Sie können einfach nicht aus „ihrer Haut“, oder wie wir heute sagen würden: sie tragen stabile Persönlichkeitseigenschaften in sich, die sie vielleicht ein kleines Stückchen, aber nie grundlegend ändern können. Solchen Straftätern attestieren wir heute „schädliche Neigungen“, sie gelten vielen als untherapierbar und werden immer noch „in Sicherungsverwahrung“ gebracht. Medien sprechen von ihnen als „Bestien“, Politiker fordern immer wieder drakonische Strafen für sie. Insofern dürfte das Ende des Märchens manch ein konservatives Politikerherz höher schlagen lassen: die beiden Frauen, Stiefmutter und Tochter, entmenschlicht als Hexe und deren Nachkommenschaft betrachtet werden getötet, aber auch nicht „einfach so“. Vielmehr bemüht sich der Geschichtenerzähler zu betonen, dass „beide vor Gericht“ geführt wurden. Scheinbar war es Menschen stets wichtig zu betonen, wo eigentlich der Unterschied zwischen einem Mord aus niederen Beweggründen und der Tötung von Staatswegen liegt.
Dass das Märchen generell die Idee einer gegebenen Persönlichkeitsausprägung vertritt, sieht man auch an einer anderen Stelle: die Jagd auf das Reh/ den Bruder. Im ersten Moment fragte ich mich, wieso denn bitte der Bruder/ das Reh nicht einfach seine Hufe still hält und gefälligst im Haus bleibt, wenn die Jagd läuft. Schließlich wissen er und die Schwester doch um die Gefahr. Die Antwort: weil es in seiner Natur liegt. Das Reh scheint das unbändige Bedürfnis zu haben an der Jagd teilzunehmen, auch wenn es seinen Tod bedeuten kann, sonst stürb es „vor Betrübnis“.
Und schließlich haben wir auch zu Beginn des Märchens erlebt, dass es angeborene Bedürfnisse zu geben scheint, die man nicht einfach überwinden kann. So schafft es das Brüderchen zwar zweimal auf das Trinken zu verzichten, doch muss einfach beim dritten Mal trinken7. Kleines Detail am Rande: das Zurückstellen der eigenen Bedürfnisse glückt nur dem Mann nicht, implizit wird hier die Werthaltung vermittelt, dass eben auch dies gegen die Natur des Mannes wäre.
Anders als wir mittlerweile aus den Versuchen von Milgram, Zimbardo und Co wissen, lehrt dieses Märchen also nur den Ansatz, dass es das Böse gibt, weil es böse Menschen gibt und diese im Zweifel eben selbst keine Menschen sind, sondern bspw. Hexen. Der Vorteil dieser Sichtweise ist der, dass man eine einfache Trennlinie dafür hat, wer gut ist und wer böse. Gut ist der, der Gutes tut. Dieses simple Credo wird dann noch in einen religiösen Rahmen, wenn auch nur sehr halbherzig, eingebunden, und schließlich werden sowohl Brüderchen als auch Schwesterchen von ihrem Leid erlöst.