Читать книгу DIE, DIE NICHT STERBEN - Sebastian Fleischmann - Страница 5

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02 - Menschenkenntnis

Martin und Thomas Kruger wuchsen in Redwitz auf. Damals wohnten sie mit ihren Eltern in einem gemieteten Haus, unweit ihres jetzigen Standorts entfernt. Es war ein großes, dreistöckiges Gebäude, von dem sie allerdings nur das Erdgeschoss bewohnten. Die anderen Etagen standen leer. Nicht etwa deshalb, weil man keine weiteren Mieter finden konnte, sondern weil ihre Großmutter - deren Vermieterin - sich vornahm, selbst einmal in dieses Haus zu ziehen. Sie hatte es mit ihrem Mann nach der Zeit des zweiten Weltkriegs erbaut, wobei sie sehr viel Schweiß und Herzblut investierten. Obwohl sie noch ein weiteres Haus besaßen, sollte es einfach niemand anderes bewohnen, als die eigene Familie.

Das war nur von Vorteil, da Martin später im Teenageralter keine Rücksicht auf zusätzliche Mieter nehmen musste, als er sich nach und nach eine eigene Heimkinoanlage zulegte und sie in einer gehörigen Lautstärke nutzte. Er hatte sich noch Jahre später an die gemütlichen Filmabende erinnert, zu denen er Freunde und auch Verwandte einlud. Jedes Mal wenn Martin zurückblickte, musste er zugeben, dass er in der Tat eine glückliche und zufriedene Kindheit hatte.

Der große, anhängende Garten umfasste ein komplettes, weiteres Grundstück, worauf man mühelos kleinere Fußballspiele ausführen konnte. Außerdem hatte er unzählige Nächte an einem improvisierten Lagerfeuer verbracht. Sein Vater Gregor leistete ihm Gesellschaft, wann immer er sich Zeit nehmen konnte. Natürlich beschränkte sich das meist auf späte Nachmittage oder Abende, sobald er von seinem Job zurück war und im Haushalt keine weiteren Arbeiten anstanden.

Ein Abend blieb Martin ganz besonders in Erinnerung. Nicht mit seinen Freunden oder Bekannten, sondern mit seinem Dad. Maria war an dem Abend nicht zu Hause. Sie hatte eine Freundin besucht, der es leider nicht so gut ging, da sie von ihrem Freund verlassen wurde. Deshalb wollte sich Martins Mutter um sie kümmern und für sie da sein. Aus diesem Grund verbrachte er ein paar Stunden des Nachmittags allein zu Hause, bevor Gregor von der Arbeit kam. Dieser brachte unerwarteterweise eine bereits ausgenommene und ofenfertige Gans mit, da er wusste wie sehr sein Sohn die Abende am Lagerfeuer liebte.

Thomas war zu dieser Zeit gerade mal vier Jahre alt und wollte an dem Tag unbedingt zu seiner Oma. Deshalb war er nicht zu Hause und die beiden hatten die komplette Nacht für sich alleine. Glücklicherweise handelte es sich um einen Freitag, denn die Situation am Lagerfeuer sollte sich noch reichlich ausdehnen. Gott sei Dank musste Martin am nächsten Tag nicht in die Schule und Gregor nicht zur Arbeit.

Mit seinen zwölf Jahren hatte Martin schon ein paar wenige - harmlosere - Western gesehen und wollte somit seit geraumer Zeit ausprobieren, wie es ist, etwas über offenem Feuer zu grillen. Nicht auf einem Rost, sondern auf einem drehbaren Spieß, wie man es auch aus Comics mit Wildschweinen kannte.

Daher saßen sie bei Einbruch der Dunkelheit am Lagerfeuer im Garten und drehten die aufgespießte Gans langsam über den lodernden Flammen. Natürlich erwies sich diese Art der Zubereitung als äußerst langwierig, bis sie die ersten Happen genießen konnten, da eine Gans schon im Ofen mehrere Stunden benötigte. Aber das war es absolut wert. Martin genoss die Zeit mit seinem Vater in dieser gemütlichen Atmosphäre. Das Feuer spendete als einzige Lichtquelle wohlige Wärme, was durch das angenehme, beruhigende Knistern der Glut einen unvergesslichen Flair entwickelte. Nicht selten verloren sich ihre Blicke in den züngelnden Flammen, die sie förmlich zu hypnotisieren schienen.

Die beiden mussten sich mit dem Drehen ständig abwechseln, um das Tier permanent in Bewegung zu halten, damit die Haut nicht verbrannte. Alleine wäre es wohl eine mühsame und eintönige Arbeit gewesen. Aber nicht zu zweit. Einer kümmerte sich immer um das Feuer und legte entsprechend Holz nach, während der andere sein Augenmerk der Gans widmete.

Es musste etwa zwei Uhr morgens gewesen sein, als Gregor zum ersten Mal das Messer nahm, um die äußere Schicht von dem Tier zu lösen. Der Geschmack war einfach fantastisch. Das rauchige Aroma mit einer knusprigen Bissfestigkeit und einem saftigen, zarten Fleischgenuss. Nachdem die erste Schicht gegessen war, grillten sie die Gans eine weitere, jetzt natürlich kürzere Zeit, bis das Fleisch abermals eine derart genüssliche Konsistenz entwickelte.

Martin hatte sich damals gewünscht, dass jener Abend mit seinem Vater niemals zu Ende gehen würde. Doch das tat er. Irgendwann - es war schon sehr spät in der Früh - fielen ihm allmählich vor Müdigkeit die Augen zu und Gregor beendete die Nacht am Lagerfeuer. Dieser Abend blieb Martin noch bis heute als einer der glücklichsten Momente seines Lebens in Erinnerung. Leider sollte sich diese Situation niemals wiederholen.

Ein paar Wochen später war Susanne bei ihnen zum Essen eingeladen und sie sprachen ausführlich über verschiedene Ereignisse. Unter anderem auch über den Umstand ihres Freundes, der sie vor kurzem verlassen hatte. Daher kam auch jener Abend zur Sprache, als Maria sie besuchte - jedoch nie dort war.

Seine Mutter hatte gelogen. Wenn sich Maria damals mit ihrer Freundin besser abgesprochen hätte, wäre diese Erkenntnis vermutlich nie ans Licht gekommen. Aber so, wie die Lage dann schien, hatte sie eine Affäre, womit auch der Familienfrieden endete. Thomas war noch nicht alt genug, um die Situation zu verstehen und zu begreifen. Martin allerdings schon. Auch wenn er es nicht wahrhaben wollte, fraßen sich die kommenden Sachverhalte in sein Unterbewusstsein. Er musste die Streitsituationen seiner Eltern passiv ertragen, welche sich in der nächsten Zeit häuften und fast schon an der Tagesordnung waren.

Im Nachhinein - nachdem die anfänglichen Gefühle von Eifersucht und Wut einigermaßen abgeklungen waren - musste Gregor erkennen, dass es ihm eher sekundär um den Betrug seiner Frau ging, als vielmehr um den Umstand, dass sie sogar ihren eigenen Sohn allein zu Hause ließ, um so schnell wie möglich zu ihrem Liebhaber zu flüchten. Es war für Martin sehr traurig mit ansehen zu müssen, wie die Liebe der Eltern vor seinen Augen zerbrach und sich förmlich in Luft auflöste. Das Familienleben klaffte immer mehr auseinander, bis schließlich nur noch Fragmente übrig blieben.

Dies sollte noch viele Jahre an ihm zehren.

Einen Monat nach ihrer Offenbarung zog Maria schließlich aus und wohnte von da an bei ihrer Mutter. Ab diesem Zeitpunkt switchten Martin und Thomas zwischen ihren Elternteilen immer häufiger hin und her, je nachdem wer gerade Zeit für sie hatte und nicht arbeiten musste. Die restliche Zeit verbrachten sie bei ihren Großeltern. Das Gefühl eines richtigen Zuhauses, einem Zufluchtsort von Kindern in jenem Alter, war verloren.

Neben Martin mussten auch seine Verwandten feststellen, dass Gregor immer mehr dem Alkohol verfiel. Nicht etwa, weil er ihn mochte - eigentlich fand er ihn sogar ziemlich abstoßend - sondern eher, weil er etwas brauchte, dass ihn vergessen ließ. In Martins Alter konnte er sich noch nicht vorstellen, wie tief der Schmerz sitzen musste, nach so vielen Jahren glücklichen Zusammenlebens plötzlich von dem Menschen, den man liebte, verlassen und enttäuscht zu werden. Schließlich verbrachte Gregor nach der Arbeit mehr Zeit in einer Bar als zu Hause. Deshalb bekam Martin seinen Vater auch immer weniger zu Gesicht. Die Großeltern übernahmen den Part der Familie - der neuen Eltern.

Immer häufiger - wenn Gregor seine Söhne ins Bett brachte - mussten sie feststellen, dass seine Augen stark gerötet waren. Dieser wies jede Frage danach allerdings mit einer gleichgültigen, aber freundlichen Geste beiseite und meinte nur, dass ihm während der Arbeit etwas ins Auge geflogen sei, da er vergaß eine Schutzbrille aufzusetzen. Allerdings konnten sie vor dem Einschlafen des Öfteren das leise, unterdrückende Weinen ihres Vaters aus dem Nebenzimmer hören.

Maria hatte dagegen wohl eine stärkere Persönlichkeit, oder sie verstand es einfach, ihre eigentlichen Gefühle zu überspielen - zu verbergen. Das Verhältnis mit ihrem Liebhaber endete bereits nach kurzer Zeit. Jedoch konnte Martin nie begreifen, was seine Mutter dazu trieb, ihren Vater derart zu hintergehen. Allerdings hatte er auch niemals danach gefragt, um wiederkehrende, negative Gefühle und Streitigkeiten zu vermeiden. Auch im späteren Leben nicht.

Gegen jede Statistik verschlechterten sich Martins Noten in der Schule jedoch nur unmerklich. Allerdings zog er sich emotional immer weiter zurück. Er begann negative Situationen von seinem Alltag, oder von Mitschülern, zu verheimlichen, oder redete sie schön. Für ihn waren seine Eltern nicht mehr die Personen, denen man alles erzählen konnte, oder durfte. Er hatte Angst, auch einmal von ihnen enttäuscht, vielleicht sogar verlassen zu werden. Selbst wenn es ihm schlecht ging verbarg er es und schuf eine Fassade um sich herum, durch die er ständig zufrieden wirkte.

Da Martin und Tom die meiste Zeit bei ihren Großeltern verbrachten, bekamen sie nicht wirklich mit, wie es vonstatten ging, aber es schien, als würden sich Maria und Gregor allmählich vertragen. Es musste etwa ein Jahr vergehen, bis seine Mutter schließlich wieder zu Hause einzog.

Von jenem Zeitpunkt an versuchten sie erneut eine glückliche Familie zu sein, was sich natürlich als sehr schwer erwies. Weitere Jahre später wirkte es so, als hätte es die besagte Situation nie gegeben. Niemand verlor je wieder ein Wort darüber. Jedoch war die Beziehung der beiden nicht dieselbe wie zuvor. Sie liebten sich noch, dass stand außer Frage. Doch das Vertrauen war gebrochen. Erst viel, viel später sollte sich das erneut verbessern. Es hieß, die Zeit heilt alle Wunden. Aber eigentlich gewöhnte man sich nur an den Schmerz.

Nachdem weitere Jahre vergangen waren, beschlossen sie, sich ein eigenes Haus zu bauen, um dort ihr weiteres Leben in eigens konstruierter Gemütlichkeit zu verbringen. Dieses Haus würden sie später einmal ihren Söhnen überschreiben, die es dann entweder verkaufen, oder persönlich nutzen könnten. Es wäre das Vermächtnis nach ihrem Ableben.

Da Gregor Maurer war, lag es nicht fern, dass Martin auch einen handwerklichen Beruf ergriff. So entschied er sich für eine Ausbildung zum Zimmermann. Nachdem er seinen Dienst bei der Bundeswehr abgeleistet hatte, begann er mit der Arbeit in einem örtlichen Betrieb, welcher kurze Zeit später jedoch Insolvenz anmelden musste und seine Tätigkeiten schließlich einstellte.

Danach zog es ihn aus einem unerfindlichen Grund von zu Hause weg. Er wollte etwas Neues sehen; etwas Neues in seinem Leben entdecken. So fand er sein nächstes zu Hause in einer kleinen Vorstadt von München. Anhand der dort herrschenden Mietpreise war seine Wohnung entsprechend klein. Dennoch fand er Wohlgefallen daran. Er ist nie die Art Mensch gewesen, die besonderen Luxus brauchten, um glücklich zu sein.

Den Kontakt zu seinen Eltern und den Freunden aus seiner Heimat pflegte er nach wie vor. Meist nur per Telefon, aber wenn es seine Zeit und das Geld zuließen, fuhr er sie auch mal besuchen. Natürlich ließ die Häufigkeit zu wünschen übrig, aber zwei, eventuell drei Mal im Jahr versuchte er es möglich zu machen.

Martin fand recht schnell eine neue Stelle in einem relativ großen, angesehenen Betrieb mit integriertem Sägewerk, welcher bereits so viele Aufträge aus dem Großraum München hatte, dass die Zimmerei für zwei Jahre im Voraus ausgebucht war. Nach ein paar Jahren konnte sich Martin ein gewisses Ansehen erarbeiten und wurde dadurch Verantwortlicher für mehrere Baustellen. Das brachte ihm zwar nicht übermäßig mehr Geld ein, aber er hatte nach wie vor Spaß an dem was er tat. Er hatte seine Berufung gefunden und auch nie daran gezweifelt, oder daran gedacht, seinen Job zu wechseln.

Er empfand es für angenehm, oft einen Hut zu tragen. Zumindest bei den Arbeiten, wofür kein Schutzhelm erforderlich war. Vielleicht lag es an den Westernhelden, welche er zu Kindeszeiten im Fernsehen bestaunt hatte, dass er sich auch noch einen Bart wachsen ließ. Und da viele Kollegen der Meinung waren, dass ihm dieser gut stehen würde, blieb er dabei.

Irgendwann lernte Martin bei einem Richtfest die Tochter eines Auftraggebers kennen und sie verstanden sich von Anfang an ziemlich gut. So kam es, dass Lisa und er sich auch nach Beendigung des Bauprojekts trafen. Damals hätte Martin niemals so weit gedacht, dass er diese Frau eines Tages heiraten und mit ihr ein Kind bekommen würde.

Lisa besaß ihr eigenes Maklerbüro und verdiente auch entsprechend daran. Schließlich sind die Preise für Wohnungen in München nicht gerade auf unterem Niveau, wodurch entsprechende Summen als Provision abfielen. Nach einer Weile gab Martin schließlich seine Wohnung auf und zog zu seiner Freundin, welche bereits eine überdurchschnittlich große Immobilie besaß.

Nach vierjährigem Zusammenleben mit Höhen und Tiefen - allerdings in einem Ausmaß wie es in gesunden Beziehungen üblich ist - wurde Lisa mit Valentina schwanger und sie beschlossen zu heiraten. Die Hochzeit gestaltete sich für Martin als ein weiterer der glücklichsten Momente seines Lebens, was ebenso für seine Lebenspartnerin galt.

Auch wenn es ab und an Streitigkeiten gab, so war Geld nie das Problem. Da Lisa ein wesentlich höheres Monatseinkommen hatte, achtete Martin sehr genau darauf, ihr nicht auf der Tasche zu liegen. Nicht etwa, weil er es nicht durfte, sondern weil sein Anstand und seine Erziehung es untersagten. Zwar besaßen sie nach der Hochzeit ein gemeinsames Konto, sprachen jedoch über sämtliche Ausgaben und tätigten keine Transaktionen ohne sich mit dem Partner vorher beraten zu haben.

Beide empfanden sich als sehr gute Eltern. Sie wollten, dass es ihrer Tochter an nichts fehlte. Natürlich sollte sie nie alles bekommen wonach sie schrie, damit aus ihr nicht so eine verzogene Göre wurde, wie man es in Realityshows sehen konnte. Sowohl Martin, als auch Lisa hatten bereits eine entsprechende Lebenserfahrung hinter sich und wollten deshalb nicht die gleichen Fehler bei Valentina machen, wie ihre eigenen Eltern bei ihnen.

Etwa in dem Zeitraum als ihre Tochter sechs Jahre alt wurde, schlug die Partnerschaft zwischen Martin und Lisa in emotionaler Hinsicht einen anderen Pfad ein. Es ging nie um verflogene Liebe. Ganz im Gegenteil, sie mochten sich beide noch sehr. Allerdings sprach Martin nur sehr selten über seine Gefühle und verhielt sich die restliche Zeit diesbezüglich sehr ruhig. Auch wenn sie bereits viele Jahre zusammen waren, konnte Lisa ihr Wissen über Martins früheres Leben in nur zehn Minuten erzählen. Seine Eltern, sein Bruder und sogar er selbst waren für sie wie ein verschlossenes Buch, wovon man nur die Inhaltsangabe auf der Rückseite des Einbands kannte.

Martin würde sich nie eingestehen, dass die Trennung und das Verhalten seiner Eltern ihn doch sehr stark geprägt hatten und sein kommendes Leben auf andere Bahnen lenkten. Er redete seit je her nur selten und äußert wortkarg über negative Emotionen privater Hinsicht, oder Problemen aus seiner Arbeit. Größeren Streitigkeiten ging er meist aus dem Weg, oder beendete sie, bevor es tiefgründiger wurde, indem er seiner Frau einfach in allem Recht gab und ihr zustimmte. Damit blieb für Lisa der Einblick in seine Seele durchweg verborgen. Sie empfand es irgendwann als Zeichen des Misstrauens, dass sich ihr Mann niemals vor ihr offenbarte - auch wenn dies nie seine Absicht gewesen war.

Schließlich fühlte sie sich mit der Zeit nicht mehr wohl in ihrer Beziehung. Nach vielen Versuchen daran zu arbeiten und sich dem sogar anzupassen, gab es zwischen Lisa und ihrem Mann das "große Gespräch", was letztendlich auf eine Trennung hinauslief. Dies geschah weder im Affekt, noch im Streit, sondern in beidseitigem Einvernehmen. Da Martin nie mochte, dass Lisa sich jemals unwohl fühlte, willigte er schließlich ein, auch wenn er dieses Ergebnis nie erhofft hatte. Seiner großen Liebe sollte es gut gehen. Wenn nicht mit ihm, dann musste er sich dem eben fügen.

Sie nahmen sich zusammen einen Anwalt und die Scheidung verlief ohne Komplikationen, da sie gegenseitig keine Ansprüche erhoben.

Martin suchte sich erneut eine Mietwohnung in der Nähe seines Betriebs, die er sich leisten konnte und zog bei Lisa aus. Allerdings sind beide nach diesem Ereignis weiterhin beste Freunde geblieben. Wegen dem Sorgerecht für Valentina gab es keinerlei Probleme, da sie sich nach wie vor sehr gerne hatten und sich auch gegenseitig unterstützten. An jenem Wochenende wäre Lisa am liebsten mit zu seinen Eltern gefahren, da sie schon seit Längerem nur noch regen Kontakt zu ihnen hatte. Allerdings kam ihr ein nicht zu verachtendes, berufliches Projekt dazwischen, welches hervorragende Aussichten auf eine horrende Provision versprach. Deshalb wollte sie eine spätere Gelegenheit des Wiedersehens nutzen und dieses Wochenende Martin und Valentina überlassen.

Thomas schlug im Gegensatz zu seinem Bruder einen ganz anderen Lebensweg ein. Nachdem er das Gymnasium absolviert hatte, versuchte er sich ebenfalls in einem handwerklichen Beruf, um seiner Familie in gewisser Weise treu zu bleiben - trotz höherer Schulung - und begann eine Lehre zum Mechatroniker. Doch anders als Martin konnte er sich den Feierabend nie früh genug herbeiwünschen. Dies verschlimmerte sich von Woche zu Woche erheblich, bis Tom seine Lehre schließlich beendete.

Thomas war keiner von den Menschen, die ihre Arbeitslosigkeit genossen. Ganz im Gegenteil. Er zerbrach sich täglich den Kopf darüber, welcher Berufszweig wohl zu ihm passen und wofür er sich gerne engagieren würde. Nach unzähligen Telefonaten konnte er schließlich einen Praktikumsplatz bei einer sehr angesehenen Firma in Berlin ergattern, welche sich auf Bauarchitektur spezialisierte. Angetan von den zukünftigen Möglichkeiten die sich ihm eröffnen würden begann er ein Studium und hielt im Anschluss Einzug in das Unternehmen. Zu Beginn musste er sich - wie alle Berufsanfänger - erst beweisen. So absolvierte er nach seiner theoretischen Ausbildung mehrere Jahre den praktischen Dienst, bevor er sich endlich in der Architektenliste eintragen durfte.

Thomas war immer sehr engagiert und arbeitete mit Leib und Seele an den Projekten. Daher kam sein anstrebender Erfolg nicht unerwartet. Wenige Zeit später gestattete es ihm sein Gehalt sich ein entsprechend großes Loft zu mieten, dessen verglaste Fensterfront einen traumhaften Blick über die Stadt Berlin ermöglichte.

Beruflich nahm er sich vor, immer tadellos und professionell zu wirken, weshalb er sich für das Tragen vornehmer Anzüge entschied. Tom fand schnell gefallen an dem Ansehen, dass andere Menschen ihm entgegen brachten, wodurch sein beruflicher Stil ebenso im privaten Bereich zur Tagesordnung wurde. Hemd, Sakko und Krawatte waren ab diesem Zeitpunkt nicht mehr von ihm weg zu denken. Fast schon penibel begann Thomas auf sein Äußeres zu achten, was einen kurzen, modischen Haarschnitt und eine stets glatte Rasur mit beinhaltete.

Neben seinem Job besuchte er regelmäßig drei Mal die Woche ein Fitnessstudio, wobei er es weniger auf Muskelaufbau anlegte, sondern vielmehr auf gut definierte Proportionen und Ausdauer.

Bei Frauen hatte Thomas nie sonderliche Probleme. Er hatte einige Freundinnen in seinem Leben, falls das überhaupt die passende Bezeichnung für die Art von Beziehungen war. Tom besuchte viele Partys und ließ nie eine Feier aus, wobei er sich mit einigen Personen des anderen Geschlechts anfreundete. Jedoch ließen sich seine Beziehungen eher in Wochen und Monaten rechnen, als in Jahren. Dies lag nicht etwa an der Furcht vor Bindungen, sondern vielmehr an seiner Liebe zur Freiheit - wie er es selbst einmal definierte. Thomas liebte Frauen, aber er konnte sie nicht in seiner Nähe haben.

Seine Wohnung war immer sehr aufgeräumt und sah makellos aus. Für Menschen, die sie das erste Mal betraten, konnte die Ordnung fast zwanghaft wirken. Die Zimmer glichen beinahe Vorlagen für Werbemagazine von Möbelhäusern, die bei möglichen Kunden einen nicht zu vergessenen Eindruck hinterlassen wollten. Schon aus diesem Grund konnte sich Tom kaum vorstellen seine Wohnung längerfristig mit einem Menschen zu teilen.

Anders als bei seinem Bruder verringerte sich der Kontakt zu seinen ehemaligen Freunden und seinen Eltern. Nicht, weil er die Verbindung zu ihnen absichtlich trennen wollte, sondern weil sein jetziges Leben kaum mehr Gedanken daran aufkommen ließ.

Jenes Wochenende mit Martin und dessen Tochter sollte die Beziehung zu seinen Eltern wieder verbessern, wofür er ausnahmsweise auch Krawatte und Stoffhose zu Hause ließ. Vermutlich lag es daran, dass Thomas unterbewusst einen Kontrast setzen wollte, da sein derzeitiges Leben mit dem früheren kaum noch etwas gemein hatte.

Allerdings empfand er große Freude, seine Eltern wieder persönlich sehen zu können - vorausgesetzt sie würden endlich ihren Weg nach Hause finden.

DIE, DIE NICHT STERBEN

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