Читать книгу DIE, DIE NICHT STERBEN - Sebastian Fleischmann - Страница 6
Оглавление03 - Angst
>>Bist du dir sicher, dass das die richtige Straße ist?<<, fragte Thomas.
>>Ich glaube schon<<, entgegnete sein Bruder und lenkte den Mazda in eine kleinere Nebenstraße zu seiner Linken. Für einen Moment beleuchteten die Autoscheinwerfer das leer stehende Fahrzeug und die Reflektoren der Speichen des Fahrrads, welche sie bei ihrer Ankunft passiert hatten. Mit dem Abbiegen des Wagens wischte der Lichtkegel vorüber und die schemenhaften Konturen verblassten abermals in der Dunkelheit.
>>Wo genau fahren wir denn jetzt hin, Papa?<<
Martin haderte kurz mit sich, wie er die folgenden Sätze formulieren sollte, um seiner Tochter keine Angst zu machen.
>>Wir fahren zur Polizei.<<
>>Warum? Ist mit Oma und Opa etwas passiert?<<
>>Nein, mein Schatz. Aber vielleicht wissen die Polizisten wo sie gerade sind. Dann müssen wir nicht mehr so lange auf sie warten.<<
>>Ja, das wäre schön.<<
Martin fuhr mit mäßiger Geschwindigkeit. Er konnte nur vermuten, wo sich das neu gebaute Revier befand, da er noch nie persönlich dort gewesen war und das eingeschränkte Sichtfeld erschwerte ihm die Orientierung zusätzlich.
Sie passierten einige Vorgärten, welche alle sehr gepflegt und ansehnlich erschienen. Manche wurden von weißen oder schwarzen Zäunen umrahmt; wieder andere von Hecken, oder robusten Pergonen. Auf den Straßen parkten nur vereinzelt Fahrzeuge, da fast alle Grundstücke mit Garagen oder Carports ausgestattet waren.
In einer Auffahrt erkannte Tom einen Familienvan mit geöffneter Heckklappe und mehreren Einkaufstüten. Eine davon war herausgefallen und hatte ihren Inhalt auf das Quarzitpflaster verteilt. Tom glaubte zu erkennen, dass die Eingangstür des Hauses ebenfalls offen stand, konnte allerdings keinen zweiten Blick erhaschen, da das Stillleben weiter an ihm vorbeizog und den erhellten Bereich somit verließ. Gelegentlich passierten die drei weitere Abzweigungen, blieben jedoch auf gerader Strecke.
Thomas legte die Stirn in Falten. Man konnte an seinen Gesichtszügen erkennen, wie sich seine Gedanken überschlugen. Für eine knappe Minute drang nur das monotone Geräusch des Motors in den Innenraum des Wagens, bis schließlich Tom das Schweigen brach.
>>Halt mal an.<<
>>Warum? Was ist los?<<, fragte sein Bruder.
>>Halt einfach mal an. Ich will nur was prüfen.<<
Martin stoppte den Wagen, legte den Leerlauf ein und zog die Handbremse an. Noch bevor er fragen konnte was Tom gesehen hatte, war dieser schon ausgestiegen und lief auf direktem Weg zum nächstgelegen Haus.
>>Mach wenigstens die Tür zu!<<, rief Martin ihm nach. Vergebens. Schließlich schaltete er die Heizung zwei Stufen höher und richtete die Lüftung auf Valentina und sich neu aus. Er konnte beobachten, wie Tom sich auf der Schwelle zur Haustür positionierte und mehrmals gegen das Aluminium klopfte. Krampfhaft versuchte er anschließend durch die schmale, eingearbeitete Milchglasscheibe - welche sich mittig von oben nach unten erstreckte - einen Blick ins Innere zu erhaschen.
>>Was macht Thomas da?<<, wollte Valentina wissen und verfolgte neugierig die Handlungen ihres Onkels.
>>Ich habe keine Ahnung. Er wird es uns mit Sicherheit gleich sagen.<< Auch Martins Blick haftete weiterhin auf seinem Bruder.
>>Ich mag es nicht, wenn es so dunkel ist. Das macht mir Angst.<<
Jetzt wendete sich Martin seiner Tochter zu und sah ihr liebevoll in die Augen. Dann begann er sie mit sanfter Stimme zu beruhigen.
>>Hör zu, Valentina. In der Nacht gibt es nichts, was es nicht auch am Tag gibt. Du brauchst dich vor nichts zu fürchten. Und um den Stromausfall kümmern sich in diesem Moment bestimmt die Arbeiter des Umspannwerks. Dann ist das Problem mit Sicherheit bald wieder behoben. Und wir werden uns nachher gemütlich mit Oma und Opa an den Tisch setzen, ein paar Kerzen anzünden - ich werde den Kachelofen noch einmal anschüren - und dann machen wir uns endlich über das leckere Essen her, das sie vorbereitet haben. Was sagst du dazu?<<
>>Das schmeckt bestimmt leckerer als die Brote, die du mir vorhin gemacht hast.<<
Martin konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen.
>>Ja, das glaube ich auch. Und dann kannst du ihnen auch gleich von deiner neuen Lehrerin erzählen, die du so magst.<<
>>Ja, Frau Wittmann ist wirklich super. Neulich hat sie mir einen Stern für Schönschrift gegeben und gesagt, ich kann vielleicht sogar einen Beitrag für das Schülerheft schreiben.<<
>>Das ist echt toll. Dann streng dich weiterhin so an und du wirst in deiner Schule noch berühmt.<<
>>Das mache ich auf jeden Fall.<<
>>Ich bin wirklich stolz auf dich, mein Schatz. Und deine Mutter auch.<<
Valentina strahlte über beide Ohren und hatte ihre anfängliche Angst bezüglich der Dunkelheit schon wieder vollkommen vergessen.
Sie war vor zwei Monaten in die dritte Klasse ihrer Grundschule gekommen und konnte einen Platz neben ihrer besten Freundin Clara an vorderster Front ergattern. Ihre jetzige Klassenlehrerin war im Vorjahr nur für den Deutschunterricht zuständig gewesen. Allerdings war diese immer sehr freundlich und hatte ihre Schüler stets unterstützt und durchweg fair behandelt, wodurch alle hofften, Frau Wittmann endlich ihre Klassenlehrerin nennen zu dürfen. Sie war noch relativ jung und dadurch mit Freude und Engagement bei der Sache. Die Eltern der Schüler schätzten sie ebenfalls und besuchten die Frau massenhaft bei vierteljährigen Sprechtagen.
Martin suchte erneut die Silhouette seines Bruders in den grauen Abzeichnungen der Nacht und erhaschte seine Bewegungen im Vorgarten des entsprechenden Hauses.
Tom trat von der Schwelle und steuerte schnellen Schrittes den Eingang des Nachbarhauses an. Dafür nutzte er jedoch nicht die Auffahrten, sondern stieg über den mit Unterbögen angelegten Lärchenzaun, welcher an den niedrigsten Stellen etwa fünfundsechzig Zentimeter maß. Dort angelangt hämmerte Tom gegen den Kunststoff der weißen Tür. Sein Klopfen war so stark, dass Martin und Valentina es mühelos im Auto wahrnehmen konnten.
>>Was machst du denn da?<<, flüsterte Martin leise vor sich hin. Seine Tochter schenkte ihm einen flüchtigen Blick, widmete ihre Aufmerksamkeit jedoch wieder ihrem Onkel, der gerade versuchte durch ein Fenster ins Innere zu spähen. Dies wiederholte er ein weiteres Mal, bevor er zum Wagen zurückmarschierte und sich auf den Beifahrersitz fallen ließ.
>>Und was sollte das jetzt?<<, fragte Martin, während er die Handbremse löste und langsam ihren Weg fortsetzte.
>>Es war niemand zu Hause.<<
>>Das hab ich gesehen, aber...<<
>>Nirgendwo ist jemand zu Hause. Ich nehme an dort nicht, und hier genauso wenig.<< Thomas zeigte nacheinander auf zwei Gebäude, welche sie in diesem Moment passierten.
>>Das mag schon sein. Schließlich ist heute Freitag. Du gehst doch auch aus, wenn du am nächsten Tag ausschlafen kannst<<, entgegnete Martin.
>>Du musst aber zugeben, dass es trotzdem irgendwie...<< Tom suchte nach einem passenden Wort, >>...verquer ist, oder?!<<
>>Ehrlich gesagt mache ich mir darüber keine Gedanken. Jetzt warten wir erst mal ab, was die Polizei dazu sagt. Die wird sicherlich mehr Informationen über den Stromausfall haben.<<
>>Ja. Darauf bin ich wirklich gespannt.<< Natürlich machte sich Martin inzwischen Sorgen über den Verbleib seiner Eltern, zwang sich aber dazu, sich von seinen Gefühlen nicht übermannen zu lassen.
Die drei passierten ein aus roten Backsteinen errichtetes Gebäude mit vielen Glasfronten und einem breiten Eingangsbereich. Um das gesamte Haus verlief ein großer Garten mit einem Kinderspielplatz und einer kleinen Fußballfläche, welcher von einem mannshohen Holzzaun umschlossen wurde. Die Abstände der Latten waren jedoch so groß, dass man mühelos hindurchsehen konnte. Es musste sich um das neue Jugendzentrum handeln, welches von der katholischen Kirche in den letzten Jahren gegründet wurde, was Maria vor einiger Zeit am Telefon erzählte.
Aus Gewohnheit aktivierte Martin den Blinker und bog ein weiteres Mal links ab. Je weiter sie von der Hauptstraße abwichen, desto kleiner und enger wurden die Fahrbahnverhältnisse. Martin erinnerte sich an diese Straße. Hier befand sich ein kleiner Laden, worin er als Kind immer sein Faschingszubehör kaufte. Wie es allerdings schien, hatte das Geschäft seit Längerem geschlossen. Über den Grund konnte er nur spekulieren. Eventuell war die Besitzerin inzwischen verstorben, da sie damals schon in den Siebzigern war, oder die Einnahmen rechneten sich nicht mehr. Das kleine Schaufenster war von innen mit einer Sperrholzplatte verkleidet, die jeglichen Blick in das Gebäude untersagte. Das einzige, was sich noch immer an gleicher Stelle befand, war die tausendjährige Eiche, welche sich in der Mitte der kleinen Parkfläche haushoch erstreckte. Ihre starken Wurzeln hatten bereits den Beton aufgerissen und wucherten stellenweise aus dem Erdreich.
Gegenüber befand sich eine kleine Bankfiliale. Sie hatte schon damals lediglich zwei, maximal drei Angestellte. Dennoch schien sie renoviert worden zu sein. Sie hatte eine neue Außenfassade und einen rötlichen Anstrich bekommen. Das Gebäude wirkte dadurch wesentlich moderner als zu früheren Zeiten.
Ein paar Meter weiter verlief eine noch kleinere Seitenstraße. Martin ignorierte diese und fuhr geradeaus weiter, an einem Sackgassenschild vorbei auf ein Kopfsteinpflaster, das früher ebenfalls nicht existierte.
>>Hast du gesehen?! Die Straße geht nicht weiter. Bist du sicher dass hier das Polizeirevier sein soll?<< Tom zeigte mit dem Daumen über seine Schulter und deutete damit in Richtung des soeben vorbeigehuschten Verkehrszeichens.
>>Na ja, sicher bin ich mir nicht<<, entgegnete Martin und hielt nach allen Seiten Ausschau, um mögliche Hinweisschilder nicht zu übersehen. >>Aber eigentlich müsste es hier irgendwo sein. Es hat sich ein bisschen verändert, seit ich das letzte Mal hier herumgefahren bin.<<
>>Irgendwann werden wir es ja finden. So groß ist das Kaff schließlich nicht.<<
Das dumpfe Dröhnen des Kopfsteinpflasters unter den Reifen des Fahrzeugs ließ in Valentina abermals Müdigkeit aufkeimen. Ihre Augenlider waren bereits zur Hälfte geschlossen, deswegen vermied sie es, sich an den Gesprächen zu beteiligen. Martin verminderte den Druck auf das Gaspedal, bis der Wagen nur noch im Schritttempo die Gasse entlang kroch.
Kleine, einstöckige Häuser befanden sich jetzt zu beiden Seiten, deren Mauern von Wettereinflüssen mehrerer Jahrzehnte deutlich gezeichnet waren. Stellenweise fehlten ganze Abschnitte vom Putz. Die Balken der Dächer waren morsch und verfärbt. Aus den kleinen, verwahrlosten Gärten wucherten gewaltige Flächen von Moos und dickem Unkraut. Efeu hatte verschiedene Mauerwerke befallen und entfaltete seine Pracht bis zum Giebel der jeweiligen Häuser hinauf. Augenscheinlich musste man davon ausgehen, dass jene Gebäude mindestens zur Zeit des zweiten Weltkrieges erbaut worden waren und scheinbar nie gepflegt wurden. An einer Wand hatte sich ein bräunliches Adergeflecht gebildet und erstreckte sich mit seinen dünnen, tentakelähnlichen Fingern über die gesamte Fassade, was im derzeit mageren Licht jedoch nicht näher zu identifizieren war.
>>Wo sind wir denn hier gelandet? Ist das etwa das Getto von Redwitz?<<, fragte Tom seinen Bruder und hielt seine Augen auf die heruntergekommenen Spektakel gerichtet. >>Daran kann ich mich gar nicht mehr erinnern.<<
>>Damals sah die Gegend hier noch schöner aus. Zumindest in meiner Erinnerung. Keine Ahnung, was im Laufe der Zeit passiert ist. Soweit ich weiß, waren das die ersten Häuser, die in diesem Dorf errichtet wurden. Bevor die Gemeinde alle anderen Gebäude saniert hat, hätte sie sich erst mal denen widmen sollen.<<
>>Vielleicht wollen sie die ja so beibehalten, als Gedenken an die Gründung, oder so was.<<
>>Kann ich mir eigentlich nicht vorstellen, so heruntergekommen wie das hier aussieht.<<
>>Also wohnen würde ich hier nicht wollen.<<
>>Absolut nicht<<, entgegnete Martin.
Plötzlich schälte sich direkt vor ihnen ein Fahrzeug aus der Dunkelheit. Die grauen Konturen vervollständigten sich immer mehr, je weiter sie sich darauf zu bewegten und die Farben wichen ihrer Ausdruckslosigkeit. Das grüne Heck zeichnete sich langsam ab, sowie der gleichfarbige, durchgezogene Streifen der Fahrerseite mit seiner weißen Aufschrift.
>>Hey, du hast es gefunden<<, sagte Tom und begutachtete von seiner Position aus das einzelne Polizeiauto, welches auf einer sonst leeren Parkfläche unmittelbar vor ihnen am Ende der Gasse stand.
Martin stoppte das Fahrzeug, legte den Leerlauf ein und zog die Handbremse. Dann betätigte er den Schalter für Fernlicht. Die Brüder blickten auf ein neu errichtetes Polizeirevier und blieben aufgrund des ersten Eindrucks stumm auf ihren Plätzen. Das modern konstruierte Gebäude prunkte als krasser Gegensatz zu dem sonst so heruntergekommenen Viertel am Kopf der Straße.
>>Einen besseren Platz hätten sie dafür nirgendwo finden können<<, meinte Thomas mit ironischem Unterton und konnte sich ein Schmunzeln aufgrund dieses lächerlich übertriebenen Konstrukts inmitten jener Umgebung nicht verkneifen.
Das weiße, massive Mauerwerk der Außenwände mündete über dem ersten Stock an einem Flachdach, welches sich über das Gebäude hinaus bis über den gesamten Parkplatz erstreckte. Das Gewicht jener Bauweise wurde von vier metallisch glänzenden Säulen gestützt. Jede nicht dicker als eine CD. Zwei befanden sich an den äußersten Punkten des Parkplatzes, die anderen am Fuß der geradläufigen Stahltreppe, welche zu zwei aneinanderliegenden Flügeltüren führte. Im milchigen Glas derer spiegelten sich die Scheinwerfer des Wagens als zwei gleißende Lichtpunkte. Auf beiden Seiten des Eingangs befanden sich jeweils zwei Fenster mit heruntergelassenen Plissees. Ein handbreiter Anstrich in der genormten Farbe der Polizei umrahmte jede Öffnung des Hauses. Die sieben angebrachten Buchstaben oberhalb des Eingangs ließen über die Bedeutung des Gebäudes keine Zweifel mehr aufkommen. In der Unterseite des übergreifenden Flachdachs waren Deckeneinbaustrahler integriert, welche ursprünglich die gesamte Parkfläche beleuchteten. Das gesamte Konstrukt war sehr symmetrisch ausgerichtet.
Die drei hatten das Fahrzeug inzwischen verlassen und liefen auf den Eingang zu. Tom ging an der Spitze und warf sein Augenmerk kurz in das Polizeiauto, an welchem er gerade vobeischritt. Ein gewöhnlicher Anblick. Genau das, was er erwartet hatte.
Martin legte eine Hand auf die Schulter seiner Tochter, um ihr ein beruhigendes Gefühl von Sicherheit zu geben. Thomas zog am vertikalen Stoßgriff der Flügeltür und trat ein, gefolgt von seinen zwei Begleitern.
>>Hallo?!<< Kein Laut war auszumachen. Lediglich das blasse Schnurren des Mazdas drang an seine Ohren. Thomas geduldete sich für ein paar wenige Sekunden, um eine mögliche Antwort abzuwarten. Dann trat er tiefer in den Raum. >>Ist hier jemand?!<<
Valentina griff nach der Hand ihres Vaters und hielt sie fest umschlossen. Martin verspürte die langsam aufsteigende Angst in den Gliedern seiner Tochter. Thomas rief ein weiteres Mal in den Raum. Diesmal mit gehobener Stimme. Dann vernahmen sie ein leises, metallisches Klicken in ihrem Rücken. Valentina riss sofort ihren Kopf herum, um aufgeschreckt die Ursache zu identifizieren, während die Erwachsenen dem nur einen kurzen Blick über die Schulter widmeten.
Die Flügeltür war langsam zurück ins Schloss gefallen und filterte das eintreffende Licht durch ihre kalten Milchglasscheiben. Schatten und graue Konturen zeichneten sich im Inneren ab. Man konnte die Einrichtung lediglich erahnen. Auf Details mussten die Anwesenden vollends verzichten.
>>Warum ist hier nirgendwo jemand, Papa?<< Valentinas Stimme klang leise, fast hauchend und begann zu zittern. Ihre Furcht war inzwischen zu groß, um mit normalem Ton diese ungewöhnliche Stille zu brechen. >>Ich hab Angst.<<
Martin stockte mit seiner Antwort. Selbst ihm fiel keine plausible Erklärung ein. >>Komm mal her, mein Schatz.<< Er umfasste ihre Taille und hob sie zu sich auf den Arm. Schließlich wandte sich Tom zu seinem Bruder.
>>Es kann doch nicht sein, dass hier auch niemand...<< Er stockte. Hatte er gerade etwas gehört?
Thomas wandte den Kopf zur Seite und richtete sein linkes Ohr ins Rauminnere. Er lauschte. Martin tat es ihm gleich, konnte aber nichts vernehmen. Schließlich war er im Begriff etwas zu sagen, doch als sich sein Mund zu bewegen begann, hob Tom einen Zeigefinger und hauchte ein leises >>schschsch<< über die Lippen.
Martin verstummte und bewegte sich nicht mehr. Er versuchte sich darauf zu konzentrieren - das zu hören - was sein Bruder anscheinend vernommen hatte. Doch Martin registrierte nichts. Gar nichts. In dem Moment, als Tom eingestehen wollte, sich geirrt zu haben, erklang es wieder. Es drang aus dem hinteren Teil des Raums nach vorne. Nur kurz. Sehr leise. Wie das Quietschen gummierter Sohlen. Das fahle Licht bot lediglich eine Orientierungshilfe, unterstütze jedoch unangenehm wenig bei der Identifizierung des nur wenige Meter entfernten Geräusches.
Die drei standen vor einer Art Empfangstresen, welcher sich bis zu den Wänden erstreckte. Vor ihnen war ein Durchlass - vermutlich für das dort arbeitende Personal. Dahinter schienen Schreibtische, mobile Tafeln und andere Bürogegenstände eingerichtet zu sein. Zu ihrer Rechten befanden sich ein paar runde, kleinere Tische mit etwaigen Stühlen. Im Eck waren ein Kaffeeautomat und ein Wasserspender auf einer Kommode aufgebaut. Im hinteren Areal des Arbeitsbereiches führten zwei Türen in angrenzende Räume, sowie eine viertelgewendelte Mittelholmtreppe ins nächste Stockwerk.
All das konnten Martin und Tom nur erahnen. Doch sie hatten etwas gehört. Jemand außer ihnen musste noch im Gebäude sein. Definitiv.
Thomas trat in den Durchgang des Tresens und kniff die Augen zu Schlitzen zusammen, um vielleicht eine Bewegung ausmachen zu können. Wieder ohne Erfolg. Dann ergriff er noch einmal das Wort.
>>Wir suchen jemanden von der Polizei. Können Sie...<< Tom wollte versuchen, die Person direkt anzusprechen um sie zu einer Antwort zu bewegen. Doch diese kam anders als erwartet.
Eine laute, ohrenbetäubende Explosion flutete den Raum für weniger als eine Sekunde. Valentina zuckte zusammen und klammerte sich fester an ihren Vater. Für den Bruchteil eines Wimpernschlags erhellte sich das Zimmer unter einem winzigen Blitz aus der Region, wo vorher das Geräusch ertönt war.
Etwas stach in Toms linken Oberarm und prallte hinter ihm gegen die Wand. Sofort breitete sich ein immer stärker werdender, brennender Schmerz aus. Er verspürte etwas Warmes, dass sich langsam auf seiner Haut nach unten bewegte. Tom verstand nicht - war im ersten Augenblick vom Schock wie gelähmt.
Dann ertönte der Donner ein weiteres Mal. Diesmal konnte er das Splittern von Glas hören. Beim dritten Mal begriff er, was geschah und sprang hinter den Tresen in Deckung.
>>Runter!<<, war das einzige Wort, dass ihm in diesem Moment einfiel, um seinen Bruder und dessen Tochter zu warnen. Kaum hatten sich alle auf dem Boden zusammengefunden, durchschlugen zwei weitere Kugeln etwaiges Mobiliar.
Jemand schoss auf sie.
Ohne jegliche Vorwarnung.
Ohne ersichtlichen Grund.
Martin legte sich instinktiv mit seinem Körper vor Valentina, um diese zu schützen. Der plötzliche Schock und die übermannende Angst drängte das Mädchen dazu, in Tränen auszubrechen. Sie krallte sich so fest an ihren Vater, dass sich auf seiner Haut unter der Kleidung ihre Handflächen abzeichneten.
Thomas wusste, dass er getroffen war. Allerdings schüttete sein Körper dermaßen viel Adrenalin aus, dass er im Augenblick nur einen geringen Schmerz verspürte. Er konnte nicht einschätzen wie schlimm er verletzt war und musste dieses Anliegen in der gegenwärtigen Situation erst mal in den Hintergrund stellen.
>>Verschwindet!<<, rief eine dunkle, männliche Stimme aus der Finsternis, anschließend blitzte es zwei weitere Male. Die Projektile durchschlugen das Holz des Tresens knapp über Martins Kopf. Valentinas Weinen wurde lauter. Sie begriff überhaupt nicht, was gerade geschah.
>>Ihr kriegt mich nicht! Mich nicht!<< Die Stimme des Mannes klang panisch, beinahe psychotisch. Eine weitere Kugel durchschlug den Tresen. Die Brüder versuchten sich so flach wie möglich auf den Boden zu legen, Valentina immer auf der sicheren Seite.
>>Hören Sie auf damit!<< Martin startete einen Versuch. >>Wir haben ein Kind dabei!<< Er versuchte an die Menschlichkeit des Mannes zu appellieren.
Plötzlich wurde es wieder still. Kein Aufblitzen des Mündungsfeuers. Keine donnernden Explosionen des Schlagbolzens. Irgendwo im Raum glitten ein paar Blätter und Papiere zu Boden. Dann folgte absolute Ruhe, abgesehen vom Weinen Martins Tochter.
>>Sie bewegen sich keinen Zentimeter!<< Trotz Angst in der Stimme des Fremden ging ihr eine gewisse Drohung voraus. Selbst ohne diese Anweisung wären Tom und sein Bruder im Moment zu keiner Handlung fähig gewesen.
Noch immer am Boden kauernd versuchte Martin seine Tochter zu beruhigen, indem er ihr sanft über den Kopf strich. Langsame Schritte hallten durch den Raum. Das Quietschen jener Sohlen war erneut zu hören, die sie vor wenigen Minuten bereits wahrgenommen hatten. Der Fremde kam näher. Meter für Meter. In Toms Kopf spielten sich Szenarien ab, was jetzt wohl mit ihnen geschehen würde. Aber keine verhalf ihm zu einer Lösung.
Der Mann näherte sich. Es mussten nur noch wenige Meter sein, bis er den Tresen erreichte. Sollte Tom aufspringen und versuchen ihn zu entwaffnen?! Blitzschnell wog er seine Optionen ab. Vergebens. Er konnte sich einfach nicht konzentrieren. Die Angst hatte ihn zu sehr gelähmt, so sehr er sich auch anstrengte.
Dann starrte Thomas plötzlich auf ein paar Schuhe, die sich vor seinem Haupt befanden. Als Tom den Kopf nach oben neigte, blickte er in die Mündung einer SIG Sauer P226. Der intensive Geruch von verbranntem Schießpulver drang in seine Nase. Hauchzarter Rauch stieg noch immer aus dem Lauf der Waffe auf und verblasste in der Luft.
>>Wer sind Sie!?<< Es war ein uniformierter Polizist. Er war sichtlich aufgeregt. Angstschweiß stand ihm auf der Stirn. Sein kahler Schädel reflektierte das einfallende Licht.
>>Wir... wir wollten ihre Hilfe. Unsere Eltern sind... sind verschwunden.<< Thomas sprach langsam, mit ruhigem Ton. Er wollte den kleinen Mann nicht unnötig provozieren.
>>Verarsch mich nicht!<<
>>Nein, nein. Das würde ich nie tun.<<
>>Die Schlüssel!<<
Thomas verstand nicht. Er blickte zu seinem Bruder. Dieser hielt noch immer seine inzwischen leiser weinende Tochter im Arm und vermied ruckartige Bewegungen.
>>Ich... ich verstehe nicht<<, antwortete Tom schließlich.
>>Du sollst mir den Autoschlüssel geben!<< Ungeduldig streckte der Polizist seinen Arm aus und richtete so die Waffe bedrohlich nahe an Toms Kopf.
>>Okay... okay.<< Gedankenverloren begann er in seinen Taschen zu kramen. Wo hatte er den Schlüssel?! In seiner Hose war er nicht. Panik stieg auf. Was würde der Mann tun, wenn er ihn nicht gleich finden würde?! Thomas versuchte nachzudenken - einen klaren Gedanken zu fassen. Vergebens. Er konnte nur an die Mündung der Neun-Millimeter-Pistole an seinem Kopf denken.
>>Martin, hast du den Schlüssel?<<
Dieser fasste in seine Hosentasche und suchte ebenfalls danach. Auch er fand ihn nicht. Nervös und angsterfüllt versuchte Martin sich zu konzentrieren. Dann fiel es ihm wieder ein.
>>Er steckt noch im Auto<<, gestand er leise. Der Polizist warf einen kurzen Blick zu den sich in der Milchglastür abzeichnenden Scheinwerfer. Dann wandte er sich wieder den Personen zu.
>>Ich verschwinde jetzt! Soweit weg wie möglich! Und wenn ich euch vor der Tür sehe, knall' ich euch ab! Klar!?<<
>>Absolut... ja!<< Martin vermied Blickkontakt zu dem Cop und konnte sich ohnehin nur auf die Waffe konzentrieren, die jetzt auf ihn gerichtet war. Langsam schritt der Polizist rückwärts zur Flügeltür und sah sich dabei immer wieder nervös in der Gegend um. Dann öffnete er sie einen Spalt und sondierte die Umgebung vor dem Haus - die Pistole jedoch nicht von den Personen weichend. Schließlich stieß er die Tür komplett auf und stürmte eilig hinaus.
Tom und Martin blieben regungslos zurück und lauschten angespannt den Geräuschen im Freien, während sich die Flügeltür automatisch wieder schloss. Sie hörten die Absätze der Schuhe auf dem Kopfsteinpflaster in ungewöhnlich kurzen Abständen. Der Polizist rannte. Dann wurde eine Autotür geöffnet und wenige Sekunden später wieder ins Schloss gezogen. Martin hielt seine Tochter im Arm und versuchte sie - mit sanfter, zuversichtlicher Stimme - zu beruhigen.
>>Jetzt ist der Mann weg. Es ist vorbei. Okay, mein Schatz?! Er wird uns nichts mehr tun.<<
Valentina versuchte stumm zu nicken. Ihre Angst war noch immer so überwältigend, dass sie außer schnellen, flachen Atemstößen kein Wort herausbrachte. Trotz glasiger Augen und mehreren Tränenspuren auf ihren Wangen konnte sie sich das Weinen inzwischen verkneifen. Sie schien sich langsam zu beruhigen.
Thomas blickte zwischen der Eingangstür und seinem Bruder hin und her. Auch er behielt noch immer seine Position am Boden, da er eine weitere Kugel in seine Richtung nicht riskieren wollte. Jetzt heulte der Motor des Wagens anhand übertriebener Gaseinwirkung auf und begann sich rückwärts vom Gebäude zu entfernen. Die Schatten, welche sich aufgrund der Autoscheinwerfer im Inneren abzeichneten, begannen sich zu bewegen. Je weiter sich das Fahrzeug entfernte, desto tiefer glitten die unheimlichen Schatten an den Wänden und Gegenständen. Es schien, als würden sie sich auf die am Boden befindlichen Menschen stürzen, um diese mit ihrer Schwärze zu verschlingen.
Dann plötzlich stoppte das unheimliche Spektakel mit einem lauten, metallischen Krachen von draußen. Martin und Tom horchten auf. Es folgte ein kurzes Knirschen, als würde eine Schrottpresse etwas zerquetschen. Währenddessen drangen höchst panische Schreie des Polizisten durch die Straßen.
Laut.
Voller Furcht.
Schreie, die nur auf eine Aussage hindeuteten: Todesangst.
Es folgte erneut ein Geräusch von sich biegendem und reißendem Metall. Valentina klammerte sich abermals fest an ihren Vater. Auch dieser konnte sein Unbehagen ihr gegenüber nicht vollständig verbergen. Was zum Teufel geschieht da draußen?! Keiner der Brüder wagte es, einen Blick durch die Tür oder den Fenstern auf die Straße zu riskieren, um zu sehen, was sich dort abspielte. Die Schreie des Mannes drangen in Mark und Bein, wie lähmende Elektroschocks, durch denen sich die Muskeln unangenehm und unaufhörlich verkrampften. Plötzlich verhallten die Rufe des Polizisten binnen Sekunden in der Ferne. Es war Still. Kein Geräusch war mehr zu hören - weder des Mannes, noch vom Wagen. Die Scheinwerfer brannten allerdings noch immer und waren gegen das Polizeirevier gerichtet. Zwar war deren Intensität im Inneren kaum noch spürbar, jedoch erreichten die Lichtstrahlen das Gebäude.
Nach einigen Sekunden wollte Tom das Wort ergreifen. Seine Lippen bewegten sich und formten den ersten Buchstaben. Plötzlich prallte etwas auf das Kopfsteinpflaster und schlidderte wenige Meter über den harten Untergrund. Thomas stockte. Abermals lauschte er der Situation. Wieder absolute Stille.
>>Was war das?!<<, flüsterte Martin.
>>Keine Ahnung<<, entgegnete sein Bruder in gleichem, lautlosen Ton. >>Keine Ahnung.<<
Er hob langsam den Oberkörper und versuchte aus seiner Position durch einen Spalt zwischen Plissee und Fensterrahmen zu spähen. Außer den grellen Scheinwerfern in einiger Entfernung konnte er aufgrund seiner eingeschränkten Sicht nichts Ungewöhnliches erkennen. Der Parkplatz war unverändert. Ebenso jener kleine Teil der beleuchteten Straße.
>>Ich kann kaum etwas sehen.<<
Erneutes Schweigen. Keiner wusste so recht, wie sie reagieren sollten. Allerdings konnten sie auch nicht ewig auf dem Boden verharren.
>>Soll ich mal nachsehen?<<, fragte Tom.
>>Willst du da etwa raus gehen?!<<, entgegnete Martin.
>>Nur kurz an die Tür.<<
>>Du weißt nicht, was da gerade passiert ist!<<
>>Und wie lange sollen wir hier warten?!<<
>>Bis wir sicher sind, dass da niemand mehr ist, der uns gefährlich werden kann!<<
Thomas lauschte abermals eventuellen Geräuschen. Nichts. Gar nichts. >>Es ist absolut ruhig.<<
>>Das heißt aber nicht, dass da niemand mehr ist.<<
Thomas nahm seinen Mut zusammen und schlich in gebückter Haltung zu dem Fenster, durch das er gerade versucht hatte, einen Blick nach draußen zu erhaschen.
>>Was... was machst du?!<< In Martin behielt die Angst noch immer Oberhand. Doch Thomas antwortete nicht. Er drückte das Plissee mit seinen Fingern ein Stück nach oben und schielte hinaus. Aus dieser Position konnte er eine weitaus größere Fläche vor dem Haus überblicken. Alles wirkte genauso wie vorhin, als die drei das Grundstück betreten hatten.
>>Siehst du etwas?<<
>>Nein.<< Tom fasste wieder etwas Mut und positionierte seinen Kopf in der Mitte des Fensters, um eine noch größere Fläche einsehen zu können.
>>Unser Auto steht ungefähr hundert Meter weiter hinten. Ansonsten ist alles ruhig.<<
>>Bist du dir sicher!?<<
>>Es ist halt verdammt dunkel.<<
>>Kannst du den Polizisten sehen?<<
>>Nein. Da ist niemand.<<
Tom verharrte noch weitere Minuten an dem Fenster und beobachtete nur. Durch seine Paranoia und dem Adrenalinschub in diesem Moment würde er jede noch so kleine Bewegung ausmachen können.
Martins Schockzustand wich mit jeder Minute ein klein wenig mehr aus seinem Körper. Sein primärer Trost galt jedoch Valentina, die sich aufgrund seiner unmittelbaren Nähe ebenfalls beruhigte. Jetzt löste sich Thomas aus seiner starren Position und schritt leise zur Eingangstür. >>Ich werde jetzt raus gehen.<<
>>Was...!?<<
>>Martin, wir können uns doch nicht die ganze Nacht hier verkriechen.<<
>>Aber sei Vorsichtig<<, entgegnete Martin und hielt den Blick kontinuierlich auf seinen Bruder gerichtet.
Thomas positionierte sich seitlich neben einer der Flügeltüren und drückte sie Zentimeter für Zentimeter auf. Schließlich war der Durchlass breit genug um einen Schritt hinaus zu treten.
Alles war nach wie vor unverändert. Der Streifenwagen stand auf seinem üblichen Platz und die angrenzenden Grundstücke waren verlassen. Allerdings endete Toms Blick auf Höhe der Scheinwerfer, welche ihn permanent blendeten. Weder der Mazda, noch die weiterführende Straße waren einzusehen. Thomas hielt eine Hand schützend vor seine Augen und hoffte, dem Licht damit Einhalt gebieten zu können. Es war erfolglos. Die Xenon-Scheinwerfer waren zu grell.
Dann fiel sein Blick auf den Boden vor ihm. An der Stelle, wo der Parkplatz endete und die Straße begann, lag etwas. Tom war sicher, dieses Objekt bei der Ankunft nicht gesehen zu haben. Was war das?!
Klein, schwarz und an manchen Stellen metallisch glänzend.
Er blickte sich noch einmal nach allen Seiten um und wandte sich dann wieder ins Innere.
>>Es ist niemand mehr da. Kommt raus.<<
Während Thomas an der Tür wartete und sie seinen Begleitern aufhielt, traten Martin und Valentina vorsichtig hinaus. Auch diese sahen sich genauestens die Umgebung an und blieben dicht beieinander.
>>Wo ist der Polizist? Hast du ihn gefunden?<<, fragte Martin. Seine Angst hatte weiterhin Bestand, allerdings galt sie vielmehr seiner Tochter, als ihm selbst. Unter keinen Umständen sollte sie ein zweites Mal einer solchen Gefahr ausgesetzt werden.
>>Nein<<, antwortete sein Bruder. >>Vielleicht ist er noch im Auto!?<<
Auch Martin versuchte unter Zuhilfenahme seiner Hand etwas hinter den blendenden Scheinwerfern zu erkennen. Zwecklos.
>>Hallo?! Sind sie noch da drin?!<< Toms unvorhergesehener Ruf ließ Martin kurz zusammenzucken. >>Bist du verrückt?!<<
>>Wenn er noch im Wagen ist, sieht er uns doch sowieso!<<
Er ging die Treppe hinunter und überquerte den Parkplatz. Martin glaubte, er würde zu seinem Auto gehen, doch nach einigen Metern blieb Tom plötzlich stehen. Sein Blick verharrte auf dem Boden.
>>Was ist das?<<, fragte Martin.
>>Seine Pistole.<< Das Metall der Waffe fühlte sich kalt an, als Thomas sie aufhob.
>>Warum hat er sie weggeworfen?<<
>>Warum ist er nicht mit seinem eigenen Auto gefahren?! Ich habe keine Ahnung!<< Tom ging mit der P226 zurück zu seinem Bruder. >>Aber wenigstens kann er jetzt nicht mehr auf uns schießen.<<
>>Okay, ich bin der Meinung, wir sollten von hier verschwinden und zurückfahren.<< Martins Vorschlag fand allgemeine Zustimmung. Das war bisher die wohl beste Idee.
>>Ich gehe zum Auto und werde sehen, ob es noch fährt.<<
>>Nein, Papa. Bleib hier!<< Valentina klammerte sich an ihren Vater. Dieser beugte sich zu seiner Tochter hinunter, damit er ihr auf gleicher Höhe in die Augen sehen konnte.
>>Ich werde nur für zwei Minuten dorthin gehen und komme gleich wieder zurück. Du kannst mich die ganze Zeit über sehen.<<
>>Aber ich will nicht, dass du jetzt dahin gehst!<<
>>Ich weiß, mein Schatz. Aber wenn wir hier weg wollen brauchen wir ein Auto. Verstehst du?<<
Valentina nickte mit trauriger Zustimmung.
>>Du bleibst inzwischen bei Thomas, damit er sich alleine nicht fürchtet.<< Sein bemüht liebliches Lächeln besänftigte Valentinas Gemütszustand nur in geringem Maße.
>>Also, ich bin gleich wieder da.<< Martin richtete sich auf und führte seine Tochter die wenigen Schritte zu Thomas hinüber. Dieser versuchte ihm möglichst leise etwas ins Ohr zu flüstern, damit Valentina es nicht mitbekam. >>Ist es nicht cleverer, wenn wir alle zusammen zum Auto gehen?<<
>>Nein. Wenn der Polizist immer noch so psychotisch ist, dann will ich das meine Tochter in sicherer Entfernung ist. Du hast jetzt eine Pistole. Also pass auf sie auf. Und bleibt auf Abstand.<<
Thomas nickte.
>>Wie schlimm bist du verletzt?<< Martins Blick wanderte zu Toms verletztem Arm. Dieser hatte seine Wunde aufgrund der gegenwärtigen Situation beinahe vergessen und bisher ignoriert. Sein blaues Hemd war inzwischen bis zum Ellenbogen in ein bräunliches Rot verfärbt.
>>Ich... ich bin mir nicht sicher. Jetzt wo du es sagst tut es auch wieder weh.<< Ein kurzes Schmunzeln fuhr über sein Gesicht, dann wurde ihm jedoch der Ernst der Lage bewusst. >>Ich glaube, es blutet gar nicht so stark.<<
>>Auf jeden Fall müssen wir es verbinden. Im Auto habe ich einen Verbandskasten.<<
>>Okay.<<
Martin fuhr seiner Tochter noch einmal durch die Haare und lächelte sie zuversichtlich an. Dann atmete er tief durch und machte sich auf den Weg zu seinem Wagen. Langsam. Meter für Meter. Er vermied schnelle Bewegungen um möglichst ruhig zu wirken - sowohl für seine Tochter, als auch für den Fremden, der sich noch immer hinter der Barriere aus Licht befinden konnte.
Tom hielt Valentina in seiner einen und die Waffe in der anderen Hand. Wie gebannt folgten sie dem Voranschreiten Martins, dessen Konturen durch das Gegenlicht allmählich zu einer dunklen Silhouette verschmolzen.
Sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Doch das machte ihn nur wacher, aufmerksamer. Die Hälfte des Weges hatte er beinahe geschafft. Je näher der Mann den Scheinwerfern kam, desto eingeschränkter wurde sein Blickfeld.
>>Wenn Sie noch da drin sind, dann bleiben sie bitte ruhig!<< Martin versuchte seiner Angst Herr zu werden, indem er dem Fremden gut zusprach. Vielleicht konnte er seine angespannte Stimmung dadurch etwas beruhigen.
>>Ich will Ihnen nichts tun! Ich möchte nur wissen, ob es Ihnen gut geht!<<
Keine Antwort. Stille. Gelegentlich glitten vereinzelte Laubblätter über die Straße, aufgewirbelt von zarten Windstößen. Selbst das konnte Martin wahrnehmen, abgesehen von dem Geräusch seiner eigenen Sohlen. Vergewissernd blickte er sich noch ein mal zu Valentina um, die beständig an der Seite seines Bruders verharrte.
Noch zehn Meter. Das Licht hatte ihn inzwischen komplett eingehüllt.
Noch acht Meter. Was vorher die Dunkelheit verschlang, erledigten jetzt die Autoleuchten.
Noch sechs Meter. Was würde er tun, wenn die Situation wieder eskalierte?
Noch vier Meter. Das Blut pulsierte in Martins Adern.
Jetzt befand er sich unmittelbar vor der Motorhaube und bewegte sich um den Wagen herum, Richtung Fahrertür. Kaum hatte er die unsichtbare Linie passiert, auf deren Höhe sich die Xenon-Scheinwerfer befanden, wich das gleißende Licht und Martin erkannte das Ausmaß des Geschehens.
>>Ach du Scheiße!<< Er blieb stehen und sah entsetzt zur Karosserie.
Für Tom und Valentina war er auf seiner jetzigen Position nicht mehr sichtbar. Unbehagen stieg in den beiden auf.
>>Martin! Was ist los?!<<, rief ihm sein Bruder hinterher.
Es kam keine Antwort. Tom wartete ein paar Sekunden. Nichts. >>Ist alles in Ordnung?!<< Dann stieg endlich Erleichterung in ihm auf, als Martin sich zu Wort meldete.
>>Die Karre ist total im... total kaputt!<<
>>Was?! Inwiefern?<<
>>Die Fahrertür ist herausgerissen!<< Martin stand neben seinem Wagen und begutachtete den Schaden. >>Wie hat er das bloß geschafft?!<< Leise sprach er seine Gedanken aus. Die Tür lag einige Meter entfernt auf der Straße. Sie war grotesk verformt und in der Mitte des Metalls klafften zwei handgroße Löcher. Als hätten kleine Schrottgreifer ihre fünf Zahnspitzen in das Aluminium geschlagen und anschließend zusammengedrückt. Das Fenster war zersplittert. Die Scherben lagen überall auf dem Boden verteilt. Der Rahmen des Fahrzeugs war nach außen gebogen, an den Stellen, an denen die Tür einst befestigt war. Vom Polizist fehlte allerdings jede Spur.
Martin sah sich noch einmal vergewissernd in der Umgebung um, ohne dabei seine Position zu verlassen, und inspizierte dann den Innenraum des Fahrzeugs.
Kein Blut. Keine Spuren. Gar nichts, abgesehen von unzähligen, fingernagelgroßen Glassplittern.
>>Der Polizist ist weg! Zumindest kann ich ihn nirgendwo sehen!<<, rief er Tom entgegen.
>>Sollen wir zu dir kommen?<<
>>Nein. Ich fahre zu euch. Vielleicht funktioniert im Polizeigebäude noch irgendein Telefon.<< Martin wischte mit ein paar schnellen Handbewegungen das Sicherheitsglas weitgehend vom Fahrersitz und stieg in den Wagen. Sein erster Handgriff schaltete das Fernlicht ab. Der Rückwärtsgang war noch eingelegt.
>>Hoffentlich funktioniert die Karre noch<<, nuschelte er vor sich hin und traf alle Vorbereitungen, um den Motor zu starten. Unweit entfernt konnte er Tom und Valentina vor dem Polizeirevier sehen. Martin griff nach dem Schlüssel, der noch immer im Zündschloss steckte und... er stockte.
Was war das?!
Seine Tochter und sein Bruder befanden sich etwa hundert Meter vor ihm - aber da war noch etwas anderes. Etwas viel größeres. Rechts von deren Position, abseits im Garten eines Nachbargrundstücks, schälte sich ein Schatten aus dem Geflecht der Zweige verschiedener Bäume. Die Scheinwerfer vermochten die Bepflanzung nur gediegen zu durchdringen.
Martin kniff die Augen zusammen und versuchte dadurch etwas mehr zu erkennen. Was sollte er jetzt tun? Seinem Bruder zurufen? Dann würde auch das unbekannte Etwas auf ihn aufmerksam werden! Aber vielleicht war es das schon längst!? Martins Gedanken überschlugen sich und kreisten nun um seine Tochter.
Schließlich griff er nach einem Hebel am Lenkrad und aktivierte erneut das Fernlicht. Sofort erhellten zwei weitere Lampen die Fläche vor ihm und verdrängten die meisten Schatten. Die Bewegungen, die er vor einigen Sekunden ausgemacht hatte, nahmen Gestalt an und formten sich zu einem grausamen Geschöpf.
Martin konnte nicht fassen, was er da sah. Er starrte es einfach nur an. Ein Schaudern fuhr durch seinen Körper.
Unheimlich.
Entsetzlich.
Dann konnte er wieder einen klaren Gedanken fassen und stieg mit einem Bein aus dem Fahrzeug.
>>Geht ins Haus! Geht sofort ins Haus!<< Hektik und Panik untermalten seine Schreie.
Thomas begriff nicht, was überhaupt los war. Verdutzt warf er einen Blick zu Valentina, bevor er sich wieder Martin zuwandte.
>>Los jetzt!<<
Tom erkannte die Intensität der Rufe, fasste reflexartig nach einer Hand Valentinas und zog sie Richtung Eingang. Noch während seiner Drehung erkannte er im Augenwinkel die Gefahr, auf welche Martin anspielte. Unfassbares Entsetzen stieg in ihm auf. Er wollte weitergehen, doch war plötzlich wie gelähmt. Seine Muskeln erstarrten. Auch Valentina entdeckte die Gestalt. Unweigerlich begann sie vor Furcht zu schreien.
Auch die Bestie stieß einen knurrenden, tiefen Laut aus und begann einen Sprint mit unbeschreiblicher Geschwindigkeit in Richtung ihrer Opfer. Instinktiv schob Thomas das Kind hinter seinen Rücken, um es zu schützen. Durch das Verkrampfen seiner Sehnen aufgrund der Angst spürte er erneut die Waffe in seiner Hand, als sich die Finger fest um den Griff schlossen.
Tom wusste, dass sie nicht die geringste Chance hatten, in den wenigen Sekunden, die ihnen noch blieben, den Eingang des Gebäudes zu erreichen.
Das fremdartige Wesen überquerte den Zaun des Nachbargrundstücks mit einem Satz, ohne dabei auch nur annähernd etwas an Geschwindigkeit zu verlieren. Jetzt befand es sich bereits auf dem Kopfsteinpflaster des Parkplatzes und kam unweigerlich näher - schnell wie ein Strahl.
Thomas streckte seinen rechten Arm aus und führte die Pistole in eine gerade Linie zu den Augen. Der Zeigefinger krümmte sich um den Abzugsbügel der Sig Sauer.
Keine Zeit zu zielen.
Keine Zeit, um nachzudenken.
Die Waffe, welche er durch Zufall gefunden hatte, war die einzige Möglichkeit ihr beider Überleben zu sichern. Tom zog mit dem Zeigefinger den Bügel nach hinten. Es ging schwer. Er drückte kräftiger. Noch immer keine Reaktion. Ein Höchstmaß an Panik explodierte in seinem Körper. Die Bestie war nur noch Schritte vom Polizeiauto entfernt und somit wenige Meter von Valentina und ihm selbst.
Jetzt konzentrierte Tom alle Kraft auf seinen Finger, um den Züngel durchzudrücken. Er hätte niemals vermutet, dass es so schwierig sei, eine Handfeuerwaffe zu benutzen.
Die Gestalt erreichte das Heck des Dienstwagens und setzte zum Sprung an - zu einem tödlichen Angriff.
Es ertönte kein Schuss.
Keine Reaktion der Waffe.
Keine Chance zu überleben.
Warum funktionierte dieses verdammte Ding nicht!? Tom hatte das Schreien von Valentina während seiner Versuche, sie und sich selbst zu verteidigen, vollkommen ausgeblendet. Doch jetzt drang ihr erbittertes Flehen nach Leben und Sicherheit - gebündelt in einem einzigen, langen Schrei - wieder an seine Ohren. Binnen eines Augenblicks glaubte er die Schmerzen des Sterbens vorauszuahnen - und stellte sich drauf ein.
Die P226 war eine weit verbreitete Standardwaffe der deutschen Polizei. Die Double-Action-Pistole war mit einer automatischen Schlagbolzensicherung ausgestattet, welche sich am Griffstück befand. Sie besaß ein Zickzackmagazin mit fünfzehn Patronen des Kalibers 9mm. Da der Polizist keinesfalls so oft geschossen hatte, musste noch weitere Munition vorrätig sein. Doch kein Projektil war von Nutzen, wenn der Schlagbolzen erst gar nicht aufs Zündhütchen traf.
Ein ohrenbetäubendes Krachen erschütterte die Umgebung. Martin hatte den Mazda gestartet und mit Vollgas auf das Wesen zugesteuert. In dem Moment, als es am Heck des Polizeiwagens war, stieß er mit dem Monstrum zusammen. Kurz bevor der Airbag auslöste konnte Martin noch erkennen, wie die Beine des Wesens zwischen Kofferraum und Motorhaube zerquetscht wurden. Dann schlug er hart mit seinem Gesicht gegen den Stoff der plötzlich hervorschnellenden Schutzvorrichtung, nachdem seine Hände vom Lenkrad geschleudert wurden. Er spürte wie sein Nasenbein in zwei Teile brach. Sofort schossen ihm Tränen in die Augen. Auf seiner Zunge schmeckte der Mann eine klebrige Flüssigkeit. Süßlich. Metallisch. Wie Kupfer. Da Martin keine Zeit mehr hatte sich anzuschnallen, wurde sein Oberkörper mit einem heftigen Ruck gegen den Airbag katapultiert. Die Wucht war derart stark, dass sein Mageninhalt bis in die Speiseröhre drang. Knochen brachen in seiner Brust unter stechenden Schmerzen. Er glaubte zu hören, wie sie sich in seinem Körper teilten.
Der Torso des Wesens wurde auf die Motorhaube geschleudert. Kurz vor dessen Aufprall zerbarsten die Scheinwerfer des Autos und absolute Dunkelheit breitete sich wie ein tiefschwarzes Tuch über dem Gelände aus. Ein heftiges Krachen drang an Martins Ohren. Dann folgte das Splittern von Glas. Ein Scherbenhagel winziger Schrapnelle prasselte gegen Kopf und Stirn, bevor etwas den vorderen Teil des Wagendachs eindrückte und erst durch Martins Schädel auf Widerstand stieß. Sofortige Kopfschmerzen und Orientierungslosigkeit setzten ein. Pochende Schmerzen in Kopf und Glieder vertrieben jeden anderen Gedanken.
Dann herrschte Stille.
Die letzten Scherben waren zu Boden gefallen. Das Fahrzeug hatte seinen vollständigen Stillstand erreicht. Der Motor war verstummt. Nicht einmal die Rufe Valentinas drangen durch die Nacht. Sie war vor Schreck wie gelähmt. Nur das leise Säuseln schwachen Windes glitt hörbar durch aufgewirbeltes Laub.