Читать книгу DIE, DIE NICHT STERBEN - Sebastian Fleischmann - Страница 7

Оглавление

04 - Schmerz

Ein modriger, intensiver Geruch schwängerte die Luft. Noch immer hüllten sich die Anwesenden in Schweigen. Sie mussten das Geschehene erst einmal verarbeiten und realisieren. Ein Tier übernatürlichen Ausmaßes hatte Tom und Valentina als Beute angesehen und wollte sich auf sie stürzen. Doch Martin konnte diese Aktion unterbinden, indem er mit seinem Wagen frontal in die Bestie donnerte.

Jetzt fasste Tom endlich wieder einen klaren Gedanken. >>Martin?!<< Erst war es ein leises Flüstern, dann festigte sich seine Stimme. >>Martin?!<< Jetzt bemerkte Tom, dass er im Eifer des Gefechts Valentinas Hand losgelassen hatte.

>>Valentina, wo bist du?!<< Hektisch tastete er mit der freien Hand in das Dunkel. >>Vale?!<<

Keine Antwort.

Dann berührten seine Finger ihren Kopf. Schnell tastete er sich zu ihren Schultern hinunter.

>>Vale, geht es dir gut?! Bist du verletzt?!<< Obwohl er das Kind nicht sehen konnte, vernahm er instinktiv ihr wortloses Kopfschütteln. Tom fühlte Unbehagen in sich aufsteigen und wollte ihren Zustand genauer prüfen. Er griff in die Hosentasche und holte sein Benzinfeuerzeug heraus. In dem Moment, als sich seine Hand von Valentina löste, verspürte er einen kurzen, klebrigen Widerstand, aufgrund des bereits teilweise geronnenen Blutes aus seiner Wunde.

Valentina gab keinen Ton von sich. Für einen Moment übermannte der Schock Toms Urteilsvermögen und schränkte seine Entscheidungen ein. Dann verdrängte er diese Gedanken aus seinem Kopf und versuchte konzentriert zu bleiben. Nur nicht der Panik ein Heim verleihen, dachte er.

Das metallische Rädchen löste winzige Funken vom Feuerstein. Nicht genügend um den Docht zu entzünden. Ein weiterer Versuch blieb genauso erfolglos. Erst beim dritten Mal entflammte die benzingetränkte Schnur und legte das Gesicht Valentinas aus der Schwärze frei.

>>Ist dir was passiert?!<<

Ihre Gesichtszüge hatten sich verkrampft. Schlieren von Tränen funkelten auf ihrer Wange. Der schockierte Blick war ins Leere gerichtet. Tom war klar, dass er sich um das Mädchen kümmern musste, jedoch gab es eine weitere Person, welche ebenfalls seine Hilfe benötigte.

>>Valentina, bleib hier stehen. Okay!? Beweg dich nicht. Ich gehe nur ein paar Schritte hinüber zu deinem Vater. Du wirst mich die ganze Zeit sehen. Und wenn du mich rufst, bin ich sofort wieder da.<<

Der Blick des verstörten Kindes war noch immer wie versteinert. Doch Thomas musste seinem Bruder helfen. Es ging nicht anders. Allerdings waren es nur wenige Meter bis zum Auto. Wenige Meter, die Valentina jetzt einfach verschmerzen musste. Zügig wandte Tom sich ab und schritt vorsichtig zu den demolierten Fahrzeugen. Im diffusen Schein seines Feuerzeugs zeichneten sich allmählich die Konturen der Karosserien ab. Mit jedem Schritt, den er näher kam, schälten sich die Umrisse mehr und mehr aus der Dunkelheit.

>>Martin?!<< Unsicherheit lag in seiner zittrigen Stimme.

>>Martin!?<< Beim zweiten Mal erklang der Ruf mit mehr Kraft. Dann erkannte er etwas zwischen den beiden Fahrzeugen. Etwas Unheimliches. Etwas, das sein Verstand noch zu keinem klaren Bild formen konnte. Aber es bewegte sich nicht. Weißer Rauch strömte aus einer Öffnung des Motors.

Erneut wandte sich Tom seinem Bruder zu, den er nun auf dem Fahrersitz zu erkennen glaubte. Martin saß regungslos da. Sein Gesicht war tief in den Airbag getaucht. Dann griff Tom nach seiner Schulter und drückte den Oberkörper in den Sitz zurück.

>>Martin, hörst du mich? Bist du noch da?<< Tom stellte das Feuerzeug neben sich auf den Boden, um beide Hände für seinen Bruder frei zu haben. Dann tastete er zu dessen Gesicht und hob seinen Kopf in die Stütze des Sitzes. Dabei verspürte er die schwachen Atemzüge aus seinem Mund. Ein minimales Gefühl von Erleichterung stieg in Tom auf.

>>Hey. Wach auf.<< Thomas drückte mit einer Hand die Wangen seines Bruders ein klein wenig fester und hoffte, dass er den Druck spüren würde. Ungewollt füllten sich seine Augen mit Tränen. Noch vor einer Stunde waren sie im Auto auf dem Weg zu ihren Eltern gewesen, und jetzt sollte das so enden?! Nein. Das konnte es nicht gewesen sein.

Tom drückte noch etwas fester zu und hauchte ihm anschließend eine leichte Ohrfeige auf die Wange. Nichts geschah. Keine Reaktion. Die Zweite war härter. Dann folgte eine Dritte und er holte ein viertes Mal aus...

Martin Kruger erwachte. Einen Spalt breit öffnete er die Augen. Sein Schädel schmerzte. Sofort begann er zu husten und spuckte Blut auf Airbag und Lenkrad. Noch währenddessen verzog er sein Gesicht zu einer schmerzerfüllten Fratze.

>>Gut, du lebst! Wie sehr bist du verletzt?!<<

Martin antwortete nicht. Er hatte Mühe die Situation zu begreifen. Sein Blick war durch die zertrümmerte Windschutzscheibe gerichtet. Darunter erkannte er einen dunklen Fleck auf dem Weiß des Airbags. Es musste sich um Blut handeln. Sein Blut. Hämmernde Kopfschmerzen pochten in seinem Schädel. Über ihm war das blecherne Dach ein Stück eingedrückt. Etwas Flüssiges tropfte aus seiner Nase und rann über das Kinn.

>>Wo ist Valentina?<< Seine Stimme war nur ein kaum verständliches Hauchen.

>>Deiner Tochter geht es gut. Sie steht hinter mir. Komm erst mal da raus. Ich helfe dir.<<

Tom griff den Arm seines Bruders und versuchte ihn gleichzeitig mit einer ruckhaften Bewegung aus dem Wagen zu ziehen. In dem Moment, als Martin sich aufrichten wollte, ließ er sich jedoch sofort in den Sitz zurückfallen. Ein kurzer Aufschrei folgte.

>>Ich glaub, ich hab mir ne Rippe gebrochen.<<

>>Das tut weh, aber bringt dich nicht um. Also los jetzt! Komm!<< Tom wollte mit etwas Nachdruck die Motivation seines Bruders steigern.

>>Sekunde. Nur noch einen Moment.<< Martin blieb regungslos sitzen und atmete gleichmäßig große Mengen an Sauerstoff.

>>Wo ist das... Was ist mit dem...?!<<

Tom wusste sofort, was sein Bruder meinte.

>>Es ist tot.<<

Kurze Erleichterung spiegelte sich auf Martins Gesicht. Dann startete er einen weiteren Versuch, das Fahrzeug zu verlassen. Unter großen Anstrengungen und stechenden Schmerzen gelang es ihm schließlich. Er lehnte sich gegen die Karosserie.

>>Valentina, mein Schatz, geht es dir gut?<<

Als das Mädchen erblickte, dass ihr Vater wieder auf den Beinen stand, konnte sie ihre Schockstarre überwinden und lief zu ihm. Fest umschlossen ihre Arme seine Taille, als würde sie ihn nie wieder loslassen wollen. Mit schmerzverzogenem Gesicht unterdrückte der Mann einen Schrei, da er seiner Tochter nicht das Ausmaß der Verletzungen preisgeben wollte.

>>Es ist vorbei, Vale. Jetzt wird uns nichts mehr passieren. Es ist alles wieder gut.<< Er selbst glaubte kein bisschen an die Aussage seiner Worte. Jetzt ließ das Mädchen ihren Gefühlen freien Lauf und weinte bitterlich. Ihr Gesicht war tief in den Pullover ihres Vaters vergraben.

>>Ich hatte solche Angst!<<

>>Ich weiß, mein Schatz. Ich weiß. Die hatte ich auch.<<

Trotz gebrochener Rippe drückte er seine Tochter noch fester an sich. Auch Martins Augen füllten sich mit Tränen. Während er versuchte, sie durch das sanfte Streicheln ihres Rückens zu beruhigen, kletterte Thomas über den Fahrersitz und öffnete das Handschuhfach. In der Dunkelheit und mit geöffnetem Airbag benötigte er mehrere Handgriffe, bis es ihm schließlich gelang. Ohne den Inhalt zu sondieren griff Tom direkt zur Taschenlampe und kroch daraufhin wieder rückwärts nach draußen.

Martin bemerkte, dass vereinzelte Tropfen Blut aus seiner Nase in Valentinas Haare sickerten. Er wandte seinen Kopf zur Seite und strich ihr mit der freien Hand über den Schopf. Sein Blick war nun zu Thomas gerichtet, welcher das Feuerzeug einsteckte und nun - mit der Taschenlampe im Anschlag - vor das zerstörte Fahrzeug trat. Sein Gesicht schien sich zu versteinern. Seine Muskeln verkrampften und erschwerten jede weitere Bewegung. Ein gewaltiger Schauer ließ ihm die feinen Nackenhärchen aufstellen. Der Schein der Lampe war nun direkt auf den Kadaver des Tieres gerichtet, welches mit dem Blech des Autos verschmolzen zu sein schien.

>>Was zum Teufel...<< Es drang nur als leises Flüstern über seine Lippen. Auch Martin konnte über das eingedrückte Dach problemlos zur Motorhaube blicken. Riesiges Entsetzen breitete sich in seinem Körper aus. Er spürte, wie die aufkeimende Angst sein Blut erneut zum pulsieren brachte. Während Valentina noch immer schluchzte und versuchte sich wieder zu fangen, drückte Martin ihren Kopf etwas fester an sich. Ihr Blick war in die entgegengesetzte Richtung gewandt und das sollte auch so bleiben. Diesen Anblick würde er seiner Tochter ersparen.

Der Körper des toten Tieres füllte die komplette Motorhaube aus, wobei drei seiner Extremitäten noch immer zwischen den beiden Fahrzeugen klemmten und zu einer roten, breiigen Masse zerquetscht waren.

Das vierte Bein schien mehrfach gebrochen und stand in degoutantem Winkel zum Rest des Körpers. Den Fuß formte kein Huf, sondern eine riesige Pranke, ähnlich der eines Wolfes mit zentimeterlangen, ausgefahrenen Krallen. Aus dem Fußwurzelknochen - knapp unterhalb des Sprunggelenks - ragte eine gewaltige, sichelartige Klaue. Der massive Knochen maß über zwei Dezimeter und war auf der Innenseite mit kleinen Widerhaken versehen, vergleichbar mit den Zähnen eines weißen Hais.

Ein Schwanz am Rückenfortsatz existierte nicht. Das pferdegroße Wesen ähnelte einem gewaltigen Dobermann. Jedoch besaß dieses Tier keinerlei Haut oder Fell, als sei es ihm abgezogen worden. Rote und weiße Muskelfasern lagen frei und ließen auf eine enorme Kraft des Monstrums schließen. Das Rückrad war fest mit den Sehnen verbunden und entblößte kleine, spitze Knochenplatten vom Hals bis zum Steiß.

Der Schädel glich im weitesten Sinne ebenfalls dem eines Hundes. Ein langes, gefräßiges Maul, gespickt mit rasiermesserscharfen Zähnen und einer gespaltenen Zunge. Nasenlöcher besaß es keine, ebenso wie Augäpfel. Tom stierte in schwarze, kalte Höhlen, welche tief ins Schädelinnere führten. Das Gehirn schien frei zu liegen. Der Knochenansatz endete bereits nach wenigen Zentimetern und mündete in einer formlosen Masse, welche sich auf Motorhaube und Wagendach verteilte. Eine winzige Öffnung an der Seite des Kopfes schien Teil des Gehörgangs zu sein. Geschlechtsorgane existierten nicht. Dieses Tier war weder männlich, noch weiblich.

Tom hatte so etwas noch nie gesehen. Keine Legende, kein Mythos, kein Ereignis aus seinem Leben hatten ihm jemals so viel Angst bereitet, wie er in diesem Moment verspürte.

>>Was ist das, Martin?<<

>>Ich weiß es nicht.<<

>>Ich habe so was noch nie gesehen. So etwas gibt es doch gar nicht.<<

>>Ich habe keine Ahnung, Thomas. Aber ich will auch nicht länger hier bleiben, um es herauszufinden.<<

Beide redeten in einem leisen Ton, damit Valentina so wenig wie möglich mitbekam. Diese schien sich langsam etwas zu beruhigen. Ihr Weinen war leiser geworden. Ihr Griff schien sich allmählich zu lockern.

>>Was verflucht noch mal soll das sein?!<< Diesmal ignorierte Martin die Frage seines Bruders. Er konnte schließlich auch nicht mehr dazu sagen. Tom starrte wie gebannt auf den teilweise zermatschten Körper.

>>Wir müssen noch mal rein gehen<<, sagte Martin nach einem kurzen Moment des Überlegens. Jetzt wandte Tom sich wieder seinem Bruder zu.

>>Was?! Warum?!<< Er wollte hier weg und keinesfalls noch einmal zurück in das Polizeigebäude, wo alles begonnen hatte.

>>Wir müssen deine Wunde versorgen. Sieht nicht so aus, als würde sie aufhören zu bluten.<<

Der Schock und die letzten, heftigen Minuten hatten ihn seine Verletzung komplett vergessen lassen. Tom blickte an sich herab und erkannte, dass sein Bruder recht hatte.

>>Oder wollen wir das hier draußen neben dem da machen?!<< Martin nickte mit seinem Kopf in Richtung Motorhaube und wies anschließend gestisch auf Valentina.

>>Nein, auf keinen Fall. Ich hole den Verbandskasten aus dem Kofferraum.<<

Während Tom losmarschierte sah Martin zu seiner Tochter hinunter. Sie blickte ihn mit verheulten Augen an. Ihr Vater achtete immer darauf, dass sie das Ausmaß des Unfalls nicht sehen konnte, obwohl sie es vorhin miterlebt hatte.

>>Schatz, wir gehen jetzt noch mal ins Haus und kümmern uns um deinen Onkel, okay?<<

>>Ich will nicht dahin zurück. Ich will wieder nach Hause.<<

>>Da gehen wir auch hin. Aber zuerst müssen wir Tom verbinden, damit sein Arm nicht mehr weh tut.<<

>>Aber danach gehen wir gleich weg von hier!?<<

>>Auf der Stelle. Das verspreche ich dir.<<

Martin lächelte sie zuversichtlich an und es gelang ihm tatsächlich, ihr Vertrauen zu schenken. Inzwischen kam Tom zurück. In der einen Hand noch immer die Taschenlampe, in der anderen den Verbandskasten. Die Pistole hatte er sich am Rücken in den Gürtel gesteckt. Obwohl sie vorhin nicht funktionierte, verlieh sie ihm dennoch ein beruhigendes Gefühl..

>>Okay, ich hab ihn. Gehen wir rein.<<

Martin setzte sich mit Valentina in Bewegung. Er hielt sie stets zu seiner Linken, damit sein eigener Körper den Blick zur Unfallstelle verbarg. Langsam und humpelnd schritten sie Stück für Stück voran.

>>Geht es einigermaßen? Ich kann dich auch stützen?!<<

>>Danke, Tom, aber das schaffe ich schon.<<

Thomas hielt die Taschenlampe immer auf den Eingang des Gebäudes gerichtet und ließ das Geschehene somit in der Dunkelheit verschwinden.

Die Flügeltür fiel zurück ins Schloss, als Martin sich langsam auf einen Stuhl in der Nähe des Wasserspenders sinken ließ. Valentina setzte sich ebenfalls an den Tisch. Thomas legte die Taschenlampe neben dem Kaffeeautomaten aufs Regal; das Licht auf seine Begleiter ausgerichtet. Dann setzte er sich dazu und öffnete den Verbandskasten.

>>Warum hast du eigentlich nicht geschossen?<< fragte Martin.

>>Sie hat nicht funktioniert. Ich habe es versucht.<< Er knöpfte sein Hemd auf und zog langsam den linken Arm heraus. Der Stoff war klebrig vom geronnenen Blut. Es fühlte sich an, als würde jemand ein Tesaband von seiner Haut abziehen. Dann lag die Wunde frei. Es gab zwei kleine Löcher in seiner Haut, aus der noch immer Blut sickerte. Es handelte sich um einen direkten Durchschuss. Da Tom seinen Arm allerdings noch bewegen konnte, durfte es kein Knochentreffer sein. Der Anblick seiner Verletzung ließ ihn für einen Moment flau im Magen werden. Ein schwarzer Rand bildete sich in seinem Blickfeld, welchen er sofort wieder zu verdrängen versuchte.

>>Wirst du ohnmächtig?<< fragte Martin. Er konnte es im Gesichtsausdruck seines Bruders erkennen.

>>Nein, ich denke nicht. Nur ein kleiner Schwächeanfall. Geht schon wieder.<<

>>Gut, okay. Wenn doch nicht, versuch mir vorher bescheid zu sagen. Ich will nicht, dass du hier auf den Boden knallst.<<

>>Schon klar. Aber es passt wieder. Danke.<<

Martin lehnte sich schwerfällig etwas nach vorne und sah sich die Wunde genauer an.

>>Weißt du, dass du echt scheiße aussiehst?!<< sagte Tom.

>>Denk ich mir. Aber unterlass diese Ausdrucksweise.<< Er mochte es nicht, wenn jemand in der Gegenwart seiner Tochter fluchte, oder ähnliche Wörter benutzte.

>>Entschuldige. Aber mal ehrlich, wie geht es dir eigentlich? Du hattest gerade einen Unfall.<<

>>So ziemlich alles in meinem Körper tut höllisch weh und mein Kopf dröhnt unablässig. Aber das wird schon wieder. Die paar Knochen sind im Krankenhaus gleich wieder gerichtet.<<

Thomas musste schmunzeln. Was blieb ihnen auch anderes übrig, als die Situation so gut es ging zu meistern.

>>Das muss eigentlich genäht werden, Tom. Ich habe keine Ahnung, ob ein einfacher Verband reicht.<<

>>Ich schätze, er muss reichen. Eine andere Option haben wir ja nicht?!<<

>>Schon klar, aber ich will nicht, dass du hier verblu...<< Er versuchte es harmloser zu formulieren. >>Das du uns zusammensackst.<<

Valentinas Blick verfinsterte sich erneut. Sie konnte es nicht ertragen, ihren Vater und seinen Bruder so verletzt zu sehen. Sie hatte Angst um die beiden; konnte die Situation noch nicht so verarbeiten wie Erwachsene. Martin war sich dem bewusst, konnte Valentina aber nicht alleine lassen, um sich ausgiebig um Thomas zu kümmern.

>>Mach dir keine großen Gedanken, Vale. Das ist nur ein Kratzer. Das kriegen wir wieder zusammengeflickt.<<

Tom lächelte das Mädchen an. >>Da habe ich schon weitaus Schlimmeres überstanden.<< Er zwinkerte ihr zu. Sie schien ihm zu glauben. Zumindest konnte Valentina sich gut zusammenreißen, um nicht wieder in Tränen auszubrechen. Allerdings war das wohl die größte Lüge, die Tom je erzählt hatte. Was sollte er schon Schlimmeres als eine Schusswunde erlitten haben?! Er konnte bis eben noch nicht mal wirklich glauben, dass das alles überhaupt passiert war.

>>Ich sage es wirklich nur ungern, aber wir sollten die Wunde trotzdem irgendwie verschließen.<<

>>Und wie willst du das anstellen, Martin?<<

>>Naja, keine Ahnung.<< Er sah sich in näherer Umgebung um, ob er im Schein der Lampe etwas Brauchbares erkennen konnte. Dann begann er im Verbandskasten zu kramen und legte sämtliche Gegenstände auf den Tisch. Mullbinden, eine Schere, Pflaster, Klebestreifen und noch weitere Dinge.

>>Es muss doch ausreichen, den Arm einfach zu verbinden, oder nicht?!<<

>>Ich bin kein Arzt, Tom. Aber es hört nicht auf zu Blu... es wäre schon besser, wenn uns etwas einfällt. Außerdem könnte es sich infizieren.<<

>>Selbst wenn, so schnell breitet sich das nicht aus. Bis zum nächsten Krankenhaus schaffen wir das locker.<<

>>Und wie willst du dahin kommen? Beide Autos sind Schrott und die Handys haben kein Netz.<<

Jetzt begriff Thomas das Ausmaß der Situation. Martin hatte recht. Nochmals griff er in seine Hosentasche und holte das Handy hervor. Kein Signal. Es hatte sich nichts geändert.

>>So ein verdammter...<< Gerade noch konnte er seine Worte zügeln. Valentinas Gemütszustand hatte sich nach wie vor nicht wirklich verbessert. Sie kämpfte mit den Tränen. Ab und zu schlich sich ein kleines Schluchzen über ihre Lippen.

>>Ich glaube, ich habe eine Idee.<< Martins Blick war zur Kaffeemaschine gerichtet. >>Aber sie wird dir nicht gefallen.<<

Tom blickte nun ebenfalls in die entsprechende Richtung. >>Wieso? Was meinst du?<<

>>Ich weiß, wie wir die Wunde verschließen können.<< Martin stand auf und trat zum Regal, worauf sich der Kaffee befand. Dann öffnete er die Schublade und holte einen Esslöffel hervor. Als er sich erneut setzte, bat er Tom, ihm sein Benzinfeuerzeug zu geben. Dieser stellte es auf den Tisch. Dann sah er Martin gebannt in die Augen, welcher seinen Blick nur Stumm erwiderte. Thomas begriff, was er jetzt tun würde. Sie sahen sich für einige Sekunden nur stumm an. Jedoch verstanden sie, was jeweils im anderen vorging. Während Martin in Gedanken fragte, ob er das wirklich tun solle, grübelte Tom verbissen nach einer anderen Lösung. Er fand keine.

>>Okay. Tun wir's.<<

Martin wandte sich schließlich seiner Tochter zu. Leider konnte er ihr das jetzt nicht ersparen. Aber er musste versuchen, es ihr begreiflich machen.

>>Valentina, hör zu<<, er redete sehr sanft, fast eindringlich. >>Das wird Thomas jetzt ein bisschen wehtun. Aber das ist nichts Schlimmes. Wir müssen das nämlich machen, damit es seinem Arm wieder besser geht. Es dauert auch nicht lange und ist gleich vorbei. Okay?<<

Valentina nickte. >>Ja, okay.<<

>>Wie gesagt, es wird nicht sehr schön aussehen, ist aber nichts Schlimmes. Danach geht es ihm wieder besser.<<

>>Ist gut, Papa.<<

>>Danke, mein Schatz.<< Er strich seiner Tochter eine Haarsträhne aus dem Gesicht und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn, ständig bemüht, seine eigenen Schmerzen zu unterdrücken. Dann wandte er sich wieder Thomas zu.

>>Bist du soweit?<<

>>Ja. Aber mach es wenigstens schnell.<<

Martin entzündete das Feuerzeug und stellte es zurück auf den Tisch. Dann griff er nach dem Löffel und hielt das schaufelförmige Ende über die Flamme. Hoch genug, dass sich kein Ruß ablagerte, aber tief genug, damit sich das Metall erhitzte. Niemand sagte seinen Ton. Für eine Minute herrschte Stille. Valentina sah den beiden zu und achtete wie gebannt auf jedes Detail. Tom versuchte sich mental auf die kommende Situation vorzubereiten. Martin konzentrierte sich weiterhin auf die Flamme. Er spürte, wie sich der Griff ebenfalls erwärmte. Das Metall wurde heiß. Wie lange sollte er es eigentlich über der Flamme lassen?

Als er schließlich an dem Punkt war, dass ihm selbst der Griff zu warm wurde, wandte er sich zügig seinem Bruder zu, fasste ihn am Arm unterhalb der Wunde und drückte das äußere Metall der Löffelschale fest auf die Schussverletzung. Für eine Sekunde wehrte sich Thomas nicht, dann begann er die Schmerzen zu spüren. Er biss die Zähne zusammen und verzog das Gesicht. Erst drang nur ein Stöhnen aus seinem Mund, was sich Augenblicke später in lautes Schreien wandelte. Reflexartig griff er nach Martins Hand und versuchte sie von seinem Arm zu reißen. Doch dieser setzte dagegen und drückte nur noch fester zu. Der abscheuliche Geruch verbrannter Haut stieg ihnen in die Nase. Leichte, kaum sichtbare Rauchfäden schlängelten sich empor. Tom hielt den Schmerz kaum noch aus und zuckte immer unkontrollierter mit dem Körper auf dem Stuhl herum. Er wehrte sich instinktiv gegen den Schmerz. Tom wollte am liebsten aufspringen und dem Ganzen entgehen. Der plötzliche Schmerz erzeugte in ihm aufsteigende Aggressionen, die er nur zu gerne an seinem Bruder auslassen wollte. Er schien die Kontrolle zu verlieren.

In dem Moment, als Tom seine rechte Hand zu einer Faust ballte, nahm Martin mit einem Ruck den Löffel von dessen Arm. Das Metall hatte sich inzwischen in die Haut gebrannt, sodass es die ersten Schichten mit abriss. Thomas' Schreien verstummte, gefolgt von tiefen Atemzügen. Er versuchte, sich wieder zu beruhigen. Martins Blick wanderte sofort zu seiner Tochter. Tränen liefen über ihre Wangen und die Unterlippe bebte.

>>Wir haben es gleich geschafft, dann gehen wir nach Hause.<<

Tom hatte sich wieder beruhigt. Zumindest etwas. Die Anstrengungen für seinen Körper waren ihm sichtlich anzusehen.

>>Scheiße, tut das weh!<< Diesmal unterließ es Martin, seine Ausdrucksweise zu korrigieren.

>>Sorry, Bruder. Aber wir müssen das leider noch Mal wiederholen.<<

Natürlich. Die Austrittswunde. Tom hasste es, wenn Martin recht behielt. Das Problem war jedoch, dass Thomas nun das Ausmaß der Schmerzen kannte. Sein Geist sträubte sich dagegen, diese Qualen noch einmal durchstehen zu müssen. Vorher konnte er dem leicht zustimmen - Unwissenheit war ein Segen. Aber jetzt sah er den Schmerz kommen... allerdings blieb ihm nichts anderes übrig.

>>Okay, okay. Gib mir ein paar Sekunden.<< Während Tom sich mit beiden Händen am Tisch festklammerte und weiterhin tiefe Atemzüge nahm, erhitzte Martin den Löffel abermals über der Flamme des Feuerzeugs. Man konnte die darauf festgesetzten, verkohlten Hautfetzen noch immer leicht knistern hören. Abermals verbreitete sich ein ekelhafter Geruch.

>>Natürlich. Aber duu musst es nur noch ein letztes Mal überstehen, dann ist es vorbei.<<

>>Ich weiß; ich weiß.<<

Dann war es wieder soweit. Der Löffel war heiß genug.

>>Dreh dich mit dem Rücken zu mir.<< sagte Martin.

Tom ging dem nach, wenn auch nur sehr zögerlich.

>>Machen wir es so: Ich werde jetzt bis drei zählen und dann drück ich das Ding wieder auf die Wunde.<<

>>Von mir aus. Fang schon an zu zählen.<< Tom wollte die wenigen Sekunden nutzen, um ein paar weitere, tiefe Züge an Luft zu holen, um seinen Körper dadurch etwas mehr zu beruhigen.

>>Also dann... Eins...<<

Martin drückte das Metall kräftig auf die Austrittswunde. Diesmal schrie Tom sofort auf, schaffte es aber, sich zu beherrschen. Die Finger seiner linken Hand verkrampften sich auf der Tischplatte. Eine Träne rann ihm aus den Augen. Auch wenn diesmal die Angst vor dem Schmerz größer war, so hatte er sich trotzdem besser unter Kontrolle. Die Sekunden verrannen wie Minuten. Das Brennen schien sich im gesamten Arm auszubreiten und auf seinen restlichen Körper überzugreifen.

>>Verflucht! Das reicht doch!<< Ohne seinen Kiefer zu bewegen presste Tom die Worte zwischen den Zähnen hervor. >>Hör auf! Hör auf!<<

Dann endlich ließ Martin von der Verletzung ab und warf den Löffel auf den Tisch. Sein Bruder blieb vorerst in gekrümmter Haltung auf seine Oberschenkel gestützt und verarbeitete abermals die Schmerzen. Die Wunden waren geschlossen. Kein Blut sickerte mehr heraus. Jedoch zeigten die entsprechenden Stellen nun starke Verbrennungen, welche sich in einer schwarz-rötlichen Färbung der Haut äußerten. Allerdings war das jetzt ein geringeres Problem. Die Wunden würden später noch anfangen zu eitern, wodurch der Körper überflüssiges, totes Gewebe abstieße. Er würde sich selbst regenerieren, auch wenn Narben zurückblieben.

>>Du wolltest doch bis Drei zählen.<<

>>Ich dachte, es wäre klüger, dich zu überraschen. Dafür hast du es jetzt überstanden.<<

>>Ja, endlich. Hoffentlich schießt mich nie wieder jemand an.<<

Martin öffnete die Brandsalbe des Verbandskastens und drückte eine ordentliche Menge auf beide Stellen von Toms Arm.

>>Oh, ja. Das tut gut.<<

Dann öffnete er eine Mullbinde und wickelte sie - nicht zu fest, aber auch nicht zu locker - um dessen Oberarm.

>>Das war es schon, Valentina. Tom geht es wieder gut. Siehst du, er lächelt schon wieder.<<

Wie auf Befehl folgte Martins Bruder seiner Anweisung.

>>Genau. Jetzt geht es mir wieder gut. Und keine Sorge. Dir wird so etwas nie passieren. Niemals.<<

Valentina wusste noch immer nicht, was sie antworten sollte. Die Schüsse, der Unfall, jetzt die Verletzungen; sie war einfach überfordert. Im Schein der Taschenlampe glänzten ihre tränennassen Wangen, als hätte sie jede Menge kleine, funkelnde Perlen im Gesicht.

>>Du bist ein wunderschönes Mädchen, Valentina. Weißt du das?<< Tom blickte sie beinahe väterlich an. Mit dieser Aussage hatte sie in jenem Moment überhaupt nicht gerechnet. Kurz stockte sie, bevor sie darauf antwortete.

>>Äh, ja. Ich meine, nein... Danke.<<

>>Das war's, Tom. Kannst dein Hemd wieder anziehen.<<

Thomas musterte kurz den Verband und führte anschließend seinen Arm vorsichtig in den Hemdärmel zurück.

>>Jetzt sollte ich mich mal um dich kümmern, hmm?<<

>>Schon gut. Ist nicht weiter wild. Meine Nase blutet inzwischen nicht mehr und gegen die gebrochenen Rippen können wir jetzt auch nicht sonderlich viel machen. Ich geh gleich zur Toilette und wasche mein Gesicht. Dann sehe ich mit Sicherheit wieder aus wie neu.<<

>>Gute Idee.<<

Thomas wollte abermals auf das tote Tier zurückkommen. Er hatte so viele Dinge im Kopf, über die er gerne mit seinem Bruder reden würde. Allerdings wäre das nur wieder Zündstoff für Valentinas Angst. Deshalb entschied er sich dagegen.

>>Vale, ich gehe kurz zur Toilette. Du wartest bei Tom. Ich bin gleich wieder da.<< sagte Martin und stand vorsichtig auf.

>>Na gut. Aber beeil dich.<<

>>Ich mache so schnell ich kann.<< Der Mann griff nach dem Feuerzeug, sowie einem Pflaster, und ging langsam am Tresen vorbei in die hinteren Räumlichkeiten. Thomas machte es sich zur Aufgabe, Valentina gut zuzureden, noch während er sein Hemd zuknöpfte.

>>Du brauchst dir wirklich keine Sorgen zu machen, Valentina. Das, was da draußen vorhin passiert ist, das wird sich nicht noch einmal wiederholen. Und mir und deinem Vater geht es auch wieder gut. Er hat sich im Grunde nur die Nase verletzt. So etwas heilt ziemlich schnell, du wirst sehen.<<

>>Wirklich?<<

>>Natürlich. In ein paar Wochen ist sein Zinken so gut wie neu.<<

Zum ersten Mal konnte er ihr ein Schmunzeln entlocken.

>>Aber er sieht so schlimm aus.<<

>>Im Moment. Aber wenn er sich gewaschen hat, ist er fast wie früher.<<

>>Und dir geht es auch wieder gut?<<

>>Mir ging es doch nie schlecht.<< Tom zwang sich während der Unterhaltung zu einem permanenten Lächeln.

>>So eine kleine Wunde kann doch deinen Onkel nicht umhauen. Außerdem mögen Frauen Narben.<<

>>Ich aber nicht.<<

>>Na, wenn das so ist, dann muss ich wohl zum Schönheitsdoktor. Aber zumindest haben wir eine gewaltige Geschichte zu erzählen, wenn wir wieder zu Hause sind.<<

>>Ja, meine Freundinnen werden bestimmt Augen machen.<<

>>Absolut. Du wirst das beliebteste Mädchen in der Schule sein.<<

>>Das glaube ich nicht. Andrea ist das immer. Ihre Eltern haben sogar ein Schwimmbad zu Hause.<<

>>Ach, dass wird auf Dauer doch langweilig. Aber du bist jetzt eine Heldin. Du hast dich dem vorhin gestellt und deinen Mut bewiesen.<<

>>Meinst du wirklich?<<

>>Selbstverständlich. Und ich habe nichts anderes von dir erwartet. Du bist eben ganz wie dein Vater.<<

Tatsächlich musste Valentina geschmeichelt lächeln. Tom sah, dass ihr die Unterhaltung sichtlich gut tat.

>>Ich werde etwas trinken. Willst du auch ein Wasser?<<

>>Ja, bitte.<<

Thomas stand auf und ging zum Wasserspender hinüber. In dem Moment, als er sich erhob, wurde es ihm leicht schwummrig. Das waren wohl noch die Auswirkungen der großen Schmerzen und des Blutverlusts. Aber er konnte sich ziemlich schnell wieder fangen und griff nach zwei Pappbechern.

Martin stellte das Feuerzeug auf den Rand des Waschbeckens und blickte in den Spiegel vor sich. Geronnenes Blut klebte an seinen Mundwinkeln und färbte den Bart rostbraun. Eines seiner Augen musste blutunterlaufen sein, da es dunkler war, als das andere. In dem fahlen Licht, dass er zur Verfügung hatte, konnte er das nicht so genau feststellen. Sein Nasenbein war tatsächlich an mittlerer Stelle gebrochen und stand in kleinem Winkel vom Rest des Knochens ab. Das Periost hatte die Haut an der besagten Stelle durchschnitten, welche inzwischen vom geronnenen Blut wieder verschlossen war.

>>Na toll. Du siehst wirklich beschissen aus.<< Er sprach zu seinem entstellten Spiegelbild, da der Mann erst jetzt seine Verletzungen zum ersten Mal begutachten konnte. Ihm war klar, dass er den Bruch richten musste. So schwer konnte das schließlich nicht sein. Er hatte diese Situation schon in zahlreichen Filmen gesehen, worin es nie länger als ein paar Sekunden gedauert hatte.

>>Also, dann mal los.<< Martin umfasste die Nase mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand, atmete einmal tief durch und drückte die beiden Finger anschließend kräftig zusammen. Er spürte einen Widerstand. Der Untere Knochen muss sich über den anderen geschoben haben. Schmerzen schossen wie Blitze in seinen Schädel, als bekäme er einen plötzlichen Anfall von Migräne. Er unterdrückte einen Schrei, damit Valentina ihn nicht hören konnte. Seine Zahnreihen knirschten aufeinander, als Martin die Kiefer zusammenpresste. Dann ließ er von seinem Vorhaben ab.

>>Oh shit! Ist wohl doch nicht so einfach.<< Martin bemerkte im Spiegel, dass er die Wunde wieder aufgerissen hatte. Erneut rann Blut bis zu seinem Bartansatz und wurde von den Haaren gestoppt.

Er lehnte sich mit beiden Händen auf das Waschbecken und sah sich abermals im Spiegel an. Vielleicht musste er seine Nase etwas nach unten ziehen, damit der Knochen wieder in die ursprüngliche Stellung rutschte. Er wusste, dass dies noch viel heftiger schmerzen würde. Genau wie sein Bruder vorhin bereitete er sich seelisch auf die folgenden Qualen vor. Dann fasste Martin erneuten Mut und griff zum Nasenbein. Mit einem Ruck zog er den unteren Knochen nach vorne und versuchte ihn einzurenken. Es funktionierte nicht. Der Schmerz war beinahe unerträglich. Jedoch wollte er es jetzt beenden, um nicht einen dritten Anlauf wagen zu müssen. Martin zog noch fester und bog die Nase abwechselnd nach links und rechts. Die Schmerzen waren so überwältigend, dass er keine andere Verletzung seines Körpers mehr spürte. Alle Emotionen waren nunmehr auf diese gebrochene Stelle konzentriert. Der Mann drückte seine Finger noch fester zusammen, beinahe martialisch. Seine Augen tränten - fest zusammengekniffen. Dann verspürte er einen Ruck und vernahm ein Knacken. Dieses Geräusch drang bis in Mark und Bein. Das musste es gewesen sein.

Er ließ von seiner Nase ab und öffnete die Augen. Sein Gesicht um diese Stelle war blutig, ebenso wie seine Hand. Jedoch verlief das Nasenbein wieder geradlinig hinauf zur Wurzel. Für einen weiteren Moment stütze er sich abermals auf das Waschbecken und versuchte seinen angespannten Körper zu beruhigen, bevor er den Wasserhahn aufdrehte und sich die Hände wusch. Dann tat er dies ebenso mit seinem Gesicht. Allerdings vorsichtig. Ganz vorsichtig.

Als er erneut in den Spiegel blickte war nur noch ein dünnes Rinnsaal roten Blutes aus dem kleinen Cut der Wunde zu sehen. Martin öffnete die Verpackung der Pflaster, welche er aus dem Verbandskasten mitgenommen hatte, und klebte sich eines über die entsprechende Stelle. Nachdem er sein Gesicht mit einem Handtuch getrocknet hatte und somit auch die letzte Körperflüssigkeit beseitigte, nahm er das Feuerzeug vom Waschbecken und lief zurück in den Empfangsbereich, wo sich noch immer Thomas und seine Tochter aufhielten.

>>Siehst du, dein Vater ist wieder wie neu.<< Beide lächelten ihn an, als er sich auf seinen Platz setzte und Tom das Feuerzeug übergab. Es war schön für Martin anzusehen, dass sein Bruder es geschafft hatte, Valentinas Angst ein wenig zu zügeln.

>>Tja, allerdings bin ich jetzt nur noch so hübsch wie dein Onkel.<<

>>Das ist wohl mehr als genug.<< entgegnete Tom.

Dann wurde es Zeit die Ernsthaftigkeit ihrer Lage neu aufzugreifen.

>>Wir sollten allmählich aufbrechen<<, meinte Martin.

>>Und wo willst du hin?<< entgegnete Thomas.

>>Ich dachte daran, wieder zurück zu laufen. Zu Mom und Dad.<<

>>Das ist gar kein so kurzer Weg zu Fuß. Fühlst du dich fit genug?<<

>>Natürlich. Das werde ich schon schaffen.<<

>>Warum steigen wir nicht in irgendein Haus und holen uns einen Autoschlüssel?<<

>>Sollten wir das wirklich tun? Ich meine, wir wissen weder wo die Leute die Schlüssel aufbewahren, noch was uns da erwartet. Ich bin der Ansicht, wir sollten unsere Zeit nicht unnötig mit Suchen vergeuden und den einfachsten Weg nehmen.<<

>>Glaubst du, das Polizeiauto fährt noch?<<

>>So wie die hinteren Räder ausgesehen haben würden wir mit Sicherheit nicht weit kommen. Hast du eigentlich noch die Waffe?<<

>>Ja, hier.<< Tom holte die Pistole vom Rücken hervor und übergab sie an seinen Bruder. >>Aber ich glaube sie funktioniert nicht mehr.<<

Martin sah sich die Sig Sauer genauer an; drehte und wendete sie mehrmals. Er versuchte sich an die Grundausbildung der Bundeswehr zu erinnern. Dann fiel sein Blick auf den am linken Griffstück befindlichen Entspannhebel.

>>Hier. Die Abzugssicherung war noch drin.<< Martin stellte den Hebel auf dessen zweite Position.

>>Jetzt müsste sie funktionieren.<<

>>Das ist alles? Sie war nur gesichert?<<

>>Ja.<<

>>So ein... Warum hat der Typ sie wieder gesichert?!<<

>>Keine Ahnung. Jetzt ist sie scharf. Schieß dir aber nicht versehentlich in den Hintern.<<

>>Ich hoffe nicht.<< Tom steckte sie zurück in den Gürtel am unteren Rücken.

>>Da hat sich der Wehrdienst doch endlich einmal ausgezahlt<<, gab Martin zu verstehen und stand auf. Sein Bruder tat es ihm gleich.

>>Also los, Valentina. Jetzt gehen wir nach Hause.<< Ihr Vater fasste sie an der Hand und geleitete sie zum Ausgang.

>>Endlich. Ich will wirklich nicht länger hier sein.<<

Tom nahm die Taschenlampe und folgte nebenher. >>Wenn wir ankommen und unsere Eltern sind noch immer nicht da, dann schnappen wir uns ihr Auto und fahren zur Polizei in die nächst größere Stadt.<<

>>Dagegen habe ich nichts einzuwenden.<< Die drei passierten die Flügeltüre und traten ins Freie. Thomas leuchtete absichtlich geradeaus, damit das entstellte Wesen für Valentina im Dunkeln verborgen blieb. Doch irgendwas irritierte Tom. Irgendetwas stimmte nicht. Er konnte nicht genau sagen, was es war, aber im Augenwinkel zeichnete sich etwas Merkwürdiges aus den Schatten. Schließlich schwenkte er die Taschenlampe zu den beiden Fahrzeugen und erstarrte.

>>Martin.<< Er forderte seinen Bruder auf, ebenfalls dorthin zu sehen. Dieser kam der Aufforderung nach und erschauderte ebenfalls.

>>Wo ist...?<< Thomas stockte.

>>Wie ist das möglich?!<<

Beide starrten gebannt zu den Unfallwagen. Valentina klammerte sich an ihren Vater und war abermals den Tränen nahe. Angst stieg in ihr empor. Martin und Thomas erging es nicht anders.

>>Kann es sein, dass es noch...<< fragte Tom.

>>Ich hoffe nicht.<<

Der Mazda und das Polizeifahrzeug standen noch immer genauso beschädigt da, wie sie es zuvor verlassen hatten. Doch etwas fehlte. Das Monstrum auf der Motorhaube. Es war weg. Als wäre es nie da gewesen. Kein Körper. Kein Blut. Keine Anzeichen jeglicher Existenz.

>>Wir sollten weitergehen. Je eher wir von hier verschwinden, desto besser.<< Tom griff nach der Waffe in seinem Gürtel und hielt sie ständig zu seiner Rechten. Sie bot ihm ein leichtes Gefühl von Schutz. Sollte das Wesen noch einmal auftauchen, dann wäre er diesmal vorbereitet.

>>Ja, lass uns gehen.<< erwiderte Martin.

Thomas richtete den Strahl der Taschenlampe nach vorne und beleuchtete den Weg zurück zum Haus ihrer Eltern. Langsam und dicht nebeneinander schritten die drei immer tiefer in den gähnenden Schlund der finsteren Leere.

DIE, DIE NICHT STERBEN

Подняться наверх