Читать книгу Mind life balance - Sebastian Goder - Страница 7
Traumbilder Mein Flug durchs Treppenhaus
ОглавлениеIm Alter zwischen sechs und dreizehn Jahren mussten meine Schwester und ich mit meinen Eltern alle Vierteljahre einmal zu Oma und Opa fahren. Sie lebten zwar in der gleichen Stadt, aber die Fahrt zu ihnen kam einer langen Reise gleich. Niemand hatte Lust darauf. Niemand wusste, worüber man bei Tisch reden sollte. Niemand sah die Notwendigkeit, die beiden alten Menschen, die rauchend an einem separaten Tischchen vor einer gewaltigen Bücherwand saßen, in irgendeiner Weise zu unterhalten. Meine Mutter verzog sich in die Küche und machte Heringssalat. In meiner Erinnerung gab es immer Heringssalat, wenn wir bei Oma und Opa waren. Mein Vater vertiefte sich in ein Buch aus dem großen Wandregal und meine Schwester malte Sonnen, Wiesen und Prinzessinnen.
Und ich?
Durch die stetige Ruhe einer tiefen Langeweile, die nur durch das sanfte Ausblasen des Zigarettenrauchs von meinem Opa rhythmisch unterbrochen wurde, driftete ich scheinbar unbewusst in eine meiner ersten tiefen Meditationen. Später nannte ich sie »Ausritte«. Ganz sanft ließ ich mich auf diese meditative Stimmung ein.
Zuerst sah ich nur auf die Kringel, die mein Großvater in die Luft blies. Er war sehr nett zu mir und behandelte mich immer wie einen Erwachsenen. Das lag aber nur daran, dass er keine Ahnung hatte, wie er mit Kindern umgehen sollte. Er blies also seine Kringel in die Luft und bemühte sich, sie sehr rund und gleichförmig zu gestalten. Einer folgte auf den anderen. Und ich tat nichts weiter, als ihnen zu folgen. Damals sah ich sie nicht als Kringel, die durch die Luft flogen und sich im Sauerstoff auflösten. Ich sah sie als Teil von mir. Ich war mir dessen selbstverständlich nicht bewusst. Ich fragte mich nicht: »Wie nehme ich sie wahr?« Sondern sie waren definitiv mit mir verbunden. Oder besser gesagt: Ich war jeder dieser Kringel und löste mich in ihm oder mit ihm wieder und wieder auf. Eine unendliche Schleife von Hingabe und Aufgabe. Das lässt sich aus heutiger Sicht am besten mit einem Spaziergang durch eine plötzlich auftauchende Nebelwand beschreiben. Sie steht wie aus dem Nichts vor einem und beim nächsten Schritt ist man Teil von ihr. Aufgelöst in kaltem, feuchten Rauch, der tief in die Lungen fährt und jegliches Realitätsgefühl verschwinden lässt. Wenn man will, kann man das eigene Körpergefühl auf diese Weise neu entdecken. Oder man gibt sich einfach hin und zerfließt. So ähnlich habe ich es damals im Alter von sechs Jahren unbewusst, aber voller Genuss getan. Mir war egal, was die anderen dachten. Es war ja jeder mit sich beschäftigt. Selbst die Briefmarkensammlung meines Opas, die er mir bei jedem Besuch präsentierte und die ich später einmal erben sollte, waren weit weniger real als mein erster »Ausritt« auf diesen Rauchkringeln.
Ich erinnere mich an meinen ersten Ausritt, als geschähe er genau jetzt. Ich fliege auf einem Kringel hoch über das kleine Tischchen meines Opas und ziehe gemächlich durch die geschlossene Tür in Richtung Flur, vorbei an der Küche, in der meine Mutter mit ihrer Mutter Heringe zerschneidet. Ich ziehe an diesem Geruch aus Fisch, Essig und Zucker vorbei und bekomme mit, wie sich meine Mutter mit ihrer Mutter unterhält. Es geht um meinen Vater. Meine Mutter erwähnt, dass sie »ihn an die Wand klatschen könnte«. Mir war damals nicht bewusst, dass ich dieses Gespräch aus dem Wohnzimmer, durch die geschlossene Tür, auf keinen Fall hätte belauschen können. Auf meinem Kringel aus Rauch ging das aber ohne Weiteres.
Über die Tragweite dieser angehenden Fernwahrnehmung war ich mir damals natürlich nicht im Klaren. Es war für mich einfach normal. Ich zog auf meinem Rauchkringel, der sich längst aufgelöst hatte und für niemanden mehr sichtbar war, weiter durch die Wohnungstür hinaus ins Treppenhaus.
Meine Großeltern wohnten im ersten Stock. Also eine Treppe hoch. Das Treppenhaus war riesig. Die Stufen verliefen an Stirn– und Fußseite des Treppenhauses. Verbunden durch lange Korridore. Als ich auf meinem Rauchkringel die Wohnung verließ, war ich allerdings nicht in der ersten Etage, sondern in der vierten. Das war die höchste Etage dieses 30er-Jahre Industrie-Vorstadtbaus. Dort oben, so schien es mir, konnte ich alles überblicken. Nicht nur das Treppenhaus mit allen seinen verschlossenen Wohnungstüren, sondern ich konnte durch sie hindurchblicken. Ich sah von meiner Beobachterposition aus all die kleinen, engen Wohnungen mit ihren Einheitstischchen und Schrankwänden und Einbauküchen und Kohleöfen. (Ein paar hatten allerdings schon Gasthermen installiert.) Von heute aus betrachtet, würde man fragen: »Wie geht das denn?« Damals fühlte sich das Ganze für mich unglaublich normal und alltäglich an. Ich war gar nicht so sehr daran interessiert, alle diese Menschen auszuspionieren (die meisten waren zu Hause, da unsere Besuche immer am Wochenende stattfanden). Vielmehr war es einfach wie ein Herumstöbern in einem großen Puppenhaus, das mir gehörte.
Dass ich diese Menschen anscheinend ganz real sah, war mir nicht bewusst. Ich habe es auch nie verifiziert. Nie nachgefragt, ob gegenüber von meinen Großeltern die Wohnung tatsächlich zurzeit meines Besuches leer war, da die Mieter, wie ich eindeutig sah, »in den Pilzen waren«. Alles das war mir egal. Ich stromerte einfach durch ein Haus, das mir gehörte und begann, Möbel umzustellen, Einrichtungen zu verändern, Fenster zu öffnen, auf die Straße zu spucken, Passanten zu erschrecken und mich immer wieder fliegend von Wohnung zu Wohnung zu bewegen. Das Ganze ging so lange, bis ich oben aus der vierten Etage über das Treppengeländer stürzte und in die Tiefe schoss. Bei diesem Sturz, der jedes Mal meine Reise beendete, wusste ich instinktiv, dass dieser Fall nicht real war. Während der gesamten vorhergegangenen Entdeckungsreise war mir das nicht bewusst. Dass ich durch Wände gehen und Mobiliar umstellen konnte, erschien mir völlig real. Erst während des Sturzes erwachte ich aus meinem Traum, oder besser gesagt, wurde ich mir meiner außerkörperlichen Reise bewusst. Diese Erkenntnis signalisierte mir jedes Mal: »Hallo! Das ist ein Traum.« Ab dem Moment konnte ich den Fall genießen und sogar dem Aufprall auf die graugelben Fließen im Erdgeschoss mutig und voller Abenteuerlust entgegenfiebern. Einige Male klatschte ich ganz bewusst zwischen Fahrrädern und Kinderwagen auf die Fließen. Sah mein Blut und meine Knochen wie in Zeitlupe aus mir herausspritzen und freute mich über die Ruhe, die in dem Moment in mir eintrat. Tiefer Frieden und wattiges Wohlbefinden umhüllten mich. Ein Gefühl von: »Mir kann keiner was!« Von diesen »Ausritten« habe ich niemandem erzählt. Sie waren mein Geheimnis. Mein Schatz.
Ich war mir damals intuitiv darüber im Klaren, dass wir uneingeschränkt risikobereite Wesen sind, die diese Welt als Spielwiese ihrer persönlichen Entdeckungsreise nutzen können. Und ich hatte keine Lust, meinen Schatz erklären zu müssen. Für mich war er mehr als real und nur das zählte. Interessanterweise bekam ich nach dieser ersten Erfahrung ganz automatisch ein anderes Verhältnis zur Realität.
In meiner Schule gab es einen größeren Jungen, der es ganz besonders auf mich abgesehen hatte. Ich wusste, er lauert mir auf. Ich wusste, wenn ich ihm über den Weg laufe, beziehe ich Prügel. Das geschah alle zwei Wochen einmal. Aber nach dem ersten Ausritt auf meinem Rauchkringel hatte diese lähmende Angst ihre Wirkung verloren.
Obwohl der Junge zum Ringen ging und unglaublich stark war, ging ich bei unserer nächsten Begegnung auf ihn zu. Ich wusste, mir wird nichts passieren, was ich nicht schon erfahren (oder erflogen) hatte. Ich besaß damals ein Fahrrad mit Rennlenker und Tacho. Mein ganzer Stolz. Ich wusste, dass dieser Teufel meinen Tacho unbedingt haben wollte. Er hatte immer irgendetwas von mir bekommen, es geklaut oder mir abgenommen. Ich ging also auf ihn zu und sagte: »Na, wie geht’s? Willste meinen Tacho haben? Nimm ihn dir! Abschrauben musste ihn aber selber! Na, los! Mach! Ich muss gleich zum Judo.« Zum da maligen Zeitpunkt ging ich allerdings noch nicht zum Judo. Ich weiß nicht, was da in mich gefahren war. Ich hatte mir diese Offensive keineswegs vorgenommen.
Normalerweise hätte ich auf dem Absatz kehrt gemacht und wäre geflüchtet. Oder ich wäre wie ferngesteuert auf ihn zugegangen und hätte stumm meine Prügel abgeholt. Aber diesmal ging ich selbstbewusst auf ihn zu. Ich sah mir sogar dabei über die Schulter und fand mich ziemlich cool. Genau in dem Moment befand ich mich wieder im Treppenhaus meiner Puppenstube. Ich flog mit ausgebreiteten Armen das Treppenhaus hinunter und freute mich auf den dumpfen Aufprall. Dabei musterte ich meinen Peiniger mit verachtendem Todesmut. Kurz bevor ich zwischen Fahrrädern und Kinderwagen aufschlug, hörte ich den Jungen sagen: »Okay, verpiss dich. Aber beim nächsten Mal biste dran.« Ich habe ihn nie wieder gesehen.
Aber der Traum blieb. Noch Jahre nach dem ersten Ritt auf dem Rauchkringel hatte ich nachts diverse luzide Träume, die mich durch das Treppenhaus katapultierten. In diesen Träumen wurde ich mir jeweils kurz vor dem Absprung ins Treppenhaus bewusst, dass ich träumte. Ich konnte ab da den Flug durch das Treppenhaus beliebig verlängern und entwickelte wahre Kunstflüge. Während ich Loopings und Rollen flog oder nur sanft dahinglitt, entwickelte sich das Bewusstsein endlosen Potenzials und grenzenloser Freiheit und Glücks. Diese emotionale (selbstgesteuerte) Erfahrung war so stark, dass ich sie, wann immer ich wollte, im Tagesgeschehen aktivieren konnte.
Komischerweise träumte ich meinen »Flug durchs Treppenhaus« immer genau dann, wenn ich am nächsten Tag in der Schule eine Klassenarbeit schreiben musste. Die Angst, die ich normalerweise vor solchen Tests hatte, blieb nach einem luziden Treppenhausflug jedoch aus und ich konnte mich auf die Arbeit konzentrieren. Das Ergebnis fiel dann oft um ein bis zwei Noten besser aus. Obwohl ich ein stinkfauler Schüler war.
Die Fähigkeit, außerkörperlich zu reisen und sich dessen dabei bewusst zu werden sowie sie in einen luziden Traum zu integrieren, verlor sich im Laufe der Jahre. Niemand sprach zu jener Zeit offen über derlei »Abnormitäten«.
Ich habe diese Fähigkeiten später in verschiedensten Intuitions– und Mentalseminaren wieder wachrufen müssen.
Entscheidend ist dabei aber nicht, etwas »verloren« zu haben, sondern sich bewusst zu machen, dass alle diese Fähigkeiten wieder erlernbar sind.
Die bewusste Wahrnehmung unserer Träume ist ein uraltes menschliches Potenzial, das es uns ermöglicht, ungeahnte Fähigkeiten direkt ins Tagesgeschehen zu integrieren.