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Kapitel 5
ОглавлениеGespannt lauschte die Klasse der Erzählung und die aktiven Schauspieler dieses Theaterstücks spielten ihre Rollen gut. „Fabelhaft!“, lobte Frau Hubert jedes Mal.
Dabei fiel ihr nicht auf, dass Sven inzwischen eingeschlafen war. Das fiel auch Monika nicht auf, die wieder neben ihm saß. Und so las Frau Hubert weiter: Auf dem Heimweg folgte Leon gedankenverloren der Straße. Er dachte noch immer an das Gespräch mit Paul. Dabei überlegte er, ob er vielleicht etwas vergessen hatte. Ihm fiel jedoch nichts weiter ein, was von Bedeutung hätte sein können. Als er die halbe Strecke des Weges hinter sich gelassen hatte, stieß er plötzlich mit einer Frau zusammen. Sie war bildhübsch, hatte schulterlange dunkelbraune Haare und ihm fiel vor allem ihre besondere Ausstrahlung auf. Wie hypnotisiert stand er vor ihr. Als er realisierte, dass sie noch immer voreinander auf der Straße standen, bemerkte er schließlich, dass es ihr wohl ähnlich mit ihm ging. Sie entschuldigten sich gleichzeitig und bückten sich, um die Handtasche und die heraus gefallenen persönlichen Gegenstände, aufzuheben. Dabei tauschten sie vereinzelt schüchterne Blicke aus. Ihre ausdrucksstarken, in der Frühlingssonne grün schimmernden und
doch traurigen Augen sahen ihn in diesem Moment noch einmal flüchtig an. Beinahe hatte er den Eindruck, als wäre es ihr unangenehm, dass sie von ihm angeschaut wurde. Doch hätte er zu gern gewusst, was sie gerade dachte. Sie kam ihm so bekannt vor, Als hätte er sie vor kurzer Zeit schon mal irgendwo gesehen. Nach einiger Zeit waren alle Habseligkeiten aus der Tasche eingesammelt und wieder im Besitz ihrer Eigentümerin. Sie richtete verlegen ihr schwarzes Kleid und er wischte sich verlegen eine Strähne seines dunklen Haares aus dem Gesicht. Jetzt fiel es ihm wieder ein, sie erinnerte ihn an seinen Traum. Denn sie war diejenige, die er in seiner Vision gesehen hatte. Die Zwillingsschwester des beim Überfall Erschossenen. Sie fragte nach einigen Minuten wie sie von ihm angestarrt wurde:
„Kennen wir uns?“
„Nein, also, ich bin mir nicht sicher“, antwortete Leon vorsichtig.
Auf gar keinen Fall war es der richtige Zeitpunkt, ihr von seinem Traum zu erzählen. Dieser würde sie nur unnötig verunsichern.
„Ich würde Sie gern auf einen Kaffee einladen. Gern auch bei mir. Wir stehen zufällig vor meiner Haustür“, bemühte er sich die Situation zu entspannen.
Auch wenn es keinesfalls ihre Art war, sich so schnell von jemandem, den sie nicht kannte, einladen zu lassen, nahm sie sein Angebot dankend an. Leon war ein interessanter Mann. Das spürte sie und da ihr seine ruhige und zuvorkommende Art gefiel, ging sie mit ihm. Ihr Gespräch wurde nur vom Treppensteigen unterbrochen. Sie unterhielten sich angeregt in der Wohnung weiter und fanden ständig neue Themen. Vivien, so hieß die Unbekannte, erzählte ihm, dass sie vor einigen Tagen aus Irland angereist war. Dass sie gerade vom Reisebüro kam, um ihre Rückreise zu buchen, verschwieg sie ihm bewusst. Trotz der gegebenen Umstände fiel es ihr leicht, die Zeit mit Leon zu genießen. Sie dachte für wenige Stunden nicht an den Verlust ihres Bruders und den Überfall. Sie wollte Leon unbedingt näher kennen lernen, ohne diese besondere Begegnung mit den falschen Worten zu zerstören. Und die Rückfahrt nach Irland, die ohnehin in eine weite Zukunft gerückt war, da sie es als ihre Aufgabe sah, sich um die Familie ihres verstorbenen Bruders zu kümmern, empfand sie zur jetzigen Zeit nicht erwähnenswert. Sie fand es wichtiger, ihrer Schwägerin und den beiden Söhnen, die den liebenden Ehemann und Familienvater verloren haben, in dieser schweren Zeit beizustehen.
Genauso wenig konnte sie wissen, dass Leon von dem Banküberfall geträumt hatte und er sie längst aus seinem Traum erkannt hatte. Das behielt er nach wie vor für sich. Irgendwann kam der richtige Zeitpunkt von allein. In seiner chaotischen und unaufgeräumten Junggesellenbude angekommen, fühlte sie sich trotz allem sehr wohl. Das lag in erster Linie an Leon, der ein guter Gastgeber war. Schnell räumte er noch ein paar Klamotten und Magazine beiseite und entschuldigte sich für die Unordnung. Anschließend brachte er die Sachen in sein Arbeitszimmer. Vivien machte es sich inzwischen auf dem Sofa gemütlich und zurückhaltend, meinte sie zu Leon:
„Das macht doch nichts. Ich nehme an, Sie wohnen allein?“
Er pausierte, mit einer verwaschenen Jeans und einem karierten Hemd auf dem Arm, um ihr zu erklären:
„Schon seit vielen Jahren. Ich hab mir meine Wohnung gemütlich eingerichtet und mir fehlt an nichts. Es hat sich noch nichts ergeben, wofür es sich gelohnt hätte, irgendetwas zu verändern. Die Zeit, die ich Zuhause verbringe, sitze ich meist hinter dem PC und schreibe.“
Sie überlegte nicht lange und verblüfft schaute Vivien ihn an und erkundigte sich:
„Sind sie Autor oder Journalist, weil sie sagen, dass sie die meiste Zeit schreiben?“
Leon genoss es kurzzeitig im Mittelpunkt zu stehen, obwohl es für ihn ein ungewöhnliches Gefühl war, über seine Tätigkeit als Autor zu sprechen und begann dennoch:
„Richtig, ich nenne mich selbst Autor. Kein erfolgreicher aber erst gestern ist eine
Zeitung auf mich aufmerksam geworden und die möchte einige Kurzgeschichten von mir veröffentlichen.“
Sie sahen sich an und spürten dabei das allererste Mal, dieses unsichtbare
Knistern zwischen ihnen. Ähnlich zweier Menschen, die sich Zeit ihres Lebens
gesucht und endlich gefunden haben. Leon wollte in die Küche verschwinden
um Kaffee anzusetzen. Zuvor bat ihn Vivien allerdings, wenigstens eine seiner Kurzgeschichten lesen zu dürfen. Er ließ sich nicht lange betteln und holte
die Mappe mit seinen Werken aus dem Bücherregal und gab ihn ihr.
Er verschwand in der Küche und ließ sie in aller Ruhe seine Geschichten lesen.