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Mittwoch, 28. Oktober 19 Tage vorher

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Bisher verlief diese Woche gänzlich ungewöhnlich und das machte Sam mehr als skeptisch. Die Tatsache, dass erst Mittwoch war, sprach dabei für sich und stellvertretend für sein gesamtes Leben. Dementsprechend ging es davon aus, auch dieses Mal auf seinem Weg zum Kuchen-Imperium von einer Straßensperre aufgehalten zu werden – dass genau das nicht passierte, alle Straßen frei waren und es den ganzen Tag lang vor keiner roten Ampel hatte warten müssen, minderte sein Misstrauen nicht unbedingt.

›Na gut‹, dachte es, als es ohne Zwischenfall in die richtige Straße einbog, ›soll mich nicht stören. Solche Tage hab ich schließlich auch mal verdient.‹

Es parkte und beeilte sich, in den Laden zu kommen. Das einzige, was nicht optimal lief, war das Wetter, seit gestern Abend regnete es in Strömen. Sam schloss die Ladentür schnell hinter sich und atmete dann einmal tief durch, ehe es den Raum bewusst betrat.

Beth, die Ladenbesitzerin, hatte es unterdessen schon längst gesehen, wahrscheinlich schon Kaffee aufgesetzt und die Tasse bereitgestellt. Wie immer hatte sie sich ihre krausen, schwarzen Haare hoch- und vor allem aus dem Gesicht gebunden. Wie immer trug sie mit sichtlichem Stolz ihre rosa-blau-hellgelb-gestreifte Schürze, auf der riesengroß das Logo des Kuchen-Imperiums prangte. Und wie immer hatte sie Mehlstaub im Gesicht, es hob sich gut sichtbar von ihrer dunklen Haut ab. »Meine Art von Make Up« hatte sie das irgendwann einmal genannt, Sam glaubte nicht, sie jemals ohne gesehen zu haben. Mittlerweile fiel es ihm kaum noch auf.

»Morgen«, begrüßte Beth es so wie jeden Besucher zu grundsätzlich jeder Uhrzeit. »Wie immer ohne Milch und Zucker?«

»Gerne. Und groß.«

»Selbstverständlich. Keks?«

»Immer.« Mittwochs waren immer die mit Schokostücken dran. Montags nur Schokolade, dienstags mit Haselnüssen, mittwochs Schokostücke, donnerstags Glasur, freitags ein Experiment und samstags gab es Reste. Alles selbstgebacken, verstand sich.

Sam schaute sich im Laden um. Nicht, dass es nach einem freien Platz suchen müsste, eine Handvoll Leute verteilte sich auf das halbe Dutzend Tische. Für die Verhältnisse des Küchen-Imperiums grenzte das schon fast an Überfüllung, aber Sam war froh um jede Person, die den Weg hierher fand und hoffentlich wiederkam. Das hielt das kleine Café am Leben.

»Sam?«

Es wandte den Kopf, suchte nach der Person, die es gerufen hatte und erkannte Ana erst, als sie eine Hand zur Begrüßung hob. Es fragte sich, wie um alles in der Welt es die Begegnung mit ihr schon wieder hatte vergessen können, wollte spontan im Boden versinken oder unauffällig unter dem nächsten Tisch verschwinden. Stattdessen riss es sich zusammen, schluckte die aufkommende Nervosität herunter und ging zum Tisch in der hintersten Ecke des Raums herüber. Ana begann daraufhin zu lächeln.

»Darf ich mich setzen?«, fragte Sam.

»Klar!« Ihr Lächeln wurde breiter. »Danke für die Empfehlung, der Kaffee ist hier wirklich besser.«

»Natürlich ist er das!«, rief Beth von hinter der Theke zu ihnen herüber und sie mussten alle lachen.

»Und?«, fragte Sam weiter, um das Gespräch nicht versehentlich schon im Keim ersterben zu lassen. »Welchen Sirup hast du genommen?«

»Haselnuss«, erwiderte Ana. »Und das ist ja witzig, dass wir uns nochmal über den Weg laufen.«

»Irgendwann wäre das sowieso passiert«, sagte Sam schulterzuckend, auch um nicht direkt zu zeigen, wie sehr es sich über diesen Zufall freute. Hoffentlich verzögerte sich das erwartete Unglück für die nächsten zwei Stunden, oder wie lange sie dieses Mal redeten und die Zeit vergaßen. »Wenn ich kann, dann komme ich nach der Arbeit her. Letzte Woche wäre ich das auch, aber… na ja. Du weißt ja, wie das geendet ist.«

»Glaub mir, es war nicht schlimm, dass du nicht da warst«, erklärte Beth. »Es gab einen bewaffneten Überfall im Laden gegenüber, mit Schießerei und allem. Die Straße war den ganzen Tag lang gesperrt und die Polizei hat bis gestern noch jeden Tag ermittelt, also…«

»Das war hier?« ›Wie hab ich das denn nicht mitbekommen?‹ »Bist du in Ordnung?«

»Ich war hinten und hab neue Kekse gemacht«, erwiderte sie, während sie seelenruhig den Kaffee für Sam anrichtete. »Erst als mich die Polizei befragt hat, hab ich mitbekommen, was passiert ist. Von dem Verdienstausfall mal abgesehen ist alles gut.«

›Das hätte mir ja noch gefehlt, dass meine Freunde in Mitleidenschaft gezogen werden‹, dachte Sam. ›Immerhin erklärt das die Straßensperre. Und ohne die hätte ich Ana nicht getroffen und eigentlich ist es gerade ganz gut so wie es ist.‹

Sie schwiegen eine kurze Weile lang. Ana starrte in ihren Kaffee, Sam in Ermangelung eines Getränks auf die Tischplatte vor ihm.

»Als was arbeitest du eigentlich?«, fragte Ana schließlich.

»Ach, ist nichts Besonderes«, erwiderte es und nahm dankend den Kaffee mit Keks entgegen, den Beth ihm einen seltsam verschwiegenen Moment zu spät reichte.

»Was soll das denn heißen?« Sie machte ein erkennbar gespielt empörtes Gesicht. »Was ist denn dieses nicht Besondere?«

»Ich fahre für eine Organisation mit kirchlichem Träger durch die Gegend und bringe alten Leuten Mittagessen«, sagte Sam. »Manchmal helfe ich in Läden aus und mache Inventur oder was auch immer gerade anfällt. Gibt insgesamt genug Geld zum Leben, aber… na ja. Außergewöhnlich ist das echt nicht.«

»Zumindest stehst du nicht in irgendeinem Laden hinter der Kasse und verkaufst Leuten Klamotten.«

Sam musste lachen. »Auch wieder wahr.« Es aß seinen Keks auf, kaute gründlich und fragte sich wie jedes Mal, warum es industriell hergestelltem Gebäck überhaupt noch etwas abgewinnen konnte. »Und was machst du?«

»Studieren«, antwortete Ana und strich sich eine Strähne hinters Ohr. »Was mit Medien, wie man so schön sagt.«

›Mit anderen Worten etwas, von dem die Leute sagen, dass man damit sowieso keinen vernünftigen Job findet‹, dachte Sam. ›Kenne ich irgendwoher, nur dass ich von meiner Kunst leben will.‹

»Das ist mein erstes Semester«, fuhr Ana fort. »Ich bin erst vor einem knappen Monat hergezogen, vom anderen Ende des Landes, und kenne hier nichts und niemanden. Bei der Orientierungswoche hab ich mich nicht betrunken und jetzt sind alle Leute schon in ihren Gruppen unterwegs.« Sie seufzte leise und Sam meinte zu hören, dass sie das mehr mitnahm als sie zeigte. »Ich wollte letztens zur Abwechslung wenigstens mal rauskommen und die Stadt ein bisschen kennenlernen, aber ich hatte keine Ahnung, wo man hier hingehen kann, deswegen bin ich bei den großen Ketten gelandet.«

»Da weißt du wenigstens, woran du bist?«, riet Sam ins Blaue hinein, wunderte sich aber nicht im Geringsten, als Ana nickte.

»Ganz genau«, fuhr sie fort. »Gut, und der Sirup. Aber das hat sich ja auch erledigt.«

»Ich helf doch immer gern«, sagte Sam und machte innerlich ein paar kleine Freudensprünge. »Und wenn du willst, kann ich dir noch ein paar andere Adressen geben. Dürften auch alle für ’ne Studentin bezahlbar sein.«

»Sehr gerne!«

»Wenn das so ist…« In Ermangelung von anderem Papier riss Sam eine leere Seite aus seinem Skizzenbuch – viele waren nicht mehr übrig – und begann die Namen der Läden und Cafés, eine kurze Beschreibung und die Adressen zu notieren. Eine Pizzeria, die Sam fast im Alleingang ernährt hatte, als es gerade in seine erste Wohnung gezogen war und deren Angebot von Woche zu Woche wechselte. Die Kombination der Beläge sah grundsätzlich abenteuerlich aus, aber die Leute wussten was sie taten. Ein winziges familiengeführtes Buchgeschäft, mit dessen jetzigem Besitzer Sam auf ein paar Dates gegangen war. Mittlerweile hatten sie sich auseinandergelebt, doch es kam immer noch von Zeit zu Zeit her. Erstens waren die Regale vollgestopft mit kuriosen Büchern und die Leseecke zweitens einer der gemütlichsten Arbeitsplätze, die es kannte. Sein übliches Geschäft für Künstlerbedarf, das es – bis auf die Sache mit den Farben neulich – noch nie enttäuscht hatte. Mehrere Bäckereien, die sich über jahrelange Testreihen hindurch konstant bewährt hatten.

Es dauerte nicht lange und das Blatt war voll. Es überlegte, ob es nicht noch unauffällig seine Handynummer unterbringen konnte, erklärte sich für noch nicht so verzweifelt und reichte Ana die Liste stattdessen einfach so.

Sie las sie einmal durch, faltete das Papier dann sorgfältig zusammen und strich sich wieder die Haare hinters Ohr. Sam erwischte sich dabei, wie es die Geste sehr genau beobachtete und zu mögen begann. »Ich werde auf jeden Fall überall vorbeischauen«, sagte sie. »Im Moment hab ich aber noch so viel um die Ohren, dass ich kaum vernünftig rauskomme. Heute wollte eigentlich auch noch ein Techniker kommen, damit ich vernünftiges Internet in meiner Wohnung kriege.«

»Mein Beileid«, erwiderte Sam daraufhin, weil ihm nichts Besseres einfiel.

»Es läuft alles nicht ganz so rund, wie ich es gerne hätte«, fuhr Ana fort. »Aber ich schätze, insgesamt immer noch ganz gut dafür dass ich gerade erst eingezogen bin, keine Ahnung von allem habe und das alleine regeln muss.«

»Ganz alleine?«

Ana seufzte, dann nickte sie. »Meine Eltern haben sich darauf beschränkt, vor Freude zu weinen, dass ich als Erste in der Familie studieren gehe und mich regelmäßig zu erinnern, dass sie mir den Spaß hier mit ihrem hart Ersparten finanzieren. Ich hab mich alleine an der Uni eingeschrieben, mir die Wohnung alleine gesucht, den Umzug alleine organisiert und ich bin heilfroh, dass keine größere Katastrophe passiert ist.«

Ihre Worte erinnerten Sam an sein etwa fünf Jahre jüngeres Selbst, ausgenommen die Sache mit dem Studium. Seine gesamte Familie war sich wie sonst selten einig gewesen, dass sich schon mit Kunst kein Geld verdienen ließ, da hatte es noch einen unrealistischen Zukunftsplan gar nicht erst vorgebracht und es stattdessen so versucht. Eine Berufsausbildung abgebrochen, weil die Energie nicht gleichzeitig für Lernen und Selbstfindung da gewesen war und seitdem fragte es sich in regelmäßigen Abständen, was genau es eigentlich in und von diesem Leben wollte.

Aber alles in allem ging es jetzt. Sein zwanzigjähriges Selbst hätte diese Zukunftsaussicht dringend gebraucht.

»Klingt wirklich nicht, als wäre alles wunderbar«, stellte Sam fest, ehe es sich völlig in seinen Gedanken verlor, und trank etwas von seinem Kaffee. »Und so ’nen Umzug schafft man rudimentär auch nur dann alleine, wenn man wirklich muss. Du brauchst nicht zufällig noch Hilfe bei irgendwas?«

Ana zögerte eine Weile lang, aber Sam kannte ihre Antwort ohnehin schon. Jede Person, die gerade zum ersten Mal alleine in ihrer ersten eigenen Wohnung in einer unbekannten Stadt lebte, konnte bei irgendwelchen Dingen Unterstützung brauchen. »Schon«, gab sie schließlich wie erwartet zu. »Ich könnte noch ein oder zwei Möbel gebrauchen. Das hab ich mir bis jetzt aufgehoben, weil es ja bekanntlich das Beste auf der Welt ist, mit riesigen Paketen in der Bahn zu sitzen und durch die halbe Stadt zu fahren.«

Sam grinste, und musste für seine Antwort nicht mehr überlegen. Das Angebot hatte schon lange vor seiner ersten Frage gestanden. »Also, ich hätte ja ’nen Führerschein und finde den Weg zum Möbelhaus. Mein Auto sieht vielleicht nicht danach aus, als käme es fünf Meter weit, aber das kriegt es hin, versprochen.«

Anas Augen leuchteten förmlich auf. Spätestens jetzt sollte Sam das Ganze wohl bereuen und sich fragen, warum es Leuten immer wieder Gefallen tat, aber dieses Mal wollte sich das einfach nicht einstellen. Dieses Mal freute sich es sich darauf und wusste nicht ganz weshalb.

›Entweder, etwas ist wirklich mit mir kaputt, oder es ist um mich geschehen. Oder beides. Um Himmels Willen.‹

»Und du würdest das wirklich machen wollen?«, fragte Ana mit leichtem Unglauben. »Ich mein, wir sehen uns jetzt das zweite Mal und du würdest direkt…?«

Sam zuckte mit den Schultern. »Du hast mir ein bisschen was über dich erzählt, ich hab dir ein bisschen was über mich erzählt, du hast mir danach noch nicht erklärt, dass ich gar nicht existiere und mir mein Geschlecht nur ausdenke und ansonsten sind wir noch nicht schreiend voreinander weggelaufen. Reicht doch?« Weil das Ana noch nicht ganz zu überzeugen schien, legte Sam noch ein klein wenig nach. »Und ich weiß, wie du von da aus mit der Bahn wieder wegkommst, wenn das mit uns nichts wird. Ich meine… also...« Es räusperte sich und tat so, als würde ihm ein Krümel im Hals stecken, nur um kurz darauf einen echten Hustenanfall zu bekommen.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte Ana mit gleichermaßen irritierter und besorgter Stimme.

Sam beeilte sich zu nicken, rieb sich die Tränen aus den Augen und atmete einmal tief durch. »Geht schon«, sagte es dann, obwohl seine Stimme das Gegenteil verlauten lassen dürfte. »Jedenfalls. Wenn ich darf, dann fahr ich dich gerne.«

Ana schaute einen Moment lang in ihren Kaffee, ehe sie ein »Warum eigentlich nicht« murmelte und nickte. »Das wäre großartig, wenn du das machen könntest.«

Sams Herz machte so einen winzigen Hüpfer, dass es sich fast so anfühlte als würde es aus dem Takt geraten. Einen Moment lang fehlten ihm die Worte, dann kam ihm rechtzeitig die rettende Idee. »Kann ich den Zettel von eben nochmal haben?«, fragte es und klopfte sich im Geiste für den Einfall auf die Schulter. »Dann schreib ich dir meine Nummer auf, und wir können heute Abend nochmal drüber reden, wann immer dein Techniker da gewesen ist und du Internet hast.«

Ana nickte, tippte die Nummer auf der Stelle ab. Kurz darauf vibrierte es bei Sam in der Tasche – normalerweise war das Handy ganz auf lautlos gestellt, heute hatte es das wohl vergessen. »Gut«, sagte Ana. »Dann mach ich mich auch lieber auf den Weg, damit ich rechtzeitig wieder Zuhause bin. Die Leute sind ja nie pünktlich.«

»Du kommst zurecht?«

»Ich denke schon.«

Sie klang sicher genug, dass Sam ihr das abkaufte und sie guten Gewissens ziehen lassen konnte. Ganz davon abgesehen war Ana eine erwachsene Frau, die vielleicht neu in der Stadt war, aber wissen dürfte was sie tat und genug Orientierung besessen hatte, um hierher zu finden. ›Und ich kann jetzt nicht auch noch anbieten, sie nach Hause zu bringen, das wäre ein kleines bisschen übertrieben. Aber nach draußen begleiten kann ich sie ja noch.‹

Sie zahlten beide, verabschiedeten sich unterschiedlich lange und ausführlich von Beth, Ana wurde das Versprechen abgenommen, nächste Woche wiederzukommen. Dann machten sie sich auf den Weg zurück nach draußen – immerhin regnete es nicht mehr ganz so heftig.

»’Nen Schirm hast du nicht zufällig dabei?«, fragte Sam.

»Nein, tut mir leid«, erwiderte Ana und wirkte dabei äußerst missmutig. »Vielleicht sollte ich mal einen besorgen, was?«

»Kann nicht schaden.«

Sie stießen einen kollektiven Seufzer aus, dann öffnete Ana die Tür und trat nach draußen, Sam folgte ihr auf den leeren Bürgersteig. Es fluchte innerlich angesichts des Wetters, bereitete sich darauf vor zum Auto zu rennen. Blinzelte.

Es konnte das halbherzig gemurmelte »Entschuldigung« eine Sekunde eher hören, als wie aus dem Nichts jemand vor ihnen beiden auftauchte, Ana grob an der Schulter anstieß und sich an ihnen vorbei ins Innere drängte. Sie stolperte abrupt nach hinten und prallte gegen Sam, das noch damit beschäftigt gewesen war sich zu fragen, was das nun gewesen war. Es streckte einen Arm aus, um sich irgendwo festzuhalten, verfehlte die Türklinke um Haaresbreite und ging daraufhin glanzlos und nicht gerade würdevoll zu Boden. Die Landung auf den Fliesen war hart, knapp an einer Tischplatte und einem Stuhl vorbei, immerhin das hätte schlimmer kommen können. Ana hingegen hatte den Türrahmen zu fassen bekommen und sich dadurch auf den Beinen halten können. Als sie sicher stand, ließ sie los und schüttelte ihre Hand aus, murmelte mehrere Flüche, die Sam noch nie gehört hatte.

»Hey, du verdammtes…«, begann sie, angemessen laut und aggressiv, brach aber gleich wieder ab. Sie schaute sich um, Sam tat es ihr gleich - niemand war zu sehen. »Was zum… Wo ist er hin?«

Es zuckte mit den Schultern. Mehr Ahnung hatte es ja auch nicht.

Ana reichte ihm eine Hand und zog es wieder auf die Beine. »Versteh das einer...«

»Alles in Ordnung bei euch?«, rief Beth von hinten durch den Raum.

»Ja, ja«, erwiderte Sam schnell. »Sind nur-«

Draußen krachte es laut, gefolgt von einem Klirren. Sie beide zuckten zusammen, und sprangen einander beinahe in die Arme. Sam überkam die Ahnung, dass das das Unglück war, auf das es die ganze Woche lang schon gewartet hatte. Dementsprechend überraschte es der absurd große Blumentopf nicht, der vollkommen zersplittert auf dem Bürgersteig direkt vor dem Kuchen-Imperium lag.

Beth kam zu ihnen herüber, schaute sich die Sache gründlich an. »Der hätte euch erwischt«, stellte sie fest. »Garantiert. Ihr müsst ’nen Schutzengel gehabt haben.«

»Einen, der uns schubst, ganz offensichtlich«, erwiderte Ana grummelnd und rieb sich noch einmal die Hand.

Cassiel schüttelte den Kopf, um wenigstens etwas Wasser aus den Haaren zu bekommen. Er hasste es, im Regen stehen zu müssen, aber immerhin hatte sich die Mühe gelohnt und Sam war nicht erschlagen worden. Vielleicht hätte er es eleganter lösen können, wenn nicht müssen, aber auf die Schnelle war ihm nichts Besseres eingefallen. Seine Gedanken hingen bei Ana fest und bei der Eifersucht, die sie unwillkürlich und unwissend in ihm auslöste und die er vor allem nicht haben sollte.

›Ich sollte die beiden machen lassen‹, dachte Cassiel, aber es fühlte sich nicht richtig an. ›Ich sollte froh sein, dass Ana vernünftig und freundlich ist, aber bisher ist noch keine Beziehung gutgegangen. Sam sollte es doch besser wissen, als sich einfach Hals über Kopf zu-‹

Weiter kamen seine Gedanken nicht. Die Tür zu seinem Büro flog auf, knallte an die Wand daneben und hinterließ sowohl im Stein als auch im Holz einen beeindruckenden Riss. Ein Schutzengel kam herein, schlug die Tür gleich wieder zu und mit den Händen auf den Schreibtisch. Ihre erdbeerblonden, geflochtenen Haare und Kleider waren durchnässt, aus ihren olivgrünen Augen funkelte die blanke Wut.

»Du warst das gerade«, stellte sie mit scharfer Stimme fest, bei der Cassiel nicht einmal widersprochen hätte, wäre er unschuldig. »Du hast sie geschubst!«

»Sie wären erschlagen worden«, erwiderte Cassiel, auch wenn er nicht glaubte, dass das etwas brachte. Aber mit irgendetwas musste er sich ja rechtfertigen. »Es ist richtig gewesen, Sam zu retten. Sie beide zu-«

»Ich weiß«, unterbrach sie ihn. »Daran habe ich gearbeitet und es wäre nichts passiert, hättest du mich nicht abgelenkt!«

›Du bist Anas Schutzengel‹, dachte er, wurde sich dessen jetzt erst bewusst. »Was soll ich denn getan haben?«

Sein Gegenüber holte mit beiden Händen aus, Cassiel zuckte zurück, doch sie schlug statt nach ihm nur noch einmal auf die Tischplatte. Durch die Erschütterung fiel der Becher voller Tee um und verteilte seinen Inhalt auf dem Holz. Sie atmete tief durch, beruhigte sich mit sichtlicher Mühe und sprach dann erst weiter. »Ich habe mich um diesen Blumentopf gekümmert«, erklärt sie. »Es wäre alles in bester Ordnung gewesen, wenn du Ana nicht geschubst, in Gefahr gebracht und mich damit erschreckt hättest!«

Überraschung wandelte sich endgültig zu Wut. Cassiel ballte die Fäuste, das musste er sich nicht bieten lassen. »Dann hast du also-«

»Ich habe ihn versehentlich fallen lassen«, erklärte seine Kollegin. »Weil du die Regeln gebrochen, dich den Menschen gezeigt und du sie verletzt hast. Sie hätten sich den Hals brechen können, das ist das Gegenteil von unserer Arbeit!«

»Es war richtig!«

»Remiel würde das anders sehen.«

Cassiel blieb mit einem Schlag die Luft weg und er wagte es nicht, zu widersprechen. ›Nein‹, dachte er als erstes und danach noch ein paar Mal. ›Sie darf nicht zu Remiel gehen, das kann ich nicht zulassen, das darf nicht passieren. Am Ende nehmen sie mir Sam weg, das… Nein.‹

Es brauchte etwas Überwindung, aber es musste wohl sein. »Entschuldigung«, murmelte Cassiel und senkte den Blick. »Es kommt nicht wieder vor.«

»Das will ich hoffen«, erwiderte seine Kollegin. »Und halt dich von Ana fern!«

Sie wandte sich um und verließ das Büro mit einem erneuten Türknallen, ihre sich entfernenden Schritte waren danach noch auf dem Flur zu hören. Cassiel schluckte. Wenn es nach ihm ging, würde er den Worten nur zu gerne Folge leisten, aber letztendlich lag es nicht in seiner Hand. Wenn Sam Schutz brauchte, dann würde er handeln, an jedem Ort, zu jeder Zeit und egal, wer sonst noch in der Nähe war.

Was richtig ist

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