Читать книгу Was richtig ist - Sebastian Kalkuhl - Страница 7
Donnerstag, 15. Oktober 32 Tage vorher
ОглавлениеKurz nach dem Aufwachen funktionierte Sam noch nicht gut genug für zusammenhängende Flüche. F ür ein paar eindeutige Worte an den Radiowecker gerichtet reichte es trotzdem, ehe es den Arm ausstreckte und provisorisch ein paar Mal öfter auf das bemitleidenswerte Ding schlug, mitten in die Delle hinein, die durch dieses Jahre alte Ritual zwangsläufig hatte entstehen müssen. Gefolgt von der heimlichen Frage, wie lange es wohl noch dauerte, bis es den Wecker dadurch endgültig zerlegte.
Sam grummelte noch etwas vor sich hin, ehe es schließlich aufstand, mehr vom Hunger getrieben als von tatsächlicher Motivation. Nach dem ersten Kaffee würde sich das geben. Oder nach dem fünften. Kam auf den Tag an.
Es ging mehr aus Gewohnheit, denn aus tatsächlichem Willen in die Küche, machte aus reiner Routine die Kaffeemaschine an und ärgerte sich wie jeden Morgen über sich selbst, das Pulver nicht schon gestern Abend in den Filter geschüttet zu haben – sein Hirn war für das Maß an Fingerfertigkeit einfach noch nicht bereit. Während der Kaffee kochte, folgte ein kurzer Abstecher ins Bad inklusive dem üblichen Grusel vor dem eigenen Spiegelbild, der zur Hälfte aus dem Schreck vor dem nicht vorhandenen Ausgeschlafensein bestand und zur anderen aus dem nicht Einsehenwollen, dass das wirklich Sam sein sollte. Immerhin war Letzteres schon schlimmer gewesen.
Zurück in der Küche war Sams erste Amtshandlung, sich dazu zu überreden, die erste Kaffeetasse direkt zur Hälfte wieder zu leeren, um dann wach genug zu sein, das übriggebliebene Brötchen von gestern Abend mit dem zu belegen, was als Nächstes schlecht wurde.
Sam rieb sich kurz die Augen, trank die Tasse leer und füllte sie gleich wieder nach – heute war offenkundig ein Tag, an dem eine allein nicht reichte – ehe es sich zurück auf den Weg ins Wohnzimmer machte, sich aufs Sofa und in eine flauschige altrosa Plüschdecke kuschelte. Es klappte den mittlerweile etwas altersschwachen Laptop vor sich auf, trank den nächsten Schluck Kaffee, aß den ersten Bissen Brötchen und schaute nach, was es Neues gab. Kunst von Personen vom anderen Ende der Welt, Leute, die sich über Dinge aufregten, über die sich Sam auch aufregen würde, hätte es dafür Zeit und Energie, mit ein bisschen Glück Anfragen für Auftragsarbeiten, zwischendurch auch ernsthafte und wichtige Nachrichten – aber nicht zu viele, das deprimierte nur unnötig. Zum Schluss der obligatorische, tägliche und leider notwendige Blick auf Facebook, um nachzusehen, welches Familienmitglied jetzt schon wieder Geburtstag hatte, heiratete, vor Jahren geheiratet hatte, Kinder bekam oder was sonst noch in einem gutbürgerlichen Leben an Ereignissen anfiel.
Mit einem Seufzen überflog Sam einmal alle Statusmeldungen, die aussahen als könnten sie von Belang sein, ehe es die Seite ganz schnell wieder schloss. Hinterher kamen noch Leute auf die Idee, es wollte sich mit ihnen unterhalten. Es griff wieder zur Kaffeetasse, bereit, sich schöneren Dingen widmen- Es klingelte.
»Verdammt noch eins«, murmelte Sam, stellte die Tasse ab, schälte sich mühsam aus der Decke und hastete zur Tür. »Ich hab dem Postboten gesagt, dass ich um die Uhrzeit nicht aufmache.«
Es drückte minimal missmutig auf den Summer, in der Erwartung, die Haustür zwei Stockwerke weiter unten aufgehen zu hören. Stattdessen drang aus der exakt anderen Richtung erst ein sehr unheilvolles Knacken, dann ein Rumsen an Sams Ohren, das es zusammenfahren und spontan beschließen ließ, dass wer auch immer da an der Tür war oder auch nicht, gerade zu warten hatte.
Sam ging ein paar Schritte zurück ins Wohnzimmer, wagte einen vorsichtigen Blick hinein und wunderte sich schon fast nicht mehr. Das an die Wand gehängte Bücherregal hatte gerade offenkundig beschlossen, umziehen zu wollen und sich von seinem angestammten Platz eigenhändig aufs Sofa befördert. Selbstverständlich und wie es anders nicht sein könnte an die Stelle, an der Sam gesessen hätte, wäre es nicht aus seiner Routine gerissen worden.
Es seufzte. Immerhin war nicht auch noch Staub im Kaffee gelandet.
Cassiel schüttelte den Kopf, mehr aus Enttäuschung über sich selbst als darüber, dass Sam diese Situation nicht hatte kommen sehen. Er hatte schließlich gewusst, dass die Wand das Regal nicht halten konnte, spätestens und erst recht dann nicht, als es mit Büchern vollgestopft worden war.
In diesem Haus lebten so viele Menschen, beinahe hätte er die richtige Klingel nicht gefunden, und um diese Uhrzeit brauchte Sam viel länger, um sich zum Aufstehen zu überreden. Sie hatten beide Glück gehabt.
Er setzte sich zurück an den Schreibtisch, atmete tief durch, schloss einen Moment die Augen, auch wenn er nicht glaubte, sich das erlauben zu können. Er war völlig außer Atem, hatte rennen und Regeln außer Acht lassen müssen, aber es war richtig gewesen. Wie immer war es richtig gewesen.
Sam fand es vielleicht ein wenig zu beruhigend, von keinem anderen Möbelstück angegriffen worden zu sein. Ansonsten hätte es seiner Wohnung unterstellen müssen, sich gegen es verschworen zu haben.
Es räumte das Regal nicht weg, sondern setzte sich demonstrativ daneben, trank den Kaffee aus, aß das Brötchen auf und machte genau da mit seiner Routine weiter, wo es aufgehört hatte. Zog sich an, wie immer Jeans, T-Shirt und Kapuzenpullover darüber an, alles schwarz oder in Grautönen. Alles war grau an ihm, seine Augen, selbst seine Haare ein kleines bisschen – sie waren aschblond und ließen Sam in ungünstigem Licht gerne deutlich älter aussehen als es tatsächlich war. Nur die obligatorische Strickmütze, die seine Oma ihm irgendwann zu Weihnachten geschenkt hatte, war dunkelgrün.
›Die einzige Sache von meiner Familie hier‹, dachte es bei sich und fand die Tatsache ganz in Ordnung.
Es seufzte, warf einen kurzen Blick in den Spiegel, richtete die Mütze erst und zupfte sie direkt wieder in die schiefe Position, in der sie vorher gewesen war. Dann griff es sich die Autoschlüssel von der Kommode im Flur und verließ mit schnellen Schritten die Wohnung.
Sam wohnte noch nicht lange hier – sehr wohl aber schon seit gefühlten Ewigkeiten in dieser Stadt, die ihm über die Zeit versehentlich ans Herz gewachsen war. Trotzdem wunderte es sich immer noch jedes Mal, wenn es aus dem Haus trat, dass es erstens nicht gleich von etwas überfahren wurde und zweitens wieder einmal einen Parkplatz hatte finden können, der keine halbe Weltreise entfernt war. Irgendwann würde der Tag kommen, an dem sich das ganze Glück ins Gegenteil kehren und es ein sehr großes Problem haben würde, aber bis dahin verschwendete es lieber keinen Gedanken daran.
Sams Auto hatte schon vor Jahren bessere Tage gesehen. Das genaue Alter hatte wahrscheinlich nicht einmal der Händler gekannt, und sobald irgendein Teil den Geist aufgab, war es das gewesen. Die Reparatur würde mehr kosten, als das Fahrzeug wert war und Sam glaubte ohnehin nicht, dass es überhaupt noch Ersatzteile gab. Aktuell aber machte es seine Arbeit noch erstaunlich gut, erstaunlich zuverlässig und, auch wenn es nicht danach aussah, auch erstaunlich bequem. Abgesehen von der Tatsache, dass es drei Anläufe brauchte, um zu starten.
Dieses Mal erbarmte sich der Motor schon beim zweiten Versuch. Sam hob eine Augenbraue, erklärte den Tag spontan zu seinem Glückstag und machte sich auf den Weg zur Arbeit.
Der morgendliche Berufsverkehr löste sich gerade wieder auf, wenn Sam unterwegs war. Dennoch gehörte es zu den unausweichlichen Charakteristika von Großstädten und solchen, die es werden wollten, dass der Verkehr zu jeder Tages- und Nachtzeit an eine Katastrophe grenzte. Das kurze Stück über die Autobahn war Sam nur die erste Woche im neuen Job gefahren, denn das hatte sich schnell als Anfängerfehler herausgestellt. Die neue Route war zwar nur marginal schneller, sparte dafür aber gewaltig Nerven.
›Wenn ich was finde, was genauso viel Geld gibt und kein Auto braucht, dann bewerbe ich mich darauf‹, dachte Sam nicht zum ersten Mal, seufzte und nahm hin, dass das hier schon die vierte rote Ampel in Folge war. So viel zum vermeintlichen Glückstag.
Die Ampel schaltete auf grün, und die Autoschlange bewegte sich quälend langsam wieder vorwärts. Sam gab so etwas wie Gas und bereute insgeheim, sich nicht doch noch Kaffee mitgenommen zu haben. Diese Kreuzung war die schlimmste, brauchte mit Abstand am meisten Geduld, und kurz bevor es sie überqueren konnte, schaltete die Ampel wieder um.
»Ist das euer Ernst?«, murmelte Sam, bremste wieder ab und lehnte sich mit der Stirn gegen das Lenkrad. »Das waren vielleicht zwei Sekunden Grün, wollen die mich eigentlich…«
Im nächsten Moment quietschte es beunruhigend laut. Sam schaute auf, nur um von links jemanden mit irrsinniger Geschwindigkeit über die Kreuzung rasen zu sehen, der nur durch schieres Glück mit niemandem sonst zusammenstieß und innerhalb einer halben Sekunde wieder hinter Hochhäusern verschwand.
»Okay«, murmelte es langsam und langgezogen und schaute leicht ungläubig auf die Kreuzung, bis ein Hupen es auf die erneut grüne Ampel aufmerksam machte. »Ich beschwer mich nie wieder.«
Der Rest des Weges verlief ohne weitere Zwischenfälle – gemessen an dem, was heute schon passiert war, war das aus Sams Sicht auch gar nicht mehr nötig – und es kam nicht als letztes zur Arbeit, was ihm den Ärger ersparte.
Natürlich hatte es den Job behalten. Cassiel überlegte immer noch hin und her, ob er Sam nicht eindrücklicher hätte warnen müssen, sowohl vor Martin, dem zum Glück gekündigt worden war, als auch vor der Einrichtung an sich. Er und so gut wie alle anderen Schutzengel fanden es nach wie vor äußerst fragwürdig, wie zu viele Menschen dachten, dass Gott und der Himmel funktionierten. Was Gott anging, wussten sie das zwar selbst nicht, ihn zu fragen war für gewöhnliche Engel unmöglich, und die fünf Seraphim, die es könnten, taten das entweder nicht oder sprachen nicht darüber. Gerade waren es nicht einmal fünf - einer war Erzengel geworden, einer verschwunden, einer in die Hölle gestürzt worden, einer kaum mehr als ein Gerücht und den fünften würde keiner mit solchen Dingen behelligen.
Aber von dieser Sache abgesehen waren die Kirche und Sam schon immer zwei Dinge gewesen, die nicht so recht zusammenpassen wollten. Zum einen glaubte es nicht an Gott, zum anderen hatte es sich bis heute nicht in de Einrichtung geoutet, wovon Cassiel auch jederzeit abgeraten hätte. Die Leute machten nicht den Eindruck, als würden sie sein Geschlecht verstehen oder verstehen wollen und auch wenn das durchaus anders ging, ein Einzelfall war das leider nicht.
›Aber es braucht das Geld ja‹, dachte er. ›Es hat so viel Besseres verdient als das alles, es hat ein besseres Leben verdient, eine bessere Arbeit, es soll endlich seinen Traum leben können. Aber bis das möglich ist, braucht es das Geld. Alles Geld, was es bekommen und sparen kann.‹
Insgeheim dürften sie beide nicht damit gerechnet haben, dass es schon so weit gekommen war. Bezahlbare Wohnungen zu finden, in denen Sam nichts passierte, war eine kaum machbare Aufgabe gewesen. Cassiel hatte mehrfach verhindern können, dass das Auto in sich zusammenfiel wie das metallene und leicht rostige Kartenhaus, das es darstellte, auch wenn er bis heute nicht wusste, was genau er da eigentlich getan hatte. Er kannte sich halbwegs mit den technischen Dingen aus, die die Menschheit mittlerweile wie selbstverständlich benutzte, aber auch ihm fiel es zusehends schwerer, den Fortschritt zu verstehen und mit ihm Schritt zu halten.
Cassiel rieb sich die Augen, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und stieß einen tiefen Seufzer aus. Sein Gefühl sagte ihm, dass es in Ordnung war, durchzuatmen und sein Verstand tat das ebenfalls. Die alten Leute, denen Sam das Essen brachte, konnten kaum harmloser sein und deren Schutzengel, so sie noch welche hatten, dürften ein ausgesprochen ruhiges Leben führen. Er hingegen wurde wahlweise wachgehalten, weil tatsächlich etwas passierte, etwas passieren könnte oder aus reiner Sorge um Sam heraus. Viele Dinge, die er Tag für Tag tat, waren nicht unbedingt notwendig, um Sams Leben zu retten, dennoch waren sie wichtig. Sie bewahrten es vor Schaden, unterstützten es und vor allem waren sie richtig.
Unterdessen ging Sam weiter seiner Arbeit nach. Hin und wieder warf Cassiel einen Blick auf die Erde, durch das kreisrunde Fenster zur Erde auf dem Tisch. Als Portal taugte es nicht, war lediglich ein Ausblick und gab Schutzengeln die Möglichkeit, Situationen besser einschätzen zu können. Es kostete Kraft, das Fenster konstant offen zu halten, was streng genommen auch gar nicht Sinn der Sache war, aber sicher war sicher.
›Und es braucht mich doch.‹
Sam setzte sich wieder ins Auto, war fast fertig für heute. Cassiel atmete insgeheim auf, die Arbeit selbst mochte verhältnismäßig sicher sein, aber all der Verkehr war ihm bis heute suspekt. Er konnte nicht umhin, sich ständig alle möglichen Szenarien vor Augen zu führen, in denen Sam nur zu leicht umgebracht werden könnte und er auch, bei dem Versuch es zu schützen. Sollte es dazu kommen, würde er trotzdem ohne Zögern handeln.
Cassiel rührte in seinem längst erkalteten Tee herum. Er hätte die einsetzende Müdigkeit unterdrücken sollen und diese Aufgabe mit Sicherheit auch erledigt, hätte Cassiel mehr als einen Schluck davon getrunken. Dann aber war das Bücherregal dazwischengekommen, die Kreuzung mit dem Fahrer, der sich viel zu wenig um seine Umwelt geschert hatte, und auf dem Rückweg, das spürte Cassiel in aller Deutlichkeit, würde auch irgendetwas passieren. Und jetzt, da Sam gerade die letzte Portion Essen abgeliefert hatte, musste er besonders aufmerksam sein.
Es wurde spätestens dann offensichtlich, als Sam nicht direkt wieder nach Hause fuhr, sondern einen altbekannten Umweg nahm. Ein Geschäft für Künstlerbedarf lag in der Richtung, und Cassiel erinnerte sich, dass Sam letztens die Farbe ausgegangen war.
›Ist es richtig, einzugreifen?‹, fragte er sein Gefühl. Die Antwort war ein klares Ja.
Dann galt es, keine Zeit zu verlieren. Cassiel stand auf, schaffte es dabei gerade so, den Becher voller Tee nicht umzuwerfen, konzentrierte sich. Auf die Erde, auf den Ort an dem er jetzt sein musste, und auf Sam. Immer auf Sam.
Einen Moment später wurde die Luft warm um ihn herum, stickig und vor allem unglaublich laut. Der Verkehr dröhnte in seinen Ohren und hallte wider, bis er nicht mehr unterscheiden konnte, was nun tatsächlich existentes Geräusch war und was nicht. In den ersten Sekunden auf der Erde ertappte sich Cassiel mittlerweile regelmäßig bei einem »Früher war alles besser«.
Immerhin wurde er nicht auch noch von Leuten begrüßt. Früher waren die Menschen bei dem Anblick eines Engels fast gestorben vor Angst, dann hatten sie sich vor ihm auf die Knie geworfen, bis heute wurde teilweise auf ihn geschossen und seit kurzem machten sie Fotos. Nichts war schlimmer als Fotos.
Cassiel blinzelte, versuchte gar nicht mehr, sich an die relative Dunkelheit verglichen mit dem Himmel zu gewöhnen und orientierte sich so. Fand das Geschäft recht zügig und ging hinein, bevor es zu spät war. Noch hatte er genug Zeit, um herauszufinden, was hier hoffentlich nicht das Problem werden würde.
Im Geschäft befand sich zum Glück niemand, auch die Verkäuferin nicht. Wahrscheinlich war sie gerade in den hinteren Räumen beschäftigt. Cassiel schloss die Augen, um sich nicht unnötig von all den fremden Dingen ablenken zu lassen, die er zum größten Teil nicht einmal verstand und sich auf sein Gefühl zu konzentrieren, das ihm sagte, was er hier zu tun hatte. Es führte ihn quer durch den Laden bis zu dem Regal mit den Aquarellfarben.
Sam waren die Rottöne ausgegangen, deswegen würde es auch herkommen. Cassiel konnte zwar nicht sehen, inwiefern die Farben allein dafür sorgen sollten, dass es in Gefahr geriet, aber da er das gar nicht herausfinden wollte, beseitigte er sie einfach gleich.
Er nahm sich jeden einzelnen der kleinen farbigen Blöcke aus dem Regal heraus, konzentrierte sich kurz darauf, im nächsten Moment zerfielen sie zu Staub. Auf der Erde ging das so leicht, denn hier war schon der schwächste Engel fast allmächtig. Manchen Soldaten stiegen die ständigen Einsätze deswegen zu Kopfe.
Cassiel zerstörte sicherheitshalber nicht nur das eine Rot, von dem er ausging, das Sam es brauchte, sondern auch noch fast alle anderen. Es war richtig so. Als sich die letzte Farbe zwischen seinen Fingern auflöste, atmete er kurz vor Erleichterung auf, mehr würde er erst zeigen, wenn er im Himmel war. Er wandte sich um, wollte den Laden und die Erde so schnell wie möglich wieder verlassen-
»Entschuldigung?«
Cassiel blieb wie angewurzelt stehen. Die korrekte Reaktion wäre gewesen, einfach weiter zu gehen, aber der Schreck hinderte ihn daran. Natürlich hatte ihn jetzt noch jemand sehen und damit zwingen müssen, menschlich zu tun.
Er entdeckte die Verkäuferin, die wieder hinter der Kasse aufgetaucht war und ihn nun mit einem ebenso skeptischen, wie überraschten Blick musterte. Sie konnte mit seiner gesamten Erscheinung nichts anfangen, nicht dass ihr das zu verübeln war, angefangen bei der Tatsache, dass er barfuß war, bis hin zu den Aussparungen im Stoff seines Oberteils auf Höhe der Schultern. Darunter waren zwei lange, offene und scheinbar kaum verheilte Wunden zu sehen, seine eingezogenen Flügel. In diesem engen Raum war kein Platz für sie.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte die Verkäuferin nach einem Moment, mit für die Situation erstaunlich selbstbewusster Stimme.
Cassiel löste sich aus seiner Schreckstarre, suchte kurz nach Worten und setzte ein leichtes Lächeln auf, in der Hoffnung, die Arme nicht noch mehr zu verschrecken. »Danke, nein«, sagte er so leise er konnte, denn es würde lauter wirken. »Ich komme zurecht.«
Ihre Miene entspannte sich etwas. »Gut. Wenn Sie etwas brauchen, dann sagen Sie ruhig Bescheid.«
Cassiel nickte, nur um sich direkt umzudrehen und hinter einem Regal außer Sichtweite der Verkäuferin zu verschwinden. Dann schloss er die Augen, konzentrierte sich auf den Himmel und spürte, wie er sowohl das Geschäft als auch die Erde verließ. Einen Moment später kühlte die Luft ab, er spürte Weite um sich herum und fand sich in seinem Büro wieder.
Jetzt erst erlaubte er sich das Aufatmen. Und wie immer das Bereuen, nicht doch noch geblieben zu sein, nicht noch ein wenig gewartet zu haben. Vielleicht hätten sie sich getroffen.
Sam kannte den Laden mittlerweile so lange, dass es ganz genau wusste, wo es parken musste, um erstens zuverlässig einen Platz zu bekommen und zweitens den Gebühren zu entgehen.
Es stieg aus, nahm sich vor, auf dem Rückweg noch schnell beim Bäcker gegenüber vorbei zu schauen, weil es bei all dem ausgelieferten Essen wieder vergessen hatte, auch an sich zu denken, und ging mit schnellen Schritten die zwei Straßen entlang, bis der Laden in Sichtweite kam.
Sam hielt es immer noch für ein Unding, dass kaum jemand das Geschäft kannte oder zu schätzen schien, denn obwohl das Angebot breit gefächert und hochwertig war, erschraken sich die Leute immer, wenn sie einen zweiten Kunden antrafen. Auch heute war es innen wieder deprimierend leer, nur Sara hielt stellvertretend für die Geschäftsführung die Stellung. Sie war etwas blass um die Nase, doch als sie Sam erkannte, beherrschte daraufhin ein Lächeln ihr Gesicht. Zum einen, weil es garantiert Geld hier lassen würde, zum anderen, weil sie sich im Laufe der Zeit immer besser verstanden hatten.
›Ich sollte sie mal auf einen Kaffee einladen‹, dachte Sam bei sich. ›Vielleicht wird ja was draus. Schlimmer als der Kerl von neulich kann sie ja beim besten Willen nicht sein.‹
»Lange nicht gesehen«, wurde es von einer grinsenden Sara begrüßt. »Taugen die neuen Pinsel doch nichts?«
»Die könnten besser nicht sein«, erwiderte Sam, musste sich nicht lange umsehen, sondern ging gleich zu den Aquarellfarben. »Ich brauch nur neue Farben.«
Sara hob eine Augenbraue. »Die hast du letzte Woche auch gekauft.«
»Hab viel experimentiert.«
»Wenn das so ist«, erwiderte sie. »Kann man eins von deinen Bildern eigentlich irgendwo sehen?«
›Wenn die Zeit und die Gesellschaft reif dafür sind, dann hoffentlich überall‹, dachte Sam bei sich und wollte es nicht laut sagen, weil es zu sehr nach dem abgehobenen Künstlerklischee klang, mit dem es nicht wirklich etwas zu tun haben wollte. Stattdessen überlegte es eine Weile herum, bis ihm zumindest halbwegs richtige Worte einfielen. Online wurde es für seine Kunst zumindest manchmal gefeiert, im realen Leben war die Sache ungleich komplizierter. »Ich kann die Originale schlecht herbringen, die sind zu groß«, erklärte es, was bis auf zwei Ausnahmen gelogen war. »Und ich krieg es nicht hin, sie vernünftig zu fotografieren, damit sie auch anständig aussehen.«
Alles in allem eine schlechte Ausrede. Aber Sara nickte trotzdem und tat wenigstens so, als würde sie schon verstehen. »Schade«, erwiderte sie. »Aber ich kenne das, wenn das Licht einfach nicht stimmen will. Und bevor die Bilder dann gar nicht mehr wirken...«
Sam nickte und wandte sich ab, was nicht unbedingt das die höflichste Geste war, aber zumindest trat Sara das Thema so nicht noch breiter. Es suchte im Regal nach dem richtigen Farbton, fand auch alle erdenklichen, inklusive denen, die es lieber selbst anmischte anstatt sie zu kaufen – nur das Rot schien nicht mehr da zu sein.
Sam runzelte die Stirn, schaute lieber noch einmal nach. Dass in diesem Laden etwas ausverkauft war, erschien ihm reichlich unwahrscheinlich, doch die Farben blieben verschwunden.
»Sag mal«, begann es und schaute nun doch wieder zu Sara hinüber, die sich in eine herumliegende Zeitschrift vertieft hatte, »hast du vergessen, die Farben nachzufüllen? Das Rot ist leer.«
»Wie, das ist leer?« Sie kam hinter dem Tresen hervor, ging zu Sam hinüber und musste sich das wohl selbst anschauen. Verständlich. Ebenso wie ihre Reaktion, die aus zwei gehobenen Augenbrauen und einem sachten Kopfschütteln bestand. »Das gibt’s doch nicht, ich hätte schwören können, das gerade noch alles eingeräumt zu haben… Die neue Lieferung Farben kam erst gestern. Seltsam.«
»Vergessen mitzubestellen?«
»Kann sein, würde ich der Chefin aber nicht zutrauen.«
Sam auch nicht. Nach allem was es mitbekommen hatte, war besagte Chefin nämlich penibel und streng mit sich und ihrer Angestellten.
»Ich kann im Lager suchen gehen, wenn du willst.«
Sam schüttelte den Kopf. »Passt schon«, erwiderte es, wusste allerdings selbst nicht ganz genau weshalb. »Ich komm die Tage nochmal wieder und dann solltet ihr ja wieder welche haben.«
Sara nickte. »Ich kümmer mich drum«, sagte sie und fuhr fort, als sie merkte, dass Sam sich gen Ausgang begab. »Trotzdem noch ’nen schönen Tag!«
»Dir auch.«
Sam verließ den Laden, trat auf den Bürgersteig – und blieb prompt wieder stehen. Blinzelte. Und war sich dann leider noch sicherer, den Glimmer in der Luft hängen zu sehen.
›Warst du hier?‹, dachte Sam und wusste nicht einmal genau, an wen es das eigentlich richtete. ›Was ist passiert, dass du hier warst?‹
Es schüttelte den Kopf und schlug sich die Gedanken wieder aus dem Bewusstsein, die hatten noch nie etwas gebracht. Stattdessen ging es wie geplant zum Bäcker gegenüber, kaufte sich Kaffee und Kuchenteilchen für jetzt und Körnerbrötchen für heute Abend, setzte sich ins Auto und beschloss spontan, immer noch nicht nach Hause zu fahren. Ohne die Farbe konnte es sein geplantes Motiv ohnehin nicht malen, zudem fehlte ihm immer noch das letzte bisschen Inspiration und eine goldene Herbstsonne spähte zwischen Wolkenschlieren hindurch auf die Welt. Solche Tage würde es nicht mehr oft geben, bis der Winter kam.
Unter der Woche und um diese Uhrzeit waren die zahlreichen Parks und anderen etwaigen Grünflächen noch von so wenigen Leuten bevölkert, dass sie Sam erstens nicht ablenkten und es zweitens noch einen ruhigen Platz in der Sonne fand. Zudem war der Ort hier weit genug von allen größeren Schulen und der Universität entfernt, so sehr sie auch über die ganze Stadt verteilt war.
Sam trank in Ruhe seinen Kaffee aus, ließ sich einen Teil des Gebäcks für später übrig und holte Skizzenbuch, Bleistifte und Radiergummi aus seiner Umhängetasche. Es verließ seine Wohnung grundsätzlich nur mit Zeichenmaterial. Ohne fühlte es sich falsch an, nicht richtig angezogen und nicht nach sich selbst.
Wenn Sam zeichnete, dann passierte ihm nichts. Ausnahmsweise lag das nicht an Cassiel, denn wenn Sam zeichnete, gab es für ihn generell nicht viel zu tun. Vielleicht sollte er die Gelegenheit zur Pause nutzen, denn die Idee fühlte sich nicht falsch an, aber er mochte Sams Bilder einfach viel zu sehr, um nicht bei ihrer Entstehung zusehen zu wollen.
Dennoch, gerade musste er die Vernunft siegen lassen, wenn er nicht am Schreibtisch einschlafen wollte. Abgesehen davon bekam er ein schlechtes Gewissen wegen der Farbe, weswegen Sam nicht hatte malen können – es war ohne Zweifel richtig gewesen, aber manchmal fühlte es sich nicht so an.
Cassiel stand auf, nahm sich einen neuen Becher und verließ sein Büro. Mit ein bisschen Glück reichte ein neuer Tee aus, um ihn bis heute Abend wachzuhalten.
Das Gebäude hier war nur eines von vielen, in denen die Schutzengel arbeiteten und einen Großteil ihres gesamten Lebens verbrachten. Es hatte einen labyrinthartigen Aufbau, um so viele Büros wie möglich unterzubringen, wirkte beengt und erdrückend, wenn man nicht daran gewöhnt war. Sowohl der Flur als auch die Räume selbst waren deutlich breiter und größer als auf der Erde, allein Cassiels Büro hatte knapp die Maße von Sams gesamter Wohnung, und trotzdem reichte es kaum aus. Engel brauchten Freiraum, um sich wohlzufühlen, sie brauchten Platz und die Weite. Nicht wenige bekamen Panik, wenn sie zum ersten Mal ein irdisches Haus betraten.
Es war fast totenstill im Flur und Cassiel bemühte sich redlich, keinen Lärm zu machen. Ein paar seiner Kollegen kamen ihm zwischendurch entgegen, sie trugen dieselben simplen, weiten und charakteristisch fliederfarbenen Pullover und Hosen, keine Schuhe, alles darauf ausgelegt, lange getragen zu werden ohne unbequem zu ein. Sie hatten ebenso etwas mehr Farbe im Gesicht als der Rest des Himmels,mit Ausnahme der Soldaten vielleicht. Anstatt sich vernünftig zu grüßen nickten sie sich nur kurz zu, sie wären ohnehin zu müde gewesen, um großartig Worte zu wechseln. Die Erschöpfung war am Ende ein ständiger Begleiter bei ihrer Arbeit, sie bekamen alle zu wenig Schlaf, und waren unter anderem deswegen verpflichtet, Pausen von mehreren Monaten bis Jahren einzulegen, wenn ihr Mensch gestorben war oder das Recht auf Schutz verloren hatte. Bei einem Großteil der Schutzengel lagen die Nerven ständig blank und ein wesentlicher Teil ihrer Interaktionen bestand darin, sich das Leben nicht noch schwerer zu machen.
Kaum jemand konnte sich vorstellen, dass sie ihre Arbeit freiwillig erledigten. Sie standen in der Hierarchie ganz unten, hatten keine Ehrerbietung zu erwarten und gewürdigt wurde ihr Tun von kaum jemandem. Dass trotzdem Jahr für Jahr neue Schutzengel dazukamen, lag an einer bestimmten Tatsache: für sie war dieser Beruf das einzig Richtige, Bestimmung und am Ende Lebenssinn. So war es auch bei Cassiel gewesen, er hatte sich am Tag seiner Volljährigkeit direkt beworben und seitdem nicht einmal an seiner Entscheidung gezweifelt.
Er betrat die Teeküche und fand sie glücklicherweise beinahe leer vor, so musste er nicht auch noch auf den Tee warten. Er hielt seinen Becher ins Spülbecken, tippte einmal auf das längliche Rohr darüber und füllte ihn auf, brachte das Wasser danach mit einer kleinen Menge Energie aus seinen Fingerspitzen zum Kochen und versenkte schlussendlich einen der Teebeutel darin, die schon vorbereitet in einem Regal lagen. Bis heute wusste Cassiel nicht, wer seiner Kollegen sich die Mühe machte, um ihnen allen ein klein wenig davon zu ersparen.
Das alles erledigte er mit routinierten Handgriffen, wandte nur so viel Konzentration wie nötig auf. Der Rest seiner Gedanken hing bei Sam fest, so wie zu jeder Tages- und Nachtzeit. Schutzengeln wurde geraten, so viel professionelle Distanz wie möglich zu ihren Menschen zu halten, aber das konnte sich Cassiel nicht vorstellen.