Читать книгу Was richtig ist - Sebastian Kalkuhl - Страница 9

Freitag, 23. Oktober 24 Tage vorher

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»Ihr verdammten…« Sam biss sich auf die Zunge und schluckte den Rest herunter. Die Verantwortlichen konnten es sowieso nicht hören und vom Fluchen löste sich die Straßensperre auch nicht in Luft auf. »Ich will doch nur Kaffee!«

Die Stille ließ sich gut und gerne als ein »Heute nicht« interpretieren. Sam seufzte, fluchte dann doch, wendete und fuhr zurück in die Richtung, aus der es gerade gekommen war. Da hatte es immerhin gerade ein Café gesehen, wenn auch nur eine dieser Ketten, die von der einen Hälfte der Kunden abgöttisch geliebt und von der anderen Hälfte abgrundtief gehasst wurde. Letztere kamen trotzdem immer dann wieder, wenn die Alternative hieß, ganz auf Koffein verzichten zu müssen. Oder die Leute standen einfach auf Sirup, Schokolade und aktuell dieses unsägliche Kürbisgewürz, was in den Getränken versenkt wurde. Sam konnte damit wenig bis gar nichts anfangen, mit der Qualität des Kaffees auch nicht und seine Motivation, solche Cafés zu betreten, ließ sich theoretisch und vollständig mit Entzugserscheinungen zusammenfassen. Immerhin gab es noch Parkplätze ganz in der Nähe.

Innen war es so voll, dass Sam sich schon gar keine Hoffnung mehr machte, einen Sitzplatz zu finden. Davon war es an einem Freitagnachmittag um diese Uhrzeit zwar ohnehin nicht ausgegangen, aber gerade hier fühlte sich die Tatsache gleich doppelt frustrierend und nervig an.

Es versuchte, sich nicht mehr so viele Vorurteile über seine Mitmenschen zu bilden – spätestens seitdem es herausgefunden hatte, dass alle Vorurteile, die sich die Menschen über es selbst machten, gar nicht stimmten. Aber bei denen, die in der Schlange vor Sam standen, konnte es gefühlt bei jeder einzelnen Person sagen, wer hier freiwillig und begeistert hinging und wer nur hier war, weil er keinen besseren Ort wusste. Ein, zwei Gesichter im Raum erkannte es sogar, die saßen öfter in seinem Stammcafé, aber sie waren nie ins Gespräch gekommen.

»Und was darf es für dich sein?«, fragte der Kerl hinter der Theke mit einem sichtbar aufgesetzten Lächeln.

Sam musste sich etwas zusammenreißen, auch die grundlegendsten Regeln von Höflichkeit nicht zu vergessen. »’Nen großen Kaffee, bitte.«

»Mit Milch?«

»Nein.«

»Irgendwas anderes rein?«

›Um Gottes Willen.‹ »Nein.«

»Und wie heißt du?«

›Ich hasse diesen Laden.‹ »Sam.«

Der Kerl notierte, hoffentlich bekam er die drei Buchstaben richtig hin. Er runzelte die Stirn, schaute erst Sam an, dann seinen Becher, dann wieder Sam. »Steht das für Samantha?«

»Nein?«

»Für, äh… Samuel?«

»Nein. Und auch nicht für Samweis.«

»Für… was?«

»Herr der Ringe?«

»Die Filme?«

»Vergiss es.«

Zum Glück ließ der Kerl das Fragen daraufhin schlagartig sein, sodass Sam in Ruhe bezahlen und auf seinen Kaffee warten durfte. Und tunlichst ignorierte, dass jetzt mindestens die Hälfte der Leute seinen Namen kannte.

»Äh«, rief unterdessen eine andere Bedienung von der Theke aus in den Raum. »Ana?«

Worauf sich ungefähr drei Köpfe hoben und alle fragend in Richtung der Stimme blickten.

»Die mit einem N, meine ich.«

Zwei der drei Köpfe senkten sich wieder und die dritte Person stand auf, sah ebenfalls reichlich genervt aus und ging sich ihr Getränk abholen. Sie hatte ihre langen Haare dunkelrot gefärbt, trug Seitenscheitel, eine schlichte Brille mit silbernem Gestell, Jeans, ein schwarzes Top erstaunlicherweise ohne Aufschrift und darüber eine dünne, violette Strickjacke. Sie sah aus wie ein Prototyp der Leute, die regelmäßig hierher kamen, doch sie wirkte nicht so. Ganz davon abgesehen hatte sie alleine und nur mit einem aufgeklappten Laptop im Schlepptau an ihrem Tisch gesessen.

Sie bemerkte Sams Blick, blieb kurz mit ihrem Kaffee in der Hand stehen und ging dann zu ihm herüber. Es seufzte in sich hinein und bereitete sich im Geiste schon auf das nachfolgende Gespräch vor.

»Ich hab das gerade mitgehört«, sagte sie. »Der hat bei mir auch so gefragt und bei allen Leuten vor dir auch. Der Kerl ist echt zu neugierig.«

Sam nickte und gab ein zustimmendes Geräusch von sich.

»Geht ihn auch überhaupt nichts an, ehrlich. Immerhin hat er«, sie schaute auf ihren Becher und hob überrascht eine Augenbraue, »meinen Namen richtig geschrieben.«

»Ernsthaft?« Sam hatte nicht vorgehabt, länger mit ihr zu sprechen, aber bei der Tatsache konnte es nicht anders. Tatsächlich, Ana stand da in mehr oder weniger krakeliger Schrift. »Normalerweise werden die Leute doch gerade dann nicht eingestellt.«

Ana grinste. »Muss ein Versehen gewesen sein«, erklärte sie, schien wieder gehen zu wollen und wandte sich im letzten Moment noch einmal um. »Oh, übrigens, ich hab noch Platz an meinem Tisch, wenn du willst.«

»Danke«, murmelte Sam. Es hatte nicht vorgehabt, länger als nötig hier zu bleiben, aber irgendwie…

›Nicht, dass ich heute noch was zu tun hätte. Und sie hat immer noch nicht wegen meinem Namen gefragt, vielleicht kann man sich mit ihr ja sinnvoll unterhalten.‹

Es hörte, wie sein Name aufgerufen wurde und ging sich seinen Kaffee ohne alles abholen. Ausgehend vom Milchschaum und den Kakaopulversprenkeln obendrauf hatte seine Bestellung wohl ein paar Leute überfordert. Aber solange Koffein drin war, sollte Sam gerade alles recht sein.

Es überlegte kurz, nicht doch zu gehen, dann fiel sein Blick wieder auf Ana und es entschied sich spontan wieder um. Sie lächelte, als es sich an den Tisch setzte, und schien wohl ebenso wie Sam selbst nicht damit gerechnet zu haben, dass es ihr Angebot tatsächlich annahm. Sie klappte den Laptop zu und ließ ihn in ihrem Rucksack unterm Tisch verschwinden.

»So«, sagte sie und reichte Sam eine Hand. »Ana. Mit einem N. Und wenn’s dich interessiert, das ist kurz für Anastasia.«

»Ist die Kurzform von Anastasia nicht Nastja?« Kaum, dass es den Satz fertig gesagt hatte, könnte Sam sich schlagen dafür. Sich gerade noch über die Neugier anderer Leute aufregen und jetzt selbst nicht besser sein.

Ana wirkte daraufhin noch überraschter als gerade eben noch. »Woher weißt du das denn?«

»Bin mal mit einer zur Schule gegangen. Hat sich von allen so nennen lassen.« Sam rührte so lange in seinem Kaffee herum, bis sich der Milchschaum halbwegs gleichmäßig verteilt hatte und nicht mehr so penetrant an die Oberfläche drängte. Dann nahm es einen sehr großen Schluck, leerte versehentlich den halben Becher, ignorierte den Geschmack, der nur an Kaffee erinnerte, und konzentrierte sich lieber auf die Wirkung des Ganzen. Vielleicht sollte es bedenklich finden, dass es daraufhin schlagartig bessere Laune bekam. »Tut mir leid, dass ich gefragt hab. Geht mich ja auch nichts an.«

»Schon in Ordnung«, erwiderte Ana und trank ebenfalls. »Kann ich schon verstehen, dass dich das wundert. Meine Eltern kommen aus Russland, aber ich hab nicht so viel mit ihnen… also…« Sie seufzte. »Reden wir nicht drüber.«

Sam nickte. »Kann ich verstehen. Du kannst mich übrigens auch irgendwas fragen, was dich eigentlich nichts angeht, wenn du willst. Ist nur fair.« Außerdem wusste es ganz genau, was jetzt kam, ansonsten würde es das gar nicht anbieten. Dann war die Sache erstens vom Tisch und zweitens hatte es ein verhältnismäßig gutes Gefühl.

»Ist Sam überhaupt ’ne Abkürzung für irgendwas?«, fragte die schließlich nach einigem Zögern.

»Nein.«

»Dann passiert dir so was wie mit dem Kerl gerade öfter, oder?«

»Du kannst es dir nicht vorstellen.«

Ana seufzte, dann traute sie sich, die Augen zu verdrehen. »War auch überhaupt nicht abzusehen, dass das passieren könnte, als deine Eltern dir den Namen gegeben haben…«

Sam zuckte mit den Schultern. »Die sind dran unschuldig.« Ausnahmsweise. »Ich hab mir den Namen selber gegeben, der ist schön geschlechtsneutral. Da nehm ich auch die ganzen Fragen in Kauf.«

»Du wolltest das so?«

Sam nickte, trank weiter von seinem Kaffee. Und führte das Gespräch dann eigenhändig fort, weil Ana sich auf einen fragenden Blick beschränkte. »Ich bin weder männlich noch weiblich. Deswegen wollte ich auch ’nen Namen haben, der nicht eindeutig ist.«

Sie ließ sich etwas Zeit mit ihrer Reaktion. Dann begann sie mit leicht unsicherer Stimme zu sprechen. »Das… geht?«

»Ja.«

»Äh…« Sicherheitshalber machte Sam Fluchtpläne. »Okay. Dann ergibt das ja Sinn.«

Anscheinend konnte es sitzenbleiben. »Ich versuch, so wenig wie möglich in Schubladen gesteckt zu werden. Gar nicht geht das nicht, aber ein paar Vorurteile und Rollenbilder mach ich hoffentlich kaputt.«

»Also das kriegst du gut hin«, erwiderte Ana und ihr war anzuhören, dass die Reaktion spontan gewesen war. »Wenn ich das so sagen darf.«

Jetzt musste Sam lächeln, ganz unwillkürlich. Andere Leute hätten es mit denselben Worten furchtbar aufgeregt, aber Ana sagte das auf eine vorsichtige Weise, als wüsste sie, auf was für dünnem Eis sie stand. Sie war ihm sympathisch, um die Formulierung kam es wohl nicht mehr herum. »Ich werte das mal als Kompliment?«

»Sollte auch eins werden.« Ana lachte etwas verlegen und ziemlich erleichtert auf. Sie sah gerade in etwa so aus, wie Sam sich insgeheim fühlte. »Aber sag mal, wenn männlich und weiblich nicht passt, dann… Also, wie soll ich dich dann ansprechen?«

»Mit ›Es‹.«

Ana nickte und sah nur minimal irritiert aus. Was Sam mehr als nur irritierte.

»Und ansonsten bin ich kein Mann oder keine Frau, sondern eine Person. Oder ein Mensch. Und ich bin auch kein Kaffeetrinker oder Kaffeetrinkerin, sondern eine Person, die Kaffee mag. Oder kein Maler oder Malerin, sondern ein Mensch, der malt.«

»Okay, das krieg ich hin. Denk ich.«

»Nach ’ner Weile gewöhnt man sich dran«, erwiderte Sam. Bei sich selbst hatte es auch gedauert, bis es sich jedes Mal selbst richtig bezeichnet hatte. »Wird schon.«

Sie tranken beide schweigend ihren Kaffee aus. Ana schüttelte den Kopf und verzog das Gesicht. »So gut ist das Zeug hier echt nicht. Ich bin nur hergekommen, weil ich den Sirup mag.«

›Eine von denen also‹, dachte Sam bei sich und fühlte sich vielleicht ein kleines bisschen bestätigt. »Glaub mir, freiwillig trink ich das auch nicht. Ich geh normalerweise woanders hin, aber die Straße war gerade dicht und… na ja.« Es zuckte mit den Schultern. »Jetzt bin ich hier.«

»Die Straße wird das ja wohl nicht ewig sein«, erwiderte Ana. »Wo bist du denn sonst, wenn ich fragen darf?«

»Es nennt sich das Kuchen-Imperium.«

»Das was?«

Sam grinste. Die Reaktion war bei jedem Menschen dieselbe, der zum ersten Mal davon hörte. »Ist ein winzigkleiner Laden, wird von einer Person geführt«, erklärte es, um die Sache noch etwas zu machen. »Aber keine Sorge, Kuchen und Kaffee gibt’s da und zwar deutlich besser als hier.«

»Mit Sirup?«

»Schokolade, Vanille, Karamell und Haselnuss.«

»Dann… bin ich hier zum letzten Mal gewesen«, erwiderte Ana, strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr und schaute eine Weile lang auf den Fußboden. Sams Herz macht einen winzigen Hüpfer bei der Geste.

Cassiel runzelte die Stirn. Er konnte nicht sagen, was ihn an der Situation dort im Café so störte, an der Frau, die Sam da getroffen hatte, an der Unterhaltung, die sie beide jetzt schon eine Weile führten. Es sollte ihn glücklich machen, dass da ausnahmsweise eine Person saß, die Sam allem Anschein nach annahm wie es war, es sollte ihn erleichtern, er sollte sich freuen. Stattdessen aber saß er vor dem Fenster am Schreibtisch, den Kopf mittlerweile in beide Hände gestützt und musste sich davon abhalten, auf die Erde zu gehen und der Sache ein Ende zu bereiten.

›Ich könnte da unten sitzen‹, dachte Cassiel. ›Ich könnte mich mit ihm unterhalten. Ich könnte mit ihm reden, ich könnte ihm so viel erzählen… ich würde es verstehen.‹

Er schüttelte den Kopf. Vielleicht lief Sam bei seiner Anwesenheit nicht schreiend weg, aber das hieß nicht, dass er menschlich wirkte. Egal was er tat, egal wie sehr er seine Kräfte zurückhielt, er blieb ein Engel. Zu anders, zu gefährlich.

›Aber wenn es irgendwie…‹

Ein plötzlicher Knall vor der Tür ließ Cassiel aus seinen Gedanken hochschrecken. Kurz darauf war ein herzzerreißendes Schluchzen zu hören, dann Schritte und Stimmengewirr. Er stand auf und wollte nachsehen, was da passiert war, nur um direkt vor der Tür wieder stehenzubleiben, als ihm eine Ahnung kam. Die durch ein heiseres Schreien fast unverständlicher Worte direkt bestätigt wurde.

»Warum müssen wir zusehen? Warum müssen wir immer wieder zusehen?«

Einen Moment lang herrschte Stille, dann gingen die Stimmen wieder los, lauter und hektischer als gerade noch. In Cassiel krampfte sich unterdessen alles zusammen, er ließ die Hand sinken, die er in Richtung Türklinke ausgestreckt hatte, ging langsam rückwärts, bis er wieder auf seinen Stuhl sank. Der Fall war klar, Luzifers Diener hatten sich wieder einen Menschen geholt. Die einzige offene Frage lautete damit nur noch, ob dieser Mensch ermordet worden oder in die Hölle entführt worden war, um dort gehirngewaschen und ebenfalls zu einem dieser Wesen gemacht zu werden. Diese Wesen, weder Menschen noch Dämonen und erst recht keine Engel, was auch immer sie behaupteten.

Dem gesamten Himmel war von höchster Stelle verboten worden, mit Luzifers Dienern zu interagieren. Es hieß, dass wenn sie einen Engel in die Finger bekamen und töten konnten, Luzifer selbst sich aus der Hölle befreite, in den Himmel zurückkehrte und wieder einen Krieg anzettelte. Für Schutzengel bedeutete das, dass sie im Zweifel zuzusehen hatten, wie ihre Menschen ermordet oder in die Hölle gerissen wurden, und sie gezwungen waren, gegen alles zu handeln, was sie normalerweise führte und anleitete. Nicht schützen zu können und zu dürfen, wo es doch so richtig war.

Cassiel versuchte das Chaos draußen zu ignorieren so gut es ging, hielt sich die Ohren zu und schloss die Augen. Atmete tief durch. Da war wieder die Angst, dass Sam irgendwann zum Opfer werden würde und er ausgerechnet dann nicht da sein durfte. Der Gedanke allein war kaum auszuhalten.

Was richtig ist

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